Der
ewige Quell
Uri Avnery, 25.August 2012
ICH WAR nicht interessiert an Paul Ryan, , dem Mann
der von der Republikanischen Partei für das Amt des Vizepräsidenten
der USA nominiert werden soll, bis der Name Ayn Rand auftauchte.
Von Ayn Rand - wurde gesagt - ginge eine wichtige
Inspiration für seine besondere Philosophie aus. Da Ryan nicht nur
als gewöhnlicher Politiker dargestellt wird wie Mitt Romney,
sondern als ein tief politischer Denker und Ökonom, verdient die
Inspiration eine genauere Untersuchung.
WIE FÜR die meisten Leute in diesem Land ist Ayn Rand
zuerst als Autorin des „The Fountainhead“ („Der ewige Quell“) in
mein Leben geraten. Es ist ein Roman, der vier Jahre vor der Geburt
des Staates Israel herauskam. Er wurde schnell ein Bestseller. Der
Film, der den Roman zur Grundlage hat, mit Gary Cooper in der
Hauptrolle, war sogar noch populärer.
Es ist die Geschichte eines genialen Architekten
(eine grobe Ähnlichkeit mit Frank Lloyd Wright), der seinem eigenen
individuellen Stil folgt und den Geschmack der Massen verachtete.
Als sein Bauplan eines Hausprojektes von den Bauleuten verändert
wurde, sprengte er das Haus in die Luft und verteidigte seine
Aktionen vor Gericht mit einer bewegenden Rede zur Verteidigung des
Individualismus.
( Ehrlich gesagt, habe ich oft davon geträumt,
dasselbe mit gewissen Gebäuden in Tel Aviv zu tun, besonders mit
den Luxus-Hotels, die zwischen meiner Wohnung und dem Meer gebaut
wurden.)
Ich begann ihren zweiten Bestseller „Atlas
Shrugged“ („Atlas wirft die Welt ab“) zu lesen, in dem sie ihre
Philosophie im Detail ausbreitet. Aber ich muss zu meiner ewigen
Schande eingestehen, ich hab es nie beendet. Es langweilte mich.
EINES TAGES im Jahr 1974 rief mich mein Freund Dan
Ben-Amotz an und bat mich, dass ich gleich ein junges Genie kennen
lernen sollte, Dr Moshe Kroy.
Ben-Amotz war ein besonderer Charakter. Ein Mann in
meinem Alter war er in jener Zeit Israels auffälligster Humorist,
eine Ikone der Generation, die im 1948er-Krieg gekämpft hat und die
neue hebräische Kultur schuf. Ben-Amotz, war nicht nur – wie viele
von uns – ein Selfmademan, sondern auch einer, der sich selbst
erfand. Er war bekannt als der perfekte Sabra (im Lande Geborener).
Viel später sickerte durch, dass er tatsächlich in Polen geboren war
und als Junge nach Palästina kam und den sehr hebräisch klingenden
Namen annahm anstelle seines ursprünglichen Namens Moshe
Teheillimseiger ( Psalmenrezitator auf Jiddisch).
Ben-Amotz brachte Dr.Kroy in meine Wohnung und ich
war beeindruckt. Er war ein ungewöhnlich gebildeter 24-Jähriger, der
bereits Dozent an der Tel Aviver Universität war, mit dicken
Brillengläsern und mit besonderen philosophischen Ansichten.
Es stellte sich heraus, dass er ein fanatischer
Anhänger der Lehren von Ayn Rand war, die sie „Objektivismus“
nannte. Diese behaupteten, dass Egoismus die elementare Pflicht des
Menschen sei. Jede Art von sozialem Engagement sei eine Sünde gegen
die Natur. Nur wenn man seinen eigenen Interessen dient und sich
selbst von jeder Spur des Altruismus reinigt, kann eine Person sie
selbst sein. Die Gesellschaft kann im Großen und Ganzen nur dann
fortschrittlich sein, wenn sie sich auf solche Individuen gründet,
in der jeder ( oder jede) nur zum eigenen Nutzen kämpft.
Solch eine Einstellung kann ungeheuer attraktiv für
eine gewisse Art von Individuen sein. Sie liefert ihnen eine
philosophische Rechtfertigung für die extreme Ausübung von Egoismus,
der sich den Teufel um die anderen schert.
Kroy und natürlich Ben-Amotz waren diesem neuen
Glauben mit religiöser Inbrunst ergeben. (Dies ist natürlich ein
Oxymoron, da Ayn Rand total ungläubig war und jede Form von
Religion, einschließlich der jüdischen Religion ihrer Eltern
verurteilte.) Als ich Ben-Amotz dabei erwischte, wie er etwas tat,
das man als Wohltat gegenüber anderen bezeichnen könnte,
rechtfertigte er sich lang und breit, dass es auf die Dauer etwas
sei, was letztlich ihm selbst zugute käme.
Kroy selbst war offensichtlich ein psychisch sehr
gestörtes Wesen. Im Alter von 41 beging er Selbstmord. Ich war nicht
sicher, ob Ayn Rand seine Sinne durch einander brachte oder ob er
von ihr angezogen wurde, weil er sowieso geistig verwirrt war.
AYN RAND wurde als Alisa Zinovyevna Rosenbaum in
Sankt Petersburg geboren, das später Petrograd und noch später
Leningrad wurde. Sie war 12 Jahre alt, als die bolschewistische
Revolution in jener Stadt ausbrach. Die Apotheke ihrer Eltern wurde
vom Regime übernommen und die bürgerliche Familie floh auf die Krim,
die vom weißrussischen Militär besetzt war. Später kehrte sie in
ihre Heimatstadt zurück, wo Alisa Philosophie studierte und sogar
ein Buch auf Russisch veröffentlichte. 1926 kam sie in den USA an,
musste aber ihre Eltern zurücklassen
Sie nahm den Namen Ayn an. (Sie witzelte, dass es
sich auch auf „Schwein“ reime.) Wahrscheinlich nahm sie das Wort aus
dem Hebräischen, wo es „Auge“ bedeutet, obwohl es auch der Name
eines finnischen Schriftstellers sein kann. Der Nachname „Rand“ mag
eine Zusammenziehung ihres ursprünglich deutsch-jüdischen
Familiennamens sein.
Ihre frühe Geschichte mag in gewisser Hinsicht ihren
anhaltenden Hass auf den Kommunismus und jede Art von Kollektivismus
erklären, einschließlich der sozialen Demokratie, als auch jede
Anbetung des Staates. Für sie war der Staat der Feind des freien
Individuums. Dies führte sie natürlich dahin, einen hemmungslosen
Laissez-faire-Kapitalismus anzunehmen (der von Shimon Peres
„schweinischer Kapitalismus“ genannt wird) und jede Form eines
Wohlfahrtsstaates oder Sicherheitsnetzes zurückzuweisen.
All dies wurde in ihrer Philosophie deutlich, die von
Anhängern in aller Welt angenommen wurde. Sie nannte sich einmal
selbst „der kreativste lebende Denker“. Bei einer anderen
Gelegenheit behauptete sie, dass es in allen Annalen der Philosophie
nur drei große Denker gab und alle fangen mit A an: Aristoteles,
Aquinas ( Thomas von Aquin) und Ayn Rand.
Sie muss auch eine Rassistin gewesen sein: während
des Yom-Kippur-Krieges 1973 sagte sie, es handelte sich um
„zivilisierte Menschen, die gegen Wilde kämpften“ und verglich die
Israelis mit den weißen Amerikanern, die gegen die Indianer
kämpften.
Kein Wunder, dass sie posthum der Liebling der
Tea-Party-Fanatiker wurde, die nun die republikanische Partei in den
USA dominieren. Und kein Wunder, dass Paul Ryan sie stolz als eine
seiner bedeutendsten Mentoren zitiert (Ayn Rand selbst starb 1982
im Alter von 77 Jahren.)
Es muss etwas in der Lehre dieser weißrussischen
Predigerin des extremen Egoismus’ liegen, die den primitiven
amerikanischen Mythen des rauen Individualismus’, mit
Wildwest-Selbstvertrauen immer ein Revolver mit sich tragend, des
herrschaft-hungrigen Staates verdächtig (was auf King George III.
zurückgeht) zusagt. Aber wir sind ja nicht mehr im 18.Jahrhundert!
ICH STUDIERTE nie Philosophie, auch wenn ich auf
meinem Lebensweg hier und da ein paar Dutzend Bücher darüber
auflas. Aber Ayn Rands Theorien kamen mir immer etwas juvenil vor.
In meinem Gedächtnis gibt es ein Bild: der
verstorbene israelische Schriftsteller Pinchas Sadeh beschrieb
einmal, wie er als Heranwachsender in der Bibliothek seines Kibbuzes
auf eine Leiter geklettert war, ein Buch von Nietzsche nahm und dort
auf der obersten Sprosse mehrere Stunden stand und mit dem Lesen
nicht aufhören konnte. Ich vermute, es war „So sprach Zarathustra“,
ein gefährliches Buch für junge Leute. Es hatte auch eine große
Wirkung auf Ain Rand in ihren jungen Jahren.
Nietzsche geißelt die „jüdische Mitleidmoral“, die
die reizenden „blonden Biester“ infizierte. Mitleid für die
Schwachen sei eine Sünde, weil es die Fähigkeiten der Starken
abstumpft, und zwar von jenen, die auf dem Weg sind, Supermänner zu
werden. Welche junge Person sieht sich nicht selbst als potentiellen
Supermann (oder ich vermute Superfrau)?
Als Dan Ben-Amotz mich vom „rationalen Egoismus“ der
Ayn Rand zu überzeugen versuchte, entgegnete ich mit einem einfachen
Argument: als ich 1948 verwundet wurde und vollkommen dem
feindlichen Feuer ausgesetzt war, kamen vier Soldaten meines Zugs,
retteten mich und riskierten dabei ihr Leben. Ihr Egoismus müsste
ihnen gesagt haben, dass dies zu tun, eine extrem dumme Sache sei.
Ihren kostbarsten Besitz zu riskieren – ihr eigenes Leben – für ein
anderes Lebewesen, war nach Ayn Rand unentschuldbar. Sie konnten
dabei nichts gewinnen. Sie konnten nur alles verlieren.
Ich habe in meinem Leben unzählige große und kleine
Handlungen von Altruismus gesehen.
In der Tat was ist Liebe, wirkliche Liebe außer
einer reinen Form von Altruismus?
Sicher, jede Person ist bis zu einem gewissen Grad
Egoist. Aber jede Person ist auch bis zu einem gewissen Grad ein
Altruist. Menschliche Wesen sind soziale Wesen, ihre sozialen
Instinkte sind tief in ihrer Natur eingebettet. Ohne sie könnte die
menschliche Gesellschaft nicht funktionieren.
AUCH ICH war in meiner Jugend von Nietzsche
gefesselt. Aber die jüdische Mitleidsmoral siegte. Deshalb bin ich,
wie viele Israelis, nicht in der Lage, die amerikanische soziale
Einstellung zu verstehen, wie sie jetzt wieder in der gegenwärtigen
Wahlkampagne präsent ist.
Für uns ist es selbstverständlich, dass der Staat
eine Pflicht hat, den Kranken, den Alten, den Kindern, den
Behinderten und den Benachteiligten zu helfen. Ein altes Sprichwort
heißt : „Ganz Israel - alle Juden - sind für einander
verantwortlich.“ Lange bevor der Staat Israel geboren wurde, hatten
wir ein starkes System der Krankenversicherung und Sozialhilfe. Die
Sozialversicherung, die in Deutschland vom rechten Politiker Otto
von Bismarck in Nietzsches Zeit eingerichtet wurde, war für uns
Israelis selbstverständlich.
Benjamin Netanjahu ist ein Republikaner im
amerikanischen Stil, ein starker Unterstützer von Mitt Romney. Er
hat dem israelischen Sozialnetz unermesslichen Schaden zugefügt, als
Finanzminister und als Ministerpräsident. Aber nicht einmal er würde
als Anhänger von Ayn Rand Reklame für sie machen. Er hat jedoch
eines mit Paul Ryan gemeinsam: beide werden von Sheldon Adelson
weiter gestoßen und finanziert.
Ich kann mir keine reinere Personifizierung von Ayn
Rands Vision als diesen Casino-Multimilliardär vorstellen. Sie hätte
ihn angebetet . Er ist der perfekte Egoist. Er ist superreich
geworden, indem er die bedauernswerte Spielsucht der schwachen
Menschen ausgenützt hat. Seine Geschäftspraktiken sind fragwürdig.
Doch sogar hier gibt es einigen Zweifel : spendet Adelson Hunderte
von Millionen an Leute wie Romney, Ryan und Netanjahu nur, um seine
Geschäftsinteressen zu fördern? Oder entdecken wir sogar hier eine
Spur von Altruismus, einen Wunsch, um seine nationalen und sozialen
Visionen zu erfüllen, so unangenehm sie auch sein mögen?
DA AYN RAND eine extreme Atheistin war und alles, was
nicht rein rational war, verabscheute, während die Tea-Party streng
religiös ist (egal welche Religion), ist Ryan jetzt gezwungen, sich
selbst von seiner Mentorin zu distanzieren, die auch eine militante
Befürworterin von Abtreibung war.
Tatsächlich glaube ich weder an die intellektuelle
Fähigkeit noch an die politische Aufrichtigkeit des Mannes. Er sieht
für mich fast wie ein Scharlatan aus. Ich bin mir nicht sicher, ob
Ayn Rand ihn gern gehabt hätte. Aber wenn Gary Cooper ihn spielen
könnte, sähe er wahrscheinlich überzeugender aus.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser
autorisiert)