Eine Nation? Was für eine Nation?
Uri Avnery, 25.9.04
Die Sache klingt wie ein Witz, sie ist
aber sehr ernst.
Die Regierung von Israel erkennt die
israelische Nation nicht an. So etwas gebe es nicht.
Könnte es für die
französische Regierung möglich sein, die Existenz der französischen
Nation zu leugnen? Oder für die Regierung der Vereinigten Staaten
von Amerika, die amerikanische Nation nicht anzuerkennen. Dann ist
Israel das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Jede Person in Israel ist im
Innenministerium im Einwohnerverzeichnis registriert. Das
Verzeichnis schließt den Punkt „Nation“ ein. Dieser Punkt erscheint
auch auf der Identitätskarte, die jede Person in Israel immer bei
sich tragen muss oder sie riskiert strafrechtliche Verfolgun
Das Innenministerium hat eine Liste von
140 anerkannten Nationen, die der Beamte registrieren kann. Es
handelt sich dabei nicht nur um wohlbekannte Nationen ( wie
„russisch“, „deutsch“, „französisch“ usw.) sondern auch um
„christlich“, „muslimisch“, „drusisch“ und andere. Die „Nation“ des
arabischen Bürgers in Israel kann z.B. als „arabisch“, „christlich“,
„katholisch“, - aber nicht als „palästinensisch“ – sein. Das
Innenministerium hat noch nichts von der Existenz einer solchen
Nation gehört.
Die meisten israelischen Einwohner
tragen eine Identitätskarte bei sich, auf der natürlich unter
„Nation“ „jüdisch“ steht. Dies wurde nun zum Thema einer Debatte.
Eine Gruppe von 38 Israelis hat darum
gebeten, die Eintragung „jüdisch“ zu streichen und durch
„israelisch“ zu ersetzen. Das Innenministerium weigerte sich und
behauptete, dass solch eine Nation nicht auf seiner Liste erscheine.
Diese Gruppe hat beim Obersten Zivilgericht einen Antrag gestellt
und darum gebeten, das Innenministerium zu informieren, man möge
sie, da sie sich zur „israelischen“ Nation gehörig fühle, auch als
solche registrieren. In dieser Woche kam dieser Fall vor Gericht.
Zu diesen 38 gehören die berühmtesten
Professoren Israels (Historiker, Philosophen, Soziologen und
andere), bekannte öffentliche Persönlichkeiten u.a.( einschließlich
meiner Wenigkeit). Einer der Initiatoren ist ein Druse. Sie gehören
keineswegs zu einem politischen Lager - die Gruppe schließt
tatsächlich Leute vom linken und rechten Lager ein. Einer von ihnen
ist Benny Peled, früherer Kommandant der Luftwaffe – er stand sehr
weit rechts und starb, nachdem die Petition beantragt war.
Das Oberste Gericht ( in seiner
Funktion als Zivilgericht) behandelte den Fall wie eine heiße
Kartoffel. ( Selbst wenn der Richter Mishal Cheshin sich darüber
freute, im Verzeichnis des Ministeriums die „Assyrische“ Nation zu
finden – in der Tat eine sehr kleine religiöse Gemeinschaft - ein
Rest aus der Antike, der noch einen aramäischen Dialekt spricht)
Um sich mit solch einer tiefschürfenden
Frage zu befassen – so sagten die Richter des Zivilgerichtes, das
sich gewöhnlich mit Verwaltungsangelegenheiten befasst - seien sie
nicht genügend ausgerüstet. Er riet den Antragstellern, zum
Distriktgericht zu gehen, wo eine ausführliche Diskussion möglich
wäre und Experten angehört werden können. Die Antragsteller nahmen
den Rat an. Und so wurde die Debatte zu einem anderen juristischen
Forum umgeleitet, das sich mit vielen Anhörungen wird abgeben
müssen.
Warum weigert sich die israelische
Regierung, die israelische Nation anzuerkennen? Nach ihrer
offiziellen Doktrin gibt es eine „jüdische“ Nation, und der Staat
gehört ihr. Nach allem ist es doch ein „jüdischer“ Staat oder mit
den Worten nach einem der Gesetze: „ es ist der Staat des jüdischen
Volkes“. Nach derselben Doktrin ist es auch ein demokratischer Staat
und alle seine Bürger werden als gleichberechtigt angesehen,
ungeachtet ihrer nationalen Zugehörigkeit. Aber grundsätzlich ist
der Staat „jüdisch“.
Nach dieser Doktrin ist das Judentum
beides: eine Nation und eine Religion. In den ersten Jahren Israels
war es üblich, wenn jemand - bona fide - erklärte, dass er oder sie
jüdisch sei, dann wurde er oder sie als solche (r) registriert.
Aber als das religiöse Lager mehr Macht erhielt, wurde das Gesetz
verändert: von da an wurde eine Person nur dann registriert, wenn
sie eine jüdische Mutter hatte oder sie zum jüdischen Glauben
konvertiert war und keine andere Religion hatte. Dies ist natürlich
eine rein religiöse Definition. ( Nach dem jüdisch-religiösen Gesetz
ist eine Person jüdisch, wenn die Mutter jüdisch ist - der Vater
ist hier irrelevant)
Diese Situation hat ein anderes Problem
geschaffen. In Israel erfreut sich das orthodoxe Rabbinat eines
totalen Monopols, was jüdisch religiöse Angelegenheiten betrifft.
Zwei andere jüdisch religiöse Fraktionen, die in den USA sehr
wichtig sind, die konservative und die Anhänger des
Reformjudentums, werden in Israel diskriminiert, und bei ihnen
durchgeführte Konversionen werden von der Regierung nicht anerkannt.
Vor ein paar Jahren entschied der Oberste Gerichtshof, dass
Personen, die in diesen beiden Gemeinschaften konvertiert sind, in
Israel unter „Nation“ auch unter „jüdisch“ registriert werden
müssen. Daraufhin hat der damalige Innenminister, ein religiöser
Politiker, definitiv entschieden, dass in Zukunft solche
Identitätskarten unter dem Punkt „Nation“ nur fünf Sterne zeigen.
Aber im Einwohnerverzeichnis des Ministeriums steht noch immer
„Nation: jüdisch“.
Die Ursprünge dieses Durcheinanders
gehen bis in die Anfänge der zionistischen Bewegung. zurück. Bis
dahin waren Juden in aller Welt eine religiös-ethnische
Gemeinschaft. Das war für das damalige Europa anormal – aber vor
2000 Jahren ganz normal, als solche Gemeinschaften (griechisch,
jüdisch, christlich und andere) die Norm waren. Im byzantinischen
Reich war jede autonom und hatte ihre eigenen Gesetze und die
eigene Gerichtsbarkeit. Ein Jude aus Alexandria konnte eine Jüdin
aus Antiochien heiraten, aber nicht seine christliche Nachbarin. Im
Ottomanischen Reich wurde diese Tradition fortgesetzt . Man nannte
diese Gemeinschaften Millets ( nach dem arabischen Wort für
Nation).
Aber als sich in Europa die modernen
Nationalbewegungen entwickelten und es so aussah, dass die Juden in
ihnen keinen Platz hätten, entschieden die Gründer der zionistischen
Bewegung, dass sich die Juden als unabhängige Nation konstituieren
und einen eigenen Staat gründen sollten. Die religiös-ethnische
Gemeinschaft wurde einfach als Nation definiert, und so kam eine
Nation zustande, die gleichzeitig eine Religion war – und eine
Religion, die auch eine Nation war.
Das war natürlich eine Fiktion, aber
eine notwendige: der Zionismus beanspruchte Palästina für die
jüdische „Nation“. Um einen nationalen Kampf zu führen, musste es
eine Nation geben.
Zwei Generationen später jedoch, wurde
die Fiktion Realität. In Palästina entwickelte sich eine wirkliche
Nation mit nationaler Wirklichkeit und nationaler Kultur. Es war
klar, dass die Mitglieder dieser Nation Juden waren, aber Juden, die
in vielen Hinsichten anders als Juden in der Welt waren.
Vor der Gründung des Staates Israel
machte man in alltäglicher Ausdrucksweise – ohne dass irgend
jemand dies entschieden hat – einen Unterschied zwischen „hebräisch“
und „jüdisch“. Man sprach vom „hebräischen“ Yishuv ( die neue
Gesellschaft in Palästina) und der „jüdischen Religion“, von der
„hebräischen Landwirtschaft“ und der „jüdischen Tradition“, von
„hebräischen Arbeitern“ und der „jüdischen Diaspora“, vom
„hebräischen Untergrund“ und dem „jüdischen“ Holocaust. Als ich
noch ein Junge war, demonstrierten wir für jüdische Einwanderung und
einen hebräischen Staat.
Als Israel zum Staat geworden war,
wurden die Dinge einfacher. Jeder Israeli, der im Ausland nach
seiner nationalen Zugehörigkeit gefragt wird, antwortet automatisch:
„Ich bin Israeli“. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn zu sagen:
„Ich bin Jude“, es sei denn, er wird nach seiner Religion gefragt.
Es gibt keinen Widerspruch zwischen
Israeli-sein und Jude-sein. Ein moderner Mensch besteht aus
verschiedenen „Schichten“, die einander nicht ausschließen. Eine
Person kann dem Geschlecht nach männlich sein, der Vorliebe nach
Vegetarier, der Religion nach Jude und ein Israeli nach seiner
Nation. Eine Frau in Brooklyn kann jüdisch sein und gleichzeitig (US-)Amerikanerin
– jüdisch dem Ursprung und der Religion nach und us-amerikanisch
nach ihrer Nation.
Nach modernen westlichen Normen
definiert sich eine Nation durch ihre Staatsangehörigkeit und in
vielen Sprachen bedeutet Nationalität Staatsangehörigkeit. Jeder
us-amerikanische Bürger hat die us-amerikanische
Staatsangehörigkeit, ob er schottischen, mexikanischen,
afrikanischen oder jüdischen Ursprungs ist. Der Religion nach kann
ein US-Amerikaner katholisch, jüdisch, Buddhist oder evangelikal
sein. Das hat keinen Einfluss auf seine Zugehörigkeit zu einer
Nation, die ein politisches Kollektiv ist.
Auch europäische Nationen gleichen sich
langsam diesen Normen an. Nur Faschisten verlangen eine totale
Übereinstimmung von Rasse, Nation und Sprache.
Warum ist das so wichtig? Im Gegensatz
zur jetzt überholten faschistischen Doktrin ist die Zugehörigkeit zu
einer Nation Sache der eigenen persönlichen Entscheidung. Die
hundert Tausende von Russen, die – als nahe Verwandte von Juden –
legal nach Israel kamen, die in der israelischen Armee gedient haben
und israelische Steuern zahlen, falls sie zur israelischen Nation
gehören wollen, gehören tatsächlich dazu. Arabische Bürger, die zur
israelischen Nation gehören wollen, sind in der Tat Israelis – ohne
dass sie ihre palästinensische Identität und ihre muslimische,
christliche oder drusische Religion aufgeben.
Für viele Leute ist es schwierig, die
zionistischen Mythen, mit denen sie aufgewachsen sind, aufzugeben.
Sie versuchen, jeder Diskussion darüber auszuweichen – und
tatsächlich wird dies in unseren Medien kam erwähnt. Unsere
Petition an das Zivilgericht und bald beim Distriktgericht ist dafür
bestimmt, solch eine Debatte anzustoßen.
Vor (mehr als) zwei Tausend Jahren
befand sich der Prophet Jona auf einem Schiff, das im Sturm
unterzugehen drohte. Die verängstigten Matrosen suchten nach dem
Schuldigen und fragten ihn (Jona 1,8): „... aus welchem Lande bist
du und von welchem Volke bist du?“ Jona antwortete ihnen: „Ich bin
ein Hebräer!“
Als Antwort auf diese Frage antworten
wir jetzt: „Wir sind Israelis!“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und
vom Verfasser autorisiert)
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