„Haltet mich zurück!“
Uri Avnery, 3.4.10
„HALTET MICH zurück!“ ist ein Teil israelischer Folklore. Es
erinnert uns an unsere Kindheit.
Wenn ein Junge einen Streit mit einem größeren und stärkeren Jungen
hat, der vorgibt, er werde ihn jeden Augenblick angreifen, schreit
den Zuschauern zu: „Haltet mich zurück, oder ich werde ihn
umbringen!“
Israel ist jetzt in solch einer Situation. Wir geben vor, wir seien
im Begriff, den Iran jeden Augenblick anzugreifen, und schreien der
Welt zu: „Haltet uns zurück oder…“
Und die Welt hält uns tatsächlich zurück.
ES
IST gefährlich, bei solch einer Sache zu prophezeien, besonders wenn
wir uns mit Leuten befassen, die nicht alle weise sind und die
nicht alle normal sind. Doch bin ich bereit, meinen Standpunkt
aufrecht zu erhalten: Es besteht keine Möglichkeit – egal was
geschieht – dass die Regierung Israels ihre Luftwaffe ausschickt, um
den Iran anzugreifen.
Ich werde nicht weiter auf militärische Einzelheiten eingehen. Ist
unsere Luftwaffe tatsächlich fähig, solch eine Operation
auszuführen? Sind die Umstände denen von vor 28 Jahren ähnlich, als
der irakische Reaktor mit Erfolg zerstört wurde? Ist es für uns
überhaupt möglich, auf diese Weise die iranischen nuklearen
Bemühungen zu eliminieren, deren Einrichtungen über das ganze Land
verteilt sind und tief unter der Erdoberfläche liegen?
Ich möchte auf einen anderen Fokus mich konzentrieren: ist es
politisch durchführbar? Was wären die Folgen?
ALS ERSTES: eine Grundregel der israelischen Realität: der Staat
Israel kann keine groß angelegte Militäroperation ohne
amerikanisches Einverständnis beginnen.
Israel hängt von den USA in fast jeder Beziehung ab, aber in keiner
Hinsicht ist es abhängiger als in der militärischen Beziehung.
Die Flugzeuge, mit denen diese Mission ausgeführt werden müsste,
wurden uns von den USA geliefert. Ihre Wirksamkeit hängt von einer
ständigen Nachlieferung amerikanischer Ersatzteile ab. Bei dieser
Entfernung würden zum Auftanken in den US gebaute Tankflugzeuge
nötig sein.
Dasselbe gilt auch für fast alles andere Kriegsmaterial unserer
Armee wie auch für das Geld für ihre Beschaffung. Alles kommt
aus Amerika.
1956 fing Israel ohne Zustimmung der Amerikaner einen Krieg an. Ben
Gurion dachte, dass seine Verschwörung mit Großbritannien und
Frankreich genügen würde. Er hatte sich schwer geirrt. Einhundert
Stunden, nachdem er uns gesagt hatte, das dritte Königreich
Israels sei erstanden, verkündete er mit gebrochener Stimme, dass
er alle Gebiete räumen werde, die gerade erobert wurden. Präsident
Dwight Eisenhower hatte zusammen mit seinem russischen Kollegen ein
Ultimatum gestellt – und dies war das Ende des Abenteuers.
Seitdem hat Israel keinen einzigen Krieg begonnen, ohne sich mit
einem Einverständnis von Washington abzusichern. Am Vorabend des
Sechstagekriegs wurde ein Sonderbotschafter in die USA gesandt, um
sicher zu sein, dass es tatsächlich ein amerikanisches
Einverständnis gebe. Als er mit einer positiven Antwort zurückkam,
wurde der Befehl zum Angriff gegeben.
Am
Vorabend des 1. Libanonkrieges eilte der Verteidigungsminister Ariel
Sharon nach Washington, um die Zustimmung zu bekommen. Er traf sich
mit dem Außenminister Alexander Haig, der zustimmte – aber nur unter
der Bedingung, dass es eine klare Provokation gebe. Ein paar Tage
später erfolgte ein Attentatsversuch auf den israelischen
Botschafter in London – und der Krieg fing an.
Die Offensiven der israelischen Armee gegen die Hisbollah („Zweiter
Libanonkrieg“) und die Hamas („Cast Lead“) waren möglich, weil sie
ein Teil der amerikanischen Kampagne gegen den „radikalen Islam“
waren.
Scheinbar träfe dies auch bei einem Angriff auf den Iran zu. Aber
das stimmt nicht.
WEIL EIN israelischer Angriff auf den Iran eine militärische,
politische und wirtschaftliche Katastrophe für die USA bedeuten
würde.
Da
auch den Iranern klar ist, dass Israel nicht ohne amerikanische
Zustimmung angreifen könnte, würden sie entsprechend reagieren.
Wie ich hier schon früher geschrieben habe, genügt ein flüchtiger
Blick auf die Karte, um deutlich zu machen, wie die unmittelbare
Reaktion aussehen würde. Die Meerenge von Hormuz am Anfang des
Persischen ( oder Arabischen) Golfes, durch die ein großer Teil des
Erdöls der Welt fließt, würde sofort blockiert werden. Die Folgen
würden die internationale Wirtschaft treffen – von den USA und
Europa bis China und Japan. Der Preis würde grenzenlos steigen. Die
Länder , die gerade begonnen haben, sich von der
Weltwirtschaftskrise zu erholen , würden in die Tiefen des Elends
und der Arbeitslosigkeit, in Aufstände und in den Konkurs versinken.
Die Meerenge könnte nur durch eine große Militäroperation auf dem
Boden geöffnet werden. Die USA hat dafür einfach keine Truppen übrig
- selbst wenn die amerikanische Öffentlichkeit für einen Krieg
bereit wäre, einen viel schwierigeren als jenen im Irak und
Afghanistan. Es ist sogar zweifelhaft, ob die US Israel helfen
könnte, sich selbst gegen die unvermeidlichen Gegenschläge von
iranischen Raketen zu verteidigen.
Der israelische Angriff auf ein zentrales islamisches Land würde die
ganze islamische Welt vereinen, einschließlich der ganzen
arabischen Welt. Die US, die in den letzten paar Jahren sich sehr
darum bemühte, eine Koalition „moderater“ arabischer Staaten zu
bilden ( d.h. Diktaturen, deren Herrscher von den US gehalten
werden) gegen die „radikalen“ Staaten. Dieses Paket würde sich
sofort auflösen. Kein arabischer Führer wäre in der Lage, daneben zu
stehen, während die Massen seines Volkes sich bei tumultartigen
Demonstrationen auf den Plätzen versammeln würden.
All dies ist jeder vernünftigen Person klar und erst recht dem
amerikanischen Militär und den zivilen Führern. Außenminister,
Generäle und Admirale sind nach Israel gesandt worden, um dies
unsern Führern in einer Sprache klar zu machen, die sogar
Kindergartenkinder verstehen können: Nein !
Lo! La! Njet!
WENN ES so ist, warum wird die Militäroperation nicht vom Tisch
genommen?
Weil die US und Israel daran interessiert sind, dass sie dort liegen
bleibt.
Die USA posieren gerne so, als könnten sie den wilden israelischen
Rottweiler kaum an seiner Leine zurückhalten. Dies übt Druck auf
die Mächte aus, damit sie sich mit Sanktionen gegen den Iran
einverstanden erklären. Wenn ihr nicht damit einverstanden seid,
könnte der wild gewordene Hund aufspringen und außer Kontrolle
geraten. Denkt an die Konsequenzen!
Was für Sanktionen? Seit geraumer Zeit hat dieses schreckliche
Wort – „Sanktionen“ – jeden auf der internationalen Bühne verfolgt.
Sie sollten innerhalb der „nächsten Wochen“ auferlegt werden. Aber
wenn man fragt, was es damit auf sich hat, wird einem klar, dass es
da eine Menge Rauch und nur ein sehr kleines Feuer gibt. Einige
Kommandeure der Revolutionären Garden mögen betroffen werden,
etwas marginaler Schaden mag bei der iranischen Wirtschaft
entstehen. Die „lähmenden Sanktionen“ sind verschwunden, weil weder
Russland noch China damit einverstanden waren, und beide machen sehr
gute Geschäfte mit dem Iran.
Es
gibt also wenig Chancen, dass diese Sanktionen die Herstellung der
Bombe stoppen oder verlangsamen würden. Vom Standpunkt der
Ayatollahs ist diese Leistung das Wichtigste für die nationale
Verteidigung – nur ein Land mit nuklearen Waffen ist immun gegenüber
einem amerikanischen Angriff. Bei den wiederholten Drohungen
amerikanischer Sprecher, ihr Regime zu stürzen, könnte keine
iranische Regierung anders handeln. Um so mehr, seit die
Amerikaner und die Briten im letzten Jahrhundert wiederholt genau
dies taten. Entsprechend allen Berichten haben selbst die
extremsten iranischen Opponenten Mahmoud Ahmadinejads die
Anschaffung der Bombe unterstützt und würden sich hinter ihn
stellen, wenn der Iran angegriffen würde.
In
dieser Hinsicht hat die israelische Führung recht: nichts würde
Irans Bemühungen stoppen, eine Atombombe zu erwerben , außer einem
massiven militärischen Einsatz. Die „Sanktionen“ sind Kinderspiel.
Die amerikanische Regierung spricht über sie mit großer
Begeisterung, um die Tatsache zu vertuschen, dass sogar das mächtige
Amerika nicht in der Lage ist, den Bau der iranischen Bombe zu
verhindern.
WENN NETAYAHU & Co die Unfähigkeit der amerikanischen Führer
kritisieren, gegen den Iran vorzugehen, antworten sie in derselben
Weise: auch ihr nehmt dies ja nicht ernst.
Und tatsächlich, wie ernst nehmen unsere Führer dies? Sie haben die
israelische Öffentlichkeit davon überzeugt, dass dies eine Sache auf
Leben und Tod sei. Der Iran wird von einem Wahnsinnigen geführt,
einem neuen Hitler, einem kranken Antisemiten, einem obsessiven
Holocaustleugner. Wenn er eine Atombombe in die Hände bekäme, würde
er keinen Moment zögern, sie auf Tel Aviv oder Dimona zu werfen.
Solange dieses Schwert über unsern Köpfen schwebt, gibt es keine
Zeit für so triviale Dinge wie das palästinensische Problem und die
Besatzung. Jeder, der bei einem Treffen unserer Führer die
palästinensische Frage vorbringt, wird sofort unterbrochen: vergesst
den Unsinn, lasst uns über die iranische Bombe reden !
Aber Obama und seine Leute drehen den Spieß um: wenn dies eine
existenzielle Gefahr ist, dann zieht, bitte, die Konsequenzen, sagen
sie. Wenn dies die Existenz Israels gefährdet, opfert die
Siedlungen der Westbank auf diesem Altar. Akzeptiert das
Friedensangebot der Arabischen Liga, macht so schnell wie möglich
Frieden mit den Palästinensern. Dies wird unsere Situation im Irak
und Afghanistan erleichtern und unsere Kräfte frei setzen. Dann hat
auch der Iran für einen Krieg mit Israel keinen Vorwand mehr. Die
Massen der arabischen Welt würden dies nicht unterstützen.
Und die Schlussfolgerung: wenn eine neue jüdische Siedlung in
Ost-Jerusalem für euch wichtiger ist als die iranische Bombe, dann
ist die Sache für Euch nicht so kritisch. Und das ist – mit aller
Bescheidenheit – auch meine Meinung.
VORGESTERN rief mich eine Korrespondentin von Israels beliebtem
Kanal 2 an und fragte mit empörter Stimme: Stimmt es, dass sie der
iranischen Nachrichtenagentur ein Interview gaben?
„Das ist wahr,“ sagte ich ihr. Die Agentur mailte mir ein paar
Fragen über die politische Situation, und ich antwortete.
„Warum haben Sie das getan?“ fragte sie anklagend.
„Warum nicht?“ erwiderte ich . Und dies war das Ende unseres
Gespräches.
Und tatsächlich, warum nicht. Ahmadinejad ist zwar ein abstoßender
Führer. Ich hoffe, dass die Iraner ihn loswerden und nehme an, dass
dies früher oder später auch geschehen wird. Aber unsere
Beziehungen mit dem Iran hängen nicht von einer einzigen Person ab,
egal wer es ist. Unsere Beziehungen gehen in alte Zeiten zurück und
waren immer freundlich – von den Zeiten des Cyrus bis in die Zeit
von Khomeini, (den wir mit Waffen versorgten, als er gegen die
Iraker kämpfte.)
In
Israel wird der Iran heute als Karikatur dargestellt: ein
primitives, verrücktes Land mit nichts in seinem Kopf als der
Zerstörung des zionistischen Staates. Aber es genügt, ein paar gute
Bücher über den Iran zu lesen - ich empfehle William Polks „Understanding
Iran“ - die beschreiben, dass dies eines der ältesten zivilisierten
Länder der Welt ist, aus dem mehrere große Weltreiche entstanden
sind und das Bemerkenswertes zur menschlichen Kultur beigetragen
hat. Es hat eine alte und stolze Tradition. Einige Gelehrte glauben
sogar, dass die jüdische Religion stark von den ethischen Lehren
Zarathustras beeinflusst wurden.
Was auch immer Ahmadinejad an irrem Zeug von sich gibt, die
wirklichen Herrscher des Landes, die Kleriker, führen eine
vorsichtige und vernünftige Politik und haben nie ein anderes Land
angegriffen. Sie haben viele wichtige Interessen, und Israel ist
nicht unter ihnen. Die Idee, sie würden ihr eigenes prächtiges Land
opfern, um Israel zu zerstören, ist grotesk.
Die simple Wahrheit ist, dass es keine Möglichkeit gibt, die Iraner
daran zu hindern, eine Atombombe zu produzieren. Es wäre besser,
ernsthaft über die Situation nachzudenken, die geschaffen wird: über
ein Gleichgewicht des Terrors wie das zwischen Indien und Pakistan,
über den Iran, der den Rang einer Regionalmacht gewinnt; über die
Notwendigkeit, einen Dialog mit ihm zu beginnen.
Aber die wichtigste Schlussfolgerung wäre: Frieden mit dem
palästinensischen Volk und der ganzen arabischen Welt zu machen, um
den Teppich unter dem iranischen Vorwand wegzuziehen, sie vor uns
schützen zu müssen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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