Unsere muslimischen Brüder
Uri Avnery, 23. Juni 2012
JEDER WEISS jetzt, warum wir in Palästina stecken.
Als Gott Moses den Auftrag gab, Pharao zu bitten,
sein Volk ziehen zu lassen, sagte Moses zu ihm, dass er für den Job
nicht geeignet sei: „Ach Herr, ich bin von jeher nicht beredt
gewesen; denn ich habe eine langsame Sprache, eine langsame Zunge
.“ (Exodus 4, 10).
Tatsächlich steht im hebräischen Original, er habe „
einen schweren Mund und eine schwere Zunge.“ Er hätte IHM noch
sagen sollen, dass er auch schwerhörig sei. Als Gott ihm also sagte,
sein Volk nach Kanada zu nehmen, führte er sein Volk nach Kanaan,
und verbrachte die beschriebenen 40 Jahre – lange genug, um
Vancouver zu erreichen - und wanderte kreuz und quer durch die
Sinai-Wüste.
Also sind wir hier, umgeben von Muslimen.
SEIT JAHRZEHNTEN haben meine Freunde und ich davor
gewarnt, mit dem Frieden- machen zu zaudern, denn die Art des
Konfliktes wird sich ändern. Ich selbst habe zig mal geschrieben,
wenn unser Konflikt sich von einem nationalen in einen religiösen
Kampf wandelt, wird sich alles zum Schlimmeren verändern.
Der zionistisch-arabische Konflikt begann als
Zusammenstoß zwischen zwei großen nationalen Bewegungen, die mehr
oder weniger zur selben Zeit als Sprösslinge der neuen europäischen
Nationalismen entstanden.
Fast alle frühen Zionisten waren überzeugte
Atheisten, inspiriert von den europäischen nationalen Bewegungen.
Sie benützten ganz zynisch religiöse Symbole – um die Juden zu
mobilisieren und als Propagandamittel für die anderen.
Der arabische Widerstand gegen die zionistische
Besiedlung war ursprünglich auch säkular und nationalistisch. Es
war ein Teil der aufkommenden Welle des Nationalismus’ in der ganzen
arabischen Welt. Es stimmt, der Führer des palästinensischen
Widerstands war Hadj Amin al Husseini, der Großmufti von Jerusalem,
aber er war beides, ein nationaler und religiöser Führer, der
religiöse Motive anwandte, um die nationalen zu verstärken.
Von nationalen Führern nimmt man an, sie seien
rational. Sie beginnen einen Krieg und sie schließen Frieden. Wenn
es ihnen passt, machen sie einen Kompromiss. Sie reden mit einander.
Religiöse Konflikte sind ganz anders. Wenn Gott in
die Sache hineingezogen wird, wird alles extremer. Gott mag ein
gnädiger und liebender Gott sein, aber Seine Anhänger sind es
normalerweise nicht. Gott und Kompromisse gehen nicht gut zusammen,
besonders nicht im heiligen Land Kanaan.
DIE RELIGIONISIERUNG ( falls es einem hebräisch
sprechenden Israeli erlaubt wird, ein neues deutsches Wort zu
prägen) des israelisch-palästinensischen Konfliktes begann auf
beiden Seiten.
Vor Jahren schrieb die Historikerin Karen Armstrong,
eine frühere Nonne, ein nachdenkenswertes Buch („The Battle for God“)
über religiösen Fundamentalismus. Sie legte ihren Finger auf eine
erstaunliche Tatsache: der christliche, der jüdische und der
islamische Fundamentalismus wären sich sehr ähnlich.
Während sie sich eingehend mit der Geschichte der
fundamentalistischen Bewegungen in den USA, in Israel, Ägypten und
dem Iran befasste, entdeckte sie, dass sie sich alle in derselben
Zeit entwickelten und dieselben Stadien durchmachten. Da es sehr
wenig Ähnlichkeiten zwischen den vier Ländern und Gesellschaften
gibt, ganz zu schweigen zwischen den drei Religionen, ist dies eine
bemerkenswerte Tatsache.
Die zwangsläufige Schlussfolgerung ist, dass es da
einiges im Zeitgeist unserer Zeit gibt, der zu solchen Ideen
ermuntert, etwas, das nicht weit zurück in der Vergangenheit liegt,
die von den Fundamentalisten so hochgerühmt wird, sondern in der
Gegenwart.
IN ISRAEL begann es am Tag nach dem 1967er-Krieg,
als der Oberste Rabbiner der Armee Shlomo Goren zu der neu
„befreiten“ Klagemauer ging und das Shofarhorn (religiöses
Rinderhorn) blies. Yeshayahu Leibowitz nannte ihn den „Clown mit
dem Shofar“, aber im ganzen Land rief es ein weit klingendes Echo
hervor.
Vor dem Sechs-Tagekrieg war der religiöse Zweig des
Zionismus ein Stiefkind der Bewegung. Für viele von uns war
Religion ein geduldeter Aberglaube, den wir mit Mitleid betrachteten
und der von den Politikern ausgenützt wurde.
Der überwältigende Sieg der israelischen Armee in
jenem Krieg sah wie ein Wunder aus, und die religiöse Jugend wurde
lebendig. Es war wie die Erfüllung des Psalms 118 (22): „Der Stein,
den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“ Die
aufgestaute Energie des religiösen Sektors – jahrelang in ihren
separaten ultra-nationalen Schulen gepflegt – brach auf.
Das Ergebnis war die Siedlerbewegung. Sie liefen um
die Wette, jede Hügelkuppe in den besetzten Gebieten zu besetzen.
Viele Siedler gehen zwar dorthin, um ihre Traumvilla auf gestohlenem
arabischen Land zu bauen und sich der besten „Lebensqualität“ zu
erfreuen. Aber im Kern des Unternehmens sind fundamentalistische
Fanatiker, die bereit sind, ein hartes und gefährliches Leben zu
führen, weil „Gott es will!“ (Wie die Kreuzfahrer zu rufen
pflegten).
Die ganze Daseinsberechtigung der Siedlungen ist, die
Araber aus dem Land zu jagen und das ganze Land Kanaan in einen
jüdischen Staat zu verwandeln. Inzwischen führen ihre Stoßtrupps
Pogrome gegen die arabischen „Nachbarn“ durch und zünden ihre
Moscheen an.
Diese Fundamentalisten haben jetzt einen sehr großen
Einfluss auf unsere Regierungspolitik und ihr Einfluss wächst. Zum
Beispiel: seit Monaten steht das Land in Flammen, nachdem der
Oberste Gerichtshof entschieden hat, dass 5 (fünf) Häuser in der
Beth-El-Siedlung abgerissen werden müssen, weil sie auf privatem
arabischen Land gebaut wurden. Mit verzweifelter Bemühung, um
Aufstände zu vermeiden, hat Binjamin Netanjahu versprochen, an
ihrer Stelle 850 (achthundertfünfzig) neue Häuser in den besetzten
Gebieten zu bauen. Solche Dinge passieren immer wieder.
Aber machen wir keinen Fehler: wenn sie das Land von
Nicht-Juden gesäubert haben, wird der nächste Schritt der sein,
Israel in einen „halachischen Staat“ zu verwandeln – in ein Land,
das nach dem religiösen Gesetz regiert wird, und alle demokratisch
erlassenen säkularen Gesetze, die nicht mit dem Wort Gottes und
seiner Rabbiner konform gehen, werden aufgehoben.
ERSETZT MAN das Wort Halacha durch „Sharia“– beide
bedeuten religiöses Gesetz - hat man den Traum muslimischer
Fundamentalisten. Beide Gesetze sind übrigens bemerkenswert ähnlich.
Und beide bestimmen alle Lebensbereiche, das des einzelnen
wie auch des Kollektivs.
Seit Beginn des Arabischen Frühlings, hat die junge
arabische Demokratie muslimische Fundamentalisten ins Blickfeld
gebracht. Tatsächlich hat dies aber schon vorher begonnen, als
Hamas (ein Ableger der Muslimbruderschaft) die demokratische,
international überwachten Wahlen in Palästina gewannen. Doch die
daraus resultierende palästinensische Regierung wurde von der
israelischen Führung und ihren unterwürfigen US- und europäischen
Subunternehmern zerstört.
Der scheinbare Sieg der Muslim-Bruderschaft bei den
ägyptischen Präsidentenwahlen letzte Woche war ein Meilenstein. Nach
ähnlichen Siegen in Tunis und den Ereignissen in Libyen, Jemen und
Syrien ist es klar, dass arabische Bürger überall die
Muslim-Bruderschaft und ähnliche Parteien favorisieren.
Die ägyptische Muslim-Bruderschaft , 1928 gegründet,
ist eine alte etablierte Partei, die durch ihre Standhaftigkeit
angesichts der häufigen Verfolgungen, Folter, Massenverhaftungen und
gelegentlichen Hinrichtungen viel Achtung verdient hat. Ihre Führer
sind nicht korrupt, und sie werden für ihre soziales Engagement
bewundert.
Der Westen wird noch immer von mittelalterlichen
Gedanken über die schrecklichen Sarazenen heimgesucht. Die
muslimische Bruderschaft inspiriert Terror. Sie wird als eine
furchterregende, mörderische, geheime Sekte angesehen, die darauf
aus ist, Israel und den Westen zu zerstören. Natürlich hat sich
praktisch noch keiner die Mühe gemacht, die Geschichte dieser
Bewegung in Ägypten und anderswo zu studieren. Tatsächlich könnte
sie nicht weiter von dieser Parodie entfernt sein.
Die Bruderschaft ist eigentlich immer eine moderate
Partei gewesen, auch wenn sie fast immer einen extremeren Flügel
hatte. Wenn immer es möglich war, versuchten sie den auf einander
folgenden ägyptischen Diktatoren – Abd-al-Nassar, Sadat und Mubarak
– entgegenzukommen, obwohl alle diese drei versuchten, sie
auszurotten.
Die Bruderschaft ist vor allem eine arabische und
ägyptische Partei, die tief in der ägyptischen Geschichte verwurzelt
ist. Auch wenn sie dies wahrscheinlich leugnen würde, würde ich –
nach ihrer Geschichte – urteilen, dass sie eher arabisch und
ägyptisch ist als fundamentalistisch. Sie sind sicher nie fanatisch
gewesen.
Während ihrer 84 Jahre ging es mit ihr vielmals auf
und ab. Aber meistens ist ihre hervorragendste Eigenschaft
Pragmatismus gewesen, verbunden mit dem Festhalten an den Prinzipien
ihrer Religion. Es ist dieser Pragmatismus, der auch ihr Verhalten
während der letzten anderthalb Jahre charakterisiert, die – so
scheint es – eine ziemlich hohe Stimmenzahl verursachte, deren
Wähler gar nicht besonders religiös sind, aber bewog, für ihren
Kandidaten zu stimmen und nicht für den säkularen, der eine
Verbindung zu dem korrupten und unterdrückerischen früheren Regime
hatte.
Dies bestimmt auch ihre Haltung gegenüber Israel.
Palästina ist ständig in ihrem Bewusstsein – aber das trifft auf
alle Ägypter zu. Ihr Bewusstsein ist von dem Gefühl getrübt, dass
Anwar Sadat die Palästinenser in Camp David betrogen hat. Oder noch
schlimmer, dass der hinterhältige Jude Menachem Begin Sadat beim
Unterzeichnen eines Dokumentes verraten hat, das nicht das besagte,
was Sadat dachte. Es war nicht die Bruderschaft, die die Ägypter
veranlasste, sich gegen uns zu wenden - nachdem sie uns, die ersten
Israelis, die ihr Land besuchten, mit überschwänglicher Begeisterung
begrüßten.
Während der hitzigen Wahlkampagnen (vier in einem
Jahr) hat die Bruderschaft nicht die Außerkraftsetzung des
Friedensabkommens mit Israel verlangt. Ihre Haltung scheint so
pragmatisch wie immer zu sein.
ALLE UNSERE Nachbarn werden langsam aber sicher
islamistisch.
Das ist nicht das Ende der Weltgeschichte. Aber es
zwingt uns zum ersten Mal zu versuchen, den Islam und die Muslime zu
verstehen.
Jahrhunderte lang hatte der Islam und das Judentum
enge und gegenseitig sich befruchtende Beziehungen. Die jüdischen
Weisen im muslimischen Spanien, der große Maimonides und viele
andere wichtige Juden waren vertraut mit der islamischen Kultur und
schrieben viele ihrer Werke auf Arabisch. Da gibt es sicherlich
nichts in den beiden Religionen, das die Zusammenarbeit beider
ausschließt. (Was leider nicht für das Christentum zutrifft, das die
Juden nicht tolerieren könnten).
Wenn wir wollen, dass Israel in einer Region
existiert, die lange Zeit von demokratisch gewählten islamischen
Parteien regiert werden wird, würden wir gut daran tun, sie jetzt
als unsere Brüder zu empfangen, wir sollten ihnen zu ihren Siegen
gratulieren und für Frieden und Versöhnung mit gewählten
Islamisten in Ägypten und in den andern arabischen Staaten,
einschließlich Palästina, arbeiten. Wir müssten sicherlich der
Versuchung widerstehen, die Amerikaner dahin zu bringen, eine andere
militärische Diktatur in Ägypten, Syrien und anderswo zu
unterstützen . Lasst uns die Zukunft wählen, nicht die
Vergangenheit!
Wenn wir nicht vorziehen, uns schließlich doch auf
den Weg nach Kanada zu machen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)