Schlussbilanz
Uri Avnery, 4.10.08
IM
UMGANGSSPRACHLICHEN israelischen Hebräisch sagen wir, wenn jemand
etwas entdeckt, was schon alle kennen: „Guten Morgen, Elijahu!“
Warum Elijahu? Das weiß ich nicht. Jetzt könnte man sagen: „Guten
Morgen, Ehud!“
Das sagte ich mir, als ich das sensationelle Interview las, das Ehud
Olmert in dieser Woche, am Vorabend zum jüdischen Neujahrsfest, der
Tageszeitung „Yediot Aharanot“ gab.
AM
ENDE seiner politischen Karriere, nachdem er vom
Ministerpräsidentenposten zurückgetreten war, während Zipi Livni
dabei ist, eine neue Regierung zu bilden, sagte er erstaunliche
Dinge – nicht an sich erstaunlich – aber deshalb sicher
erstaunlich, weil sie aus seinem Munde kamen.
Für diejenigen, die es nicht mitbekommen haben, hier noch einmal,
was er sagte:
0
„Wir müssen mit den Palästinensern ein Abkommen erreichen, was
bedeutet, dass wir uns tatsächlich aus fast allen (besetzten)
Gebieten zurückziehen. Wir werden einen Prozentsatz von diesen
Gebieten behalten, aber wir werden genötigt sein, den
Palästinensern einen ähnlich großen Prozentsatz an Land zu geben –
denn ohne dies wird es keinen Frieden geben.“
0
„ …einschließlich Jerusalem. Mit speziellen Lösungen für den
Tempelberg und die historischen heiligen Stätten, wie ich sie mir
vorstellen kann …jeder , der das ganze Stadtgebiet behalten will,
muss innerhalb des Herrschaftsgebietes von Israel 270 000 Araber
hinter Sicherheitszäunen halten. Das funktioniert nicht.“
0
„ Ich war der erste, der die israelische Herrschaft über die ganze
Stadt haben wollte …Ich gebe zu …ich war nicht bereit, dies bis
in alle Tiefen der Realität zu sehen.“
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„Was Syrien betrifft, so brauchen wir vor allem eine Entscheidung.
Ich frage mich, ob es eine einzige ernsthafte Person in Israel
gibt, die glaubt, es sei möglich, mit Syrien Frieden zu schließen,
ohne am Ende die Golanhöhen zurückzugeben?“
0
„ Das Ziel ist, das erste Mal eine genaue Grenze zwischen uns und
den Palästinensern zu ziehen, eine Grenze, (die die Welt anerkennen
wird).“
0
„Nehmen wir einmal an, dass im nächsten oder übernächsten Jahr ein
regionaler Krieg ausbrechen wird und wir mit Syrien eine
militärische Konfrontation haben werden. Ich hege keinen Zweifel
daran, das wir sie zusammenschlagen werden. Aber was wird geschehen,
wenn wir siegen? …Warum mit den Syrern einen Krieg beginnen, um das
zu erreichen, was wir auf jeden Fall auch ohne diesen hohen Preis
erreichen können?“
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„Worin lag die Größe Menachem Begins? Er sandte Dayan nach Marokko,
um (Sadats Emissär) Tohami dort zu treffen, bevor er sich mit
Sadat traf … und Dayan sagte zu Tohami im Auftrag von Begin, ‚wir
sind bereit, uns aus dem ganzen Sinai zurückzuziehen’.“
0
„Arik Sharon, Bibi Netanayahu, Ehud Barak und Rabin – sein Andenken
möge gesegnet sein – jeder von ihnen tat einen Schritt in die
richtige Richtung, aber zu einem gewissen Zeitpunkt, an einem
Scheideweg, wenn eine Entscheidung zu treffen gewesen wäre, wurde
sie nicht getroffen.“
0
„Vor ein paar Tagen nahm ich an einer Diskussion mit den wichtigsten
Leuten teil, die sich am Entscheidungsprozess beteiligen. Zum
Schluss sagte ich zu ihnen: Wenn ich Ihnen so zuhöre, verstehe ich,
warum wir mit den Palästinensern und den Syrern während der letzten
40 Jahre keinen Frieden gemacht haben.“
0
„Wir könnten einen historischen Schritt mit den Palästinensern
machen und auch einen historischen Schritt bei unseren Beziehungen
mit den Syrern. In beiden Fällen wäre es eine Entscheidung, die wir
mit offenen Augen seit 40 Jahren verweigert haben.
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„Wenn man auf diesem Stuhl hier sitzt, muss man sich fragen: Welches
Ziel hat man? Frieden zu machen oder nur immer stärker und stärker
und stärker zu werden, um den Krieg zu gewinnen. …Unsere Macht ist
groß genug, um jeder Gefahr zu begegnen. Nun müssen wir versuchen,
wie wir diese Infrastruktur der Macht anwenden, um Frieden zu machen
und nicht um Kriege zu gewinnen.“
0
„ Der Iran ist eine sehr große Macht …die Annahme, dass Amerika,
Russland, China, Britannien und Deutschland nicht wissen, wie man
mit den Iranern umgehen soll, und wir Israelis es wissen und es tun
werden, ist ein Beispiel für den Verlust jeglicher Proportion.“
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„Ich lese die Statements unserer Ex-Generäle und sage: wie kann es
nur sein, dass sie nichts gelernt und nichts vergessen haben?“
DIE ERSTE Reaktion war, wie ich schon sagte: Guten Morgen, Ehud.
Ich erinnerte mich an meinen verstorbenen Freund, den Dichter, der
unter dem Namen Yebi bekannt war. Vor etwa 32 Jahren, nachdem ein
halbes Dutzend arabischer Israelis getötet worden waren, als sie
gegen die Enteignung ihrer Ländereien demonstrierten, kam er sehr
aufgeregt zu mir und rief: ‚Wir müssen etwas tun’. Also entschieden
wir uns, Kränze auf die Gräber der Getöteten zu legen. Wir waren zu
dritt: Yebi, ich und der Maler Dan Kedar, der letzte Woche starb.
Allein diese Geste weckte einen Sturm des Hasses gegen uns, derart,
wie ich es bis dahin und auch später nicht erlebt hatte.
Wenn seitdem in Israel jemand etwas zu Gunsten des Friedens sagte,
platzte er heraus: „Wo war er, als wir Kränze auf die Gräber
legten?“
Das ist eine normale Frage, aber wirklich völlig irrelevant. Olmert,
der sein Leben lang gegen unsere Positionen kämpfte, nimmt sie
jetzt anscheinend an. Das ist die Hauptsache Es sollte also nicht
„Guten Morgen, Ehud“, sondern „Willkommen, Ehud!“ heißen.
Es
stimmt schon, wir haben diese Dinge bereits vor 40 Jahren gesagt.
Aber keiner von uns war amtierender Ministerpräsident.
Diese Dinge waren zwar schon gesagt und in Einzelheiten von vielen
guten Leuten buchstabiert worden, wie von jenen, die den Gush
Shalom-Entwurf für einen Friedensvertrag zusammenstellten oder das
Nusseibeh-Ayalon-Dokument oder die Genfer Initiative. Aber keiner
von ihnen war ein amtierender Ministerpräsident.
Und das ist das Wichtigste.
ES
SOLLTE nicht vergessen werden: in der Periode, in der sich in
Olmerts Kopf diese Gedanken bildeten, erlaubte er den Siedlungen,
sich auszudehnen, besonders in Ost-Jerusalem.
Das lässt eine unausweichliche Frage hochkommen: meint er denn
wirklich, was er sagt? Täuscht er nicht, wie er es zu tun pflegt?
Ist es nicht wieder eine Manipulation ?
Dieses Mal neige ich dazu, ihm zu glauben. Man kann sagen, die Worte
klingen ehrlich. Nicht nur die Worte selbst sind wichtig, sondern
auch der Ton, in dem er sie sagt. Die ganze Sache klingt wie das
politische Testament einer Person, die sich mit dem Ende ihrer
politischen Karriere abgefunden hat. Diese Worte haben einen
philosophischen Klang. Es ist die Beichte einer Person, die
zweieinhalb Jahre im höchsten Amt als Entscheidungsträger des Landes
saß, die die Lektionen aufgenommen und Schlussfolgerungen gezogen
hat.
Man könnte fragen: Warum kommen solche Leute erst am Ende ihrer
Amtszeit zu ihren Schlussfolgerungen, wenn sie nicht mehr in der
Lage sind, die klugen Dinge zu realisieren, die sie vorschlagen?
Warum formulierte Bill Clinton seinen Vorschlag für einen
israelisch-palästinensischen Frieden während seiner letzten Tage im
Amt, nachdem er acht Jahre unverantwortlich in dieser
israelisch-palästinensischen Arena gespielt hat? Und warum gestand
Lyndon Johnson, dass der Vietnamkrieg von Anfang an ein
schrecklicher Fehler war, nachdem er selbst den Tod von Tausenden
von Amerikanern und Millionen von Vietnamesen zu verantworten
hatte?
Eine oberflächliche Antwort liegt im Wesen des politischen Lebens.
Ein Ministerpräsident hastet von Problem zu Problem, von Krise zu
Krise. Er ist Versuchungen und Druck von außen und dem Stress von
innen ausgesetzt, auch von Koalitionsstreitereien und
innerparteilichen Intrigen. Er hat weder die Zeit noch die
Distanz, um Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die zwei ein halb Jahre von Olmerts Amtszeit waren voller Krisen,
vom 2. Libanonkrieg, für den er verantwortlich war, bis zu den
Korruptionsermittlungen, die ihn überallhin verfolgten. Erst jetzt
hatte er die Zeit und vielleicht die philosophische Einstellung, um
Schlussfolgerungen zu ziehen.
Das ist die Bedeutung dieses Interviews: der Sprecher ist eine
Person, die zweieinhalb Jahre im Zentrum nationaler und
internationaler Entscheidungsfindung stand, eine Person, die Druck
und Berechnungen ausgesetzt war, eine Person, die persönliche
Kontakte mit den Führern der Welt und den Palästinensern hatte. Eine
normale Person, nicht brillant, kein tiefsinniger Denker, ein Mann
der politischen Praxis, der die Dinge wohl „von dort sah, die man
aber nicht von hier sehen kann.“
Er
hat der Öffentlichkeit eine Art Bericht zur Lage der Nation
geliefert, ein Resümée der Realität Israels nach 60 Jahren seiner
Existenz und nach 120 Jahren der zionistischen Unternehmungen.
MAN KÖNNTE auf die riesigen Lücken bei dieser Schlussbilanz
hinweisen: keine Kritik der zionistischen Politik der letzten fünf
Generationen – aber das ist etwas, das man wirklich nicht von ihm
erwarten kann. Da gibt es auch keine Empathie mit den Gefühlen, den
Hoffnungen und Traumata des palästinensischen Volkes, keine
Erwähnung des Flüchtlingsproblems (es ist bekannt, dass er bereit
ist, nur gerade ein paar Tausend im Rahmen von „Familienvereinigung“
wieder aufzunehmen). Es gibt auch kein Schuldeingeständnis für die
verheerende Vergrößerung der Siedlungen. Diese Liste könnte noch
lange fortgesetzt werden.
Die primitive Basis seiner Weltsicht hat sich nicht verändert. Das
wurde durch das folgende verwunderliche Statement deutlich: „Jeder
kleinste Teil des Gebietes zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer,
den wir aufgeben werden, wird in unsern Herzen brennen … Wenn wir in
diesen Gebieten graben, was werden wir finden? Reden von Arafats
Großvater oder von Arafats Ur-Ur-Ur-Großvätern? Wir finden dort die
historischen Erinnerungen des Volkes Israel!“
Das ist natürlich vollkommener Unsinn. Das hat nichts mit
historischen und archäologischen Nachforschungen zu tun. Der Mann
wiederholt nur Ansichten, an denen er von früher Jugend an
festhält; er drückt sich rein gefühlsmäßig aus. Jeder, der an
dieser Ideologie klebt, dem wird es sehr schwer fallen, die
Siedlungen aufzulösen und Frieden zu machen.
Aber trotzdem – was steht nun in diesem Testament?
Es
ist ein unmissverständlicher und endgültiger Abschied von „Ganz Erez
Israel“ von einer Person, die in einem Zuhause aufgewachsen ist,
über dem das Irgun-Emblem wehte: die Karte von Erez Israel auf
beiden Seiten des Jordan. Für ihn hat sich der Irgun-Slogan „Nur
so!“ in ein „ Alles nur s o nicht!“ verwandelt.
Es unterstützt unmissverständlich die
Teilung des Landes. Dieses Mal hört sich sein Festhalten am Prinzip
von „Zwei Staaten für zwei Völker“ viel aufrichtiger an, nicht wie
ein Lippenbekenntnis oder wie ein Taschenspielertrick. Seine
Forderung, „die Grenzen des Staates Israel festzulegen“ ist im
zionistischen Denken wie eine Revolution.
Olmert hat schon in der Vergangenheit
gesagt, dass der Staat Israel „am Ende ist“, wenn er nicht einer
Teilung des Landes zustimmt – wegen der „demographischen Gefahr“.
Dieses Mal hat er diesen Dämon nicht heraufbeschworen. Jetzt
spricht er als Israeli, der über die Zukunft Israels als eines
fortschrittlichen, konstruktiven, friedlichen Staates denkt.
All dies ist nicht als Vision für die
ferne Zukunft vorgebracht worden, sondern als Plan für die
Gegenwart. Er fordert, dass jetzt eine Entscheidung getroffen wird.
Es klang fast wie ‚Lasst mich noch ein paar Monate weitermachen –
und ich werde dies tun’. Die unausgesprochene Voraussetzung ist,
dass die Palästinenser für diesen historischen Wendepunkt bereit
sind.
Und er hat eine israelische Position
festgelegt, die in keiner zukünftigen Verhandlung rückgängig gemacht
werden kann.
DIES IST das Testament des
Ministerpräsidenten, und es ist offensichtlich für den nächsten
Ministerpräsidenten gedacht.
Wir wissen nicht, ob Zipi Livni bereit
ist, solch einen Plan zu erfüllen, oder was sie über dieses
Testament denkt. Sie hat zwar vor kurzem ähnliche Ideen geäußert,
aber jetzt betritt sie den Hexenkessel des
Ministerpräsidentenamts. Man kann nicht wissen, was sie tun wird.
Ich wünsche ihr nur eines: dass sie am
Ende ihrer Tage als Ministerpräsidentin sich nicht für ein Interview
hinsetzen muss, in dem sie sich dann dafür entschuldigen muss, die
historische Gelegenheit, Frieden zu machen, versäumt zu haben.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und
Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)
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