Die
Steine schreien
(Eine Lektion über ethnische Säuberung)
Uri Avnery, 17.6.06
„ICH
SAMMELTE mit bloßen Händen die Körperteile meiner
beiden kleinen Söhne zusammen. Welche Mutter muss dies
tun? Eine Granate des Angreifers riss sie aus einander.
Innerhalb einer Sekunde war mein Leben für immer
zerstört.“ Die Frau sprach ruhig. Ihr dritter Sohn, ein
Junge von etwa 8 Jahren, stand neben ihr. Ab und zu
wischte er ihre Tränen von den Wangen. Die gepflegte
Frau hatte ihr Haar mit einem rosa Kopftuch
zusammengehalten; sie war gut gekleidet und hatte sich
unter Kontrolle – zugleich aber war sie voll
zurückgehaltenem Hass gegen die „Aggressoren“ – die
Serben, die ihre Tragödie verursacht hatten. Ein großer
Kranz und die Fotos der Jungen am Eingang ihrer Wohnung
erinnerten still, dass dies der 15. Jahrestag der
Katastrophe war – der 1. Tag der Belagerung von
Sarajewo.
Vom
ersten Augenblick an, in dem wir - Rachel und ich – am
Flughafen landeten, warf uns Sarajewo in einen Kessel
der Emotionen, was uns keinen Moment los ließ. In
Sarajewo kann man einfach nicht gleichgültig sein; „denn
auch die Steine in den Mauern schreien,“ wie der Prophet
Habakuk
(2,11) sagte. Diese Mauern sind übersät von
Einschlaglöchern, Ruinen, die einmal Wohnungen waren,
und die Menschen tragen grauenhafte Geschichten mit
sich, als wäre all das erst gestern geschehen. Es ist
eine Stadt, die einem das Herz wärmt und einem das
Herz bricht.
Ganze vier Jahre lang lag Sarajewo unter Belagerung. Es
ist kaum zu glauben – aber es ist nur 10 Jahre her. Die
Hauptstadt eines europäischen Staates: rundum belagert,
geschlagen, ausgehungert, bombardiert, gefoltert – und
Europa schaute zu.
Die
Hauptstadt von Bosnien-Herzegovina ist eine wunderbare
Stadt – und ihre Schönheit führte zu ihrer Katastrophe.
Die Beschreibung Jerusalems in Psalm 125: „Die Berge
sind rund um Jerusalem“ passt auch für Sarajewo. Es
liegt in einem Tal, auf allen Seiten umgeben von Bergen.
Grüne, bewaldete Hänge, an vielen Stellen von roten
Dächern unterbrochen. Es gibt fast keine Stelle in der
Stadt, von wo man nicht die schönen Berge sieht. Aber da
alle Bergkuppen von der serbischen Armee besetzt waren,
die die Stadt belagerten, gab es praktisch keine Stelle
in der Stadt, die nicht von Scharfschützen erreicht
werden konnte.
Nicht einen Tag, eine Woche oder einen Monat - vier
lange Jahre.
Sarajewo ist eine Stadt der Gräber - Dutzende von
Friedhöfen liegen in ihr zerstreut, kleine, große und
sehr große. Tausende von weißen Grabsteinen blenden die
Augen, meistens in derselben Größe und mit einfachen
Inschriften, frische Kränze liegen daneben. 12 000
Einwohner der Stadt wurden während der Belagerung
getötet, unter ihnen 1500 Kinder unter 14 Jahren. Die
ganze Stadt leidet noch immer unter diesem Trauma.
Und
trotz allem ist es eine vibrierende Stadt.
Verkehrsstaus, alte, klapprige Autos, Straßen und
Fußgängerwege voller Einschussnarben. Die Stadt
versucht, sich zu erholen: viele der quadratischen
Häuser sehen aus, als wären sie von Kindern gemalt
worden, sie sind nun noch einmal mit braunen, grünen
und gelblichen Farben angestrichen worden. Zwischen
ihnen stehen Fruchtbäume und kleine Gärtchen mit
riesigen Rosenbüschen.
In
der Mitte der Stadt steht ein türkischer Palast,
ausgerechnet von den Österreichern gebaut , als sie
über Bosnien herrschten. In ihm war die Staatsbibliothek
beheimatet, eine der bedeutendsten Bibliotheken der
Welt. Sie wurde während der Belagerung völlig durch
Feuer zerstört. Hinter der imponierenden Front nur
Trümmer.
EIN
FRÜHERER Kommandeur mit grauem Haar und sonnverbranntem,
furchigem Gesicht zeigte uns die Schlachtplätze und
erklärte uns die Geschichte der Belagerung. Ich hatte
das Gefühl, ich sei selbst dabei gewesen. Jedes Wort
erinnerte mich an meine eigene Erfahrung im Krieg von
1948 in Palästina. Die improvisierte Armee; das Gefühl
„es gibt keine Alternative“; die Angst, wenn wir die
Schlacht verlieren, werden wir und unsere Familien
massakriert; der Mangel an Waffen; das Gefühl der
„wenigen gegen die vielen“; der Durchbruch zu einer
belagerten Stadt ( das jüdische Jerusalem); die
verwischte Linie zwischen Zivilisten und Soldaten.
Damals verfolgte ich den Krieg in Bosnien mit dem
Gefühl, er ähnelte sehr unserm eigenen Krieg. Es war
ein ethnischer Krieg, ein Krieg, der gekennzeichnet war
durch das, was seitdem „ethnische Säuberung“ genannt
wird.
Ich
war nach Sarajewo eingeladen worden, um genau über
dieses Thema bei einer internationalen Konferenz der „
Neuen Agora“ zu sprechen, die ihren Sitz in Polen hat
und deren Ziel es ist, Intellektuelle aus den
verschiedensten Ländern zusammen zu bringen, um über die
Zukunft der Welt zu diskutieren. (Im antiken
Griechenland war die Agora der Marktplatz, wo sich die
Bevölkerung treffen und über öffentliche
Angelegenheiten diskutieren konnte.)
Ein
„ethnischer Krieg“ ist - meiner Auffassung nach - anders
als jeder andere Krieg. Ein „normaler“ Krieg findet
zwischen Staaten um ein Stück Land, das auf der Grenze
liegt, statt. So kämpften Deutschland und Frankreich
Jahrhunderte lang um das Elsass. Aber ethnische Kriege
werden zwischen zwei Völkern über ein Land ausgefochten,
das beide Völker als ihre Heimat betrachten. In solch
einem Krieg kämpft jede Seite nicht nur, um möglichst
viel Land zu erobern, sondern - hauptsächlich - auch
darum, das andere Volk zu vertreiben. Deshalb ist er
immer besonders grausam.
Der
1948er Krieg in Palästina war ein ethnischer Krieg
zwischen Arabern und Juden. Jede Seite glaubte, dass das
ganze Land ihr gehört. Die Hälfte des palästinensischen
Volkes wurde aus ihren Häusern und von ihrem Land
vertrieben, einige durch die Kämpfe selbst, einige durch
bewusste israelische Politik. Um der historischen
Wahrheit willen, muss erwähnt werden, dass in den von
der arabischen Seite eroberten Gebieten ( sie waren
zwar klein) keine Juden zurückblieben. Aber wir
eroberten 78% des Landes und von diesem wurden 750 000
Araber vertrieben, während weniger als 100 000 blieben.
Hunderte Dörfer wurden nach dem Krieg dem Erdboden
gleich gemacht, und auf ihrem Grund und Boden wurden
jüdische Dörfer gebaut. Ganze arabische Stadtteile
wurden „entleert“, und neue jüdische Emigranten
ersetzten die früheren Bewohner. Eroberung und
Vertreibung gehören zusammen. Kurz gesagt: Ethnische
Säuberung.
Der
bosnische Krieg war ähnlich – außer dass anstelle von
zwei Seiten, wie in unserm Krieg, es drei Seiten gab:
Bosniaken ( Muslime), Serben ( orthodoxe Christen) und
Kroaten (katholische Christen). Jede der drei Seiten
kämpfte gegen die beiden anderen. Die schrecklichen
Massaker wurden fast zur Routine. Ein Bosniake erzählte
uns: „An jedem Tag, an dem ein Bauer sein Feld pflügt,
entdeckt er ein neues Massengrab.“
Wie
in Palästina vor dem 1948er Krieg lebten die
verschiedenen Bevölkerungen zuvor bunt gemischt. Die
Städte waren gemischt ( wie Jerusalem und Haifa), die
Dörfer lebten neben einander – Dörfer mit hohen
Minaretten, Dörfer mit katholischen Kirchtürmen, Dörfer
mit Kuppeln orthodoxer Kirchen.
Deshalb dachten die Leute – bevor es geschah – „so etwas
kann in Sarajewo nicht passieren“. Serben und Kroaten
brachten sich bereits in anderen Teilen des sich
auflösenden Jugoslawiens gegenseitig um, aber nicht in
Bosnien. Dort heiratete jeder jeden. Es gibt kaum eine
Person in Bosnien, in deren Adern nicht Blut aus allen
drei Gruppen fließt. In den Städten lebten sie Tür an
Tür.
In
Sarajewo gab es - und gibt es noch immer – eine
Mehrheit von Muslimen, Seite an Seite mit Minderheiten
von Kroaten, Serben und Juden – in dieser Reihenfolge.
Der General, der uns die Schlachten erklärte, Jovan
Divjak, der Vizekommandeur der bosnischen Armee, ist ein
Serbe. Er verließ die jugoslawische (serbische) Armee,
um Sarajewo zu verteidigen.
Für
den Photographen, der für eine lokale Zeitschrift ein
Foto von mir machte, war es schwierig, seinen
Familienstammbaum zu erklären: der eine Großvater, ein
Muslim, heiratete eine Kroatin. Der andere war halb
Serbe, halb Montenegriner, während seine Frau eine
Muslima war. „Wir müssen alle zusammenleben“, sagte er
mehrfach, „es gibt keinen wirklichen Unterschied
zwischen uns!“
Und
tatsächlich – da gibt es einen großen Unterschied
zwischen unserm Krieg und dem bosnischen Krieg. Hier,
wo sich alle drei „mit Vergnügen“ gegenseitig
umbrachten, sprechen alle dieselbe Sprache. Alle sind
Nachkommen derselben slawischen Stämme, die im 7.
Jahrhundert dieses Land eroberten. Auf der Straße kann
man nicht zwischen einem Muslim, einem Kroaten und einem
Serben unterscheiden.
Sarajewo war und bleibt – trotz allem – ein Modell der
Toleranz. Auf einem Platz im Zentrum der Stadt stehen
eine Moschee, eine katholische Kirche, eine orthodoxe
Kirche und eine Synagoge neben einander. Es ist kaum zu
glauben, dass vor 10 Jahren ein so schrecklicher Krieg
in diesem Lande tobte.
„Ich
kann bei Nacht nicht schlafen,“ erzählte uns ein
muslimischer Koch in einem Restaurant. „Jede Nacht
kommen die Bilder zurück und verfolgen mich. Ich will
sie vergessen und kann es nicht.“ Als er 18 war, wurde
er, ein großer, muskulöser junger Mann, in die damalige
jugoslawische Armee eingezogen, die von den Serben
dominiert war. Als der Krieg zwischen den Serben und
Kroaten ausbrach, wurde er einer Sondereinheit
zugeteilt und nach Vukovar gesandt, wo die Serben ein
schreckliches Massaker an den Kroaten begingen. „Wir
legten sie um - eine Reihe nach der andern - Dutzende,
Hunderte, Männer, Frauen und Kinder, ich auch. Ich hatte
keine andere Wahl. Wenn man sich geweigert hätte,
hätten die Kommandeure einem ins Genick geschossen.
Schließlich stahl ich einen LKW mit Waffen und
desertierte. Ich wurde geschnappt und landete für ein
halbes Jahr im Gefängnis. Es war hart, sehr hart. Ich
floh und kam zu den Kroaten. Sie teilten mich in eine
ihrer Sondereinheiten zu, bis es mir gelang, zu
desertieren und nach Hause nach Sarajewo zu kommen. Nun
lebe ich mit meinem Vater und meiner Mutter zusammen
und möchte eines Tages eine Gaststätte eröffnen, ein
Familie gründen - - und zur Hölle mit den andern!“
Nach
einem Moment fügte er noch hinzu: „Es sind die
Politiker, die an allem Schuld sind. Wenn ich Gott wäre,
würde ich sie alle töten.“
AM
EINGANG eines Ladens in der Fußgängerzone in Sarajewo
sah ich ein T-Shirt mit der englischen Aufschrift: „Ich
bin ein Muslim – gerate nicht in Panik!“
Für
einen Israeli ist es schwierig, sich darüber im Klaren
zu sein, dass fast alle Menschen auf der Straße Muslime
sind. Sie ähneln nicht den Muslimen, die wir von zu
Hause aus kennen. Sie sind hellhäutig, Europäer, und
fast alle Kinder sind blond. Auf den Tausenden von
Gräbern steht über dem Namen des Verstorbenen und dem
Geburts- und Todesdatum ein arabisches Wort (Fatiha, das
Gebet für den Toten), und außer dem Großmufti, der bei
einer Podiumsdiskussion neben mir saß, traf ich
niemanden, der arabisch konnte. Ich sah auch niemanden
eine Wasserpfeife rauchen, nicht einmal in der Nähe von
Dutzenden von Moscheen in der Stadt.
Der
Großmufti hatte nur vage einmal von einem Großmufti aus
Jerusalem gehört, der die Stadt im 2. Weltkrieg besucht
hatte. „Ah, dieser Husseini,“ bemerkte er verächtlich.
Aber an Yasser Arafat erinnert man sich. Er traf sich
mit dem verehrten Führer der bosnischen Muslime, Aliya
Isetbegovitch, während der Friedensverhandlungen und
riet ihm: „Nimm, was du bekommen kannst!“
Wenige Frauen bedecken ihr Haar mit einem seidenen Tuch.
Es ist ziemlich seltsam, solch junge Frauen mit bunten
Kopfbedeckungen und eleganten bis zum Boden reichenden
Röcken zu sehen, wie sie mit Freundinnen in Cafes sitzen
und Zigaretten rauchen. Sie gehen auch in gemischten
Gruppen mit Mädchen, ohne Kopfbedeckung und in engen
Jeans und T-Shirts. Das scheint dort kein Problem zu
sein.
Viele Läden am Markt verkaufen lokales Kunstgewerbe -
Gefäße für Artilleriegeschosse, die man als Vasen
verwenden kann, oder Salz-/Pfeffermühlen,
Munitionshülsen für Stifte. Überall werden Fotos von
Tito angeboten. Viele Leute erinnern sich mit Nostalgie
an ihn. Solang er lebte, konnte er den Frieden zwischen
den verschiedenen Völkern Jugoslawiens aufrecht
erhalten.
Aber
der interessanteste Ort der Stadt war der Tunnel. Er
erklärt, warum die Stadt sich vier Jahre lang, während
der schrecklichen Belagerung, hat halten können, ohne
vor Hunger oder aus Mangel an Medikamenten zu sterben
oder sich wegen fehlender Munition ergeben zu müssen.
Die Rettungsmaßnahmen ähneln sich: so wie es uns 1948
gelang, die Belagerung Jerusalems zu brechen, indem wir
Felsenblöcke beiseite schafften und dadurch die
primitive „Burma-Straße“ schufen, bauten die Bosnier
einen Tunnel unter der serbischen Stellung hindurch, um
in das freie bosnische Gebiet jenseits des Berges zu
gelangen. Für 5 bosnische Mark (2,5 Euro) kann man
hineingelangen. Durch diesen Tunnel, der 1,60 m hoch
und 1m breit ist, wurden halb kriechend Nahrungsmittel,
Medikamente und Waffen in die Stadt gebracht und
Verwundete hinausgebracht..
Jetzt ist er ein Museum und der Stolz der Stadt.
Vielleicht werden die Tunnel in Rafah im Gazastreifen
einmal dem selben Zweck dienen.
DAS
NATIONALE Symbol Bosniens ist die Brücke von Mostar –
zwei Stunden Busfahrt von der Hauptstadt entfernt. Die
Türken, die Bosnien 400 Jahre lang beherrschten und an
die man sich gern erinnert, bauten eine
einzigartige,große, steinerne Bogenbrücke über den
Fluss. Sie blieb während aller Kriege unbeschädigt –
außer im letzten Krieg. Als die Kroaten Mostar
belagerten, zerstörten sie sie absichtlich unter
Artilleriebeschuss.
Nach
dem Krieg wurde die Brücke mit europäischen Geldern
genau wie die alte wieder aufgebaut. Aber die
barbarische Tat schwelt noch in den Herzen eines jeden
Bosnier. „Vergiss 1993 nicht !“ verlangt eine Inschrift
auf einer Steintafel.
Als
wir diesen Ort im Herzen einer faszinierenden alten
Stadt besuchten, liefen Soldaten der internationalen
Friedensgruppe dort umher. Ich schaute auf ihre
Schulterabzeichen und konnte nicht anders als lachen. Es
waren österreichische Soldaten.
Am
28. Juni 1914 ermordete ein serbischer Nationalist,
Gavrilo Prinzip den österreichischen Thronfolger auf der
Hauptstraße Sarajewos, um gegen die österreichische
Besatzung des Landes zu protestieren. Dies war der
Anlass für den 1. Weltkrieg.
Heute, nach 92 Jahren, sind die österreichischen
Soldaten nach Bosnien zurückgekehrt, und die Einwohner
sind froh, sie hier zu sehen. Viele Bosnier glauben
zwar, dass noch ein Krieg unmöglich sei. „Es geschieht
nicht noch einmal. Wir haben unsere Lektion gelernt!“
Aber eine junge Frau um die 20, die das Trauma der
Belagerung noch immer mit sich trägt, sagte uns: „
Zweifellos beginnt alles von vorne – wenn die
internnationalen Truppen abziehen !“
Es
ist möglich, dass der ethnische Krieg in Bosnien genauso
wenig vorbei ist, wie der ethnische Krieg in unserem
Land.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs/ Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert)
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