Die Angst vor der Assimilation
Uri
Avnery, 9.1.2016
DAS ISRAELISCHE
Bildungsministerium hat ein Buch von der Literaturliste gestrichen,
das Schüler /Studenten lesen sollen.
Ein großer Coup. Er
geschieht jeden Tag in Russland, China und im Iran. Aber dies war
kein revolutionäres Werk von einem feuer-fressenden Rebellen. Es
ist eine liebliche Novelle einer anerkannten Autorin, Dorit
Rabinjat.
Ihre Hauptsünde war
die Darstellung eine Liebesgeschichte zwischen einem jüdischen
Mädchen und einem arabischen Jungen. Sie trafen einander auf
amerikanischem Boden.
Das Ministerium
schauderte bei dem Gedanken. Was‘? Eine koschere Tochter aus Israel
mit einem arabischen Goy? Undenkbar. Wie eine Liebesgeschichte
zwischen einer weißen Frau und einem schwarzen Mann in der Atlanta
Gone with the Wind. Oder zwischen einer Jüdin und einem reinen
Arier in Hitlers Deutschland. Schockierend. Gut, dass der weise Mann
des Ministeriums gerade noch gestoppt hat.
DIE ENTSCHEIDUNG
verursachte einen Aufruhr. Liberale Lehrer und Kommentatoren hatten
einen großen Tag. Besonders jene, die Sinn für Humor haben (Ja, es
gibt sogar solche in Israel.)
Verschiedene Leute
verlangten, die Bibel zu verbieten, da diese voll von Königen und
Helden ist, die Ausländerinnen heirateten. Abraham nahm eine
Ausländerin, Hagar, und Abscheulichkeit, Scheußlichkeit ?? hatte
einen Jungen mit ihr und sandte beide zum Sterben in die Wüste, weil
Sarah, die Mutter des jüdischen Volkes, eifersüchtig war. Die Bibel
schildert unsere als unsere Ahnfrau als eine ziemlich schändliche
streitsüchtige Frau.
Moses hatte eine
Midianiterin zur Frau. König David heiratete die Frau,nach der er
Lust hatte, nachdem er ihren hittischen Mann zum Sterben in den
Krieg schickte. Sein Sohn, Salomon hatte eine Menge Frauen, meistens
Ausländerinnen, Der Held Samson wurde von seiner philistinischen
Frau betrogen. König Ahab, der zu Tode blutete, weil er sich
weigerte, während der Schlacht medizinische Behandlung zu bekommen,
er hatte eine Frau aus Sidon. Und so weiter. Eine sehr lange Liste.
Einige Lehrer verlangten schadenfroh, die Bibel von der Liste des
Ministers zu nehmen. Fast so schlimm - Einige Meisterstücke der
modernen hebräischen Literatur. Sie stellen Liebesgeschichten
zwischen jüdischen Männern und Schicksen dar (ein jiddischer
Ausdruck für eine nicht jüdische Frau, ursprünglich vom hebräischen
Wort für Abscheulichkeit) Schluss mit ihnen!
Doch was mich am
meisten über die Affäre bewegte, war ein Wort des Ministers für
das Ausmaß. „Hitboleluth“ was Assimilation bedeutet.
Das Buch wurde
angeklagt, als ob es seine sehr formbaren Leser, besonders die
Jungen in einem beeindruckenden Alter zur Assimilation drängt.
Assimilation? HIER?
In Israel? In einem offiziellen Regierungs-Statement?
Unglaublich.
„Assimilation“ ist
ein Wort, das weithin in der jüdischen Diaspora benützt wird. Es
wird sehr abschätzig benützt. Es ist der Akt eines Juden, der sich
seines Erbes schämt und versucht, sich seiner christlichen Umgebung
anzupassen. Ein Jude , der die Goyim nachmacht und versucht , sich
wie sie zu benehmen und so auszusehen. Kurz gesagt ein
verachtenswerter Feigling. Einen Juden in Los Angeles oder Moskau
„assimiliert“ zu nennen, ist eine ernste Anklage. Viele Jahrhunderte
lang hatte es eine schlimme Bedeutung.
Es gab gute Gründe
dafür. Juden waren überall eine belagerte Minderheit. Sie hatten
keinen Staat für sich, keine Armee, um sich selbst zu verteidigen,
keine Macht außer ihrer Solidarität. Sie hielten zusammen, um zu
überleben. In kleinen Gemeinschaften, sogar der Abtrünnige einer
einzelnen Familie konnte all den andern einen ernsten Schlag
versetzen.
Assimilation führte
oft zur vollen Konversion. Wenn ein jüdisches Mädchen einen
christlichen Mann heiratete, wurden die Kinder gewöhnlich christlich
erzogen und verloren allen Kontakt mit ihren jüdischen Wurzeln
(obwohl in der jüdischen Religion, die Nachkommen einer jüdischen
Mutter volle Juden sind. Der Vater zählt nicht (vielleicht weil man
nie ganz sicher sein kann, wer der Vater ist)
All dies ist eine
ganz natürliche Haltung für eine zerstreute Gemeinschaft, die als
Minderheit in einer ausländischen, oft feindseligen Umgebung lebt.
Es ist ein Mittel des Überlebens.
Das Wort „Hitboleluth“
ist deshalb mit einem anderen hebräischen Wort verbunden: Galut
(buchstäblich „Exil“)
Nach der akzeptierten
jüdischen Auffassung ist die jüdische Geschichte in drei Teile
geteilt: „Der erste Tempel“ aus der Zeit von Abraham bis zum
babylonischen Exil, ein Exil von Gott auf Juden wegen ihrer Sünden
gelegt. Nach zwei Generationen erlaubte Gott den Juden, wieder die
Rückkehr und den „2.Tempel“ zu bauen. Aber sie sündigten wieder.
Also wurde Gott wirklich böse und sandte sie wieder ins Exil,
dieses Mal auf Dauer. Orthodoxe Rabbiner sahen den Zionismus als
Sünde an, weil die Rückkehr ins Heilige Land ein Akt der Rebellion
gegen Gott war. Die Juden müssen im Exil bleiben, bis Gott in
seiner Gnade sie zurücklässt
DIE ZIONISTISCHE
Ideologie verachtet den „Galut“. Grundsätzlich atheistisch,
beachtet er Gottes Willen nicht.
Der Gründer Theodor
Herzl glaubte, dass wenn der jüdische Staat entstehen wird, dann
würden alle wirklichen Juden dorthin kommen, um dort zu leben. Von
da an werden allein sie Juden genannt. Alle andern Juden würden sich
in ihrer jetzigen Heimat „assimilieren“ und aufhören, Juden zu
sein. (Dieser Teil der ursprünglichen Ideologie wird in den
Schulbüchern nicht erwähnt.) .
Da ich nie darauf
gedeutet habe, bevor der Staat Israel gegründet wurde, machte die
zionistische Gemeinschaft in diesem Land stolz einen Unterschied
zwischen sich selbst und den Juden im Exil. Spontan begannen die
Leute der jüdischen Gemeinde damals in Palästina sich selbst eine
„hebräische“ Gemeinde zu nennen und sprachen von hebräischer
Landwirtschaft, hebräischem Untergrund zukünftigen hebräischen
Staat, hebräische Sprache,) und hebräischer Armee im Unterschied zur
jüdischen Religion, jüdische Traditionen, jüdische Diaspora etc..
Die schlimmste
Beleidigung, die man einer Person in Tel Aviv (offiziell die „erste
hebräische Stadt“) nachrufen konnte, war, dass er ein war. Das
bedeutet, dass ihm die Qualitäten fehlten, die wir bescheiden mit
uns selbstverbanden; Aufrichtigkeit, Mut, Selbstopfer, harte
Handarbeit.
NICHTS KÖNNTE
mehr „galuti sein, als die Angst vor der Assimilation.
Assimilation an wen?
Die arabischen Bürger stellen etwa 20% der israelischen Bevölkerung
dar. Sie werden diskriminiert auf allen Gebieten des Lebens.
Allgemeine Meinungsumfragen zeigen, dass viele jüdische Israelis
sie verachten. In genau dieser Woche war ein griechisches Flugzeug
dabei, Athen zu verlassen, um nach Tel Aviv zu fliegen. Es wurde
stundenlang aufgehalten, weil einige jüdische Passagiere dagegen
waren, da zwei israelisch-arabische Araber an Bord waren. Die Araber
mussten zurückbleiben.
(Man stelle sich zwei
schwarze Passagiere in einem amerikanischen Flugzeug vor. Oder zwei
jüdische Passagiere in einem deutschen.)
Woher kommt die
Assimilation? Nur aus den tiefen Wurzeln des „Exils“.
Liebesaffären und
selbst Heiraten zwischen jüdischen Mädchen und einem arabischen Mann
(nie umgekehrt) werden in Israel nicht ungehört. Aber sind äußerst
selten. Vielleicht ein paar Dutzend. Junge Leute von zwei Nationen
mischen sich hier und dort, besonders an Universitäten, junge Leute
der zwei Völker.
Die Idee, dass sogar
eine Liebesgeschichte solch eines Paares verboten werden muss, weil
es zu einer „Assimilation“ führen kann, ist lächerlich. Es ist eher
umgekehrt. Arabische Bürger fürchten sich vor der Assimilation ihrer
jungen Männer in der jüdischen Gesellschaft. Es gibt auch ein paar
Fälle wie diese. Arabische Mädchen heiraten gewöhnlich in ihren
ausgedehnten Familien.)
WAS IST ALSO
der Ursprung dieses Syndroms?
Eine leichte
Erklärung ist die „Religionisierung“ des Lebens in Israel unter der
gegenwärtigen super-rechten-religiösen Regierung. Die
„National-religiösen“ Kräfte führen die Offensive an der ganzen
Front. Um als Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu überleben, hat
er fast alle Chefs in der Regierung ihnen gegeben. Kippah-tragende
Männer haben jetzt den Auftrag der Polizei, des
Sicherheitsdienstes, des Mossad und viele andere Institutionen;
der Rest wird von gut aussehenden rechts-extremen Frauen. Geführt.
Das Armee-Kommando
ist noch in den Händen von „säkularen“ Generälen; aber während des
letzten Gazakrieges veröffentlichte ein Brigadekommandeur (leider
meine alte Brigade) einen Befehl des Tages, in dem die IDF „Gottes
Armee“ genannt wurde. Dies ist dieselbe Armee, die im 1948er Krieg
gegründet wurde, als fast alle seine Kommandeure Sozialisten,
atheistische Kibbutz Mitglieder waren.
Der neue Chef des
Stabs hat gewagt, die Abteilung des Armeerabbinat abzuschaffen –
wegen der Nähe der weiblichen Soldaten. Die Armee ist weithin
säkular, aber schon massiv von „national-religiösen“ Offizieren
durchsetzt. Die Militär-Rabbiner spielen darin dieselbe Rolle, wie
die „politischen Kommissare“ wie in Trotzkys Roter Armee. Soldaten
werden an der Westmauer, Israels religiösester Stätte vereidigt.
ICH GLAUBE,
dass dieser Prozess weit tiefer ist, als eine Machtveränderung von
der alten säkularen Elite zur neuen religiösen, so schlecht sie auch
sein mag.
Was ist geschehen:
der Rückzug der neuen israelischen Nation, die wir in der 30er,
40er und 50er Jahren des letzten Jahrhundert geschaffen haben: in
eine neue Ausgabe des jüdischen Ghettos – ein bewaffnetes Ghetto,
ein nukleares Ghetto aber trotzdem ein Ghetto.
Es ist das Gegenteil
von dem Ziel; was jetzt entsteht ist eine säkularere, demokratische,
egalitäre, liberale Staat , das Gegenteil zu einer geschlossenen,
religiösen, nationalistischen, rassistischen, sogar
halb-faschistisches Gesellschaft.
In solch einer
Gesellschaft wird „Assimilation“ tatsächlich als tödliche Gefahr
angesehen.
Es ist noch Zeit, das
Steuerrad herumzudrehen und den Staat, den wirauf bauten, zu retten.
Aber wie lange noch?
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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