Die Dritte Intifada
Uri Avnery, 2.März 2013
IST DIES die Dritte
Intifada? Diese Frage wurde in dieser Woche von einer Anzahl
israelischer Sicherheitsexperten gestellt. Und nicht nur von ihnen –
ihre palästinensischen Kollegen waren fast genauso perplex.
Überall in der
Westbank warfen palästinensische Jugendliche Steine auf israelische
Soldaten. Alle 3500 Palästinenser in israelischen Gefängnissen
nahmen teil an einem dreitägigen Hungerstreik.
Der unmittelbare
Grund war der Tod eines 30jährigen Palästinensers während des
Verhörs durch den Shin Bet. Es war kein Herzinfarkt, wie zunächst
(und automatisch) von israelischen Verantwortlichen und ihren
Handlangern, den sog. "militärischen Korrespondenten“, behauptet
wurde. War es also Folter, wie praktisch alle Palästinenser
glauben?
Dann gab es noch
vier Gefangene im Hunger-Streik, der schon mehr als 150 Tage
dauert, und der durch Infusionen gemildert wird. Da fast jede
palästinensische Familie jetzt - oder in der Vergangenheit –
mindestens ein Mitglied im Gefängnis hat oder hatte, bewirkt dies
viel Aufregung.
Ist dies also eine
Intifada?
DIE UNGEWISSHEIT der
Sicherheitsleute hängt mit der Tatsache zusammen, dass beide
Intifadas – die erste und die zweite - unerwartet ausbrachen. Die
israelische und die palästinensische Führung wurden überrascht.
Die israelische
Überraschung war besonders …. überraschend. Die Westbank und der
Gazastreifen waren und sind noch immer voll Informanten des Shin
Bet. Jahrzehnte von Besatzung haben es dem Sicherheitsdienst
ermöglicht, Tausende von ihnen durch Bestechung und Erpressung zu
rekrutieren. Wieso wussten sie denn nichts?
Die palästinensische
Führung – damals in Tunis – hatte auch keine Ahnung. Yassir Arafat
brauchte ein paar Tage, bis ihm klar wurde, was geschehen war, und
lobte die „Kinder der Steine“.
Der Grund für die
Überraschung war, beide Intifadas begannen völlig spontan. Keiner
plante sie. Deshalb konnte kein Informant warnen.
Der Auslöser der
ersten war ein Straßenunfall. Im Dezember 1987 tötete ein
israelischer LKW-Fahrer mehrere palästinensische Arbeiter im
Gazastreifen. Die Hölle brach los. Die zweite war 2000 nach der
fehlgeschlagenen Camp David-Konferenz durch eine bewusste
israelische Provokation verursacht worden.
Die israelische Armee
war völlig unvorbereitet für die Erste Intifada. Der damalige
Verteidigungsminister Yitzhak Rabin rief bekanntlich zum „Knochen
brechen“ auf, was einige Kommandeure wörtlich nahmen und
gewissenhaft ausführten. Eine Menge Arme und Beine wurden mit
Gewehrkolben gebrochen.
Auch wenn die Zweite
Intifada ebenso unerwartet kam, war die Armee dieses Mal für jeden
Fall vorbereitet. Die Soldaten wurden im Voraus trainiert. Dieses
Mal wurden keine Knochen gebrochen. Stattdessen stellten sich
Scharfschützen neben die Abteilungs-Kommandeure. Wenn eine
gewaltlose Demonstration sich näherte, zeigte der Offizier auf den
Anführer und der Scharfschütze erschoss ihn. Sehr bald wurde der
gewaltlose Aufstand zu einem sehr gewalttätigen.
Ich weiß nicht, was
die Armee für eine dritte Intifada plant. Aber eines ist sicher:
selbst wenn sie als gewaltfreier Massenprotest beginnt, wird es
nicht lange so bleiben.
VOR ZWEI Wochen
zeigte der israelische Fernsehkanal 10 eine Dokumentation über Ariel
Sharons Manipulation der Zweiten Intifada.
Es begann damit, dass
Ministerpräsident Ehud Barak dem Oppositionschef Sharon erlaubte,
den Tempelberg zu besuchen und zwar, begleitet von Hunderten von
Polizisten. Da Sharon ein Schweinefleisch essender Atheist war, lag
dem Besuch kein religiöses Motiv zu Grunde. Es war reine
Provokation.
Als Sharon sich der
Al-Aqsa-Moschee näherte, wurde er mit Steinen „begrüßt. Die Polizei
tötete die Steinewerfer mit scharfer Munition, und siehe da, die
Zweite Intifada war auf dem Weg.
Arafat - weit weg in
Tunis - hatte nichts damit zu tun. Aber nachdem die Intifada
angefangen hatte, begrüßte er sie. Die lokale Fatah übernahm das
Kommando.
Bald danach kam
Sharon an die Macht. Er tat alles Mögliche, um die Feuer zu schüren.
In dem Dokumentarfilm wurden seine nächsten Mitarbeiter lang und
breit interviewt. Sie enthüllten die Tatsache, dass er dies ganz
bewusst tat.
Sein Ziel war, einen
allgemeinen Aufstand zu verursachen, um ihm einen legitimen Grund zu
geben, die Westbank wieder zu erobern, nachdem die Oslo-Abkommen
Teile davon der Palästinensischen Behörde übergeben hatten. Und
tatsächlich lieferten eine große Anzahl von Selbstmordattentaten und
anderer Gräueltaten die nötige nationale und internationale
Rechtfertigung für die Operation „Defensive Shield“, bei der
israelische Truppen alle Westbankstädte wieder besetzten und
weithin Tod und Zerstörung verursachten. Besonders die Ämter der
palästinensischen Behörde wurden systematisch zerstört,
einschließlich des Bildungsministeriums, und das für Soziale
Dienste. Arafat wurde in der Mukata’ah („Komplex“) eingekreist,
isoliert und jahrelang als Gefangener gehalten, bis zu seiner
Ermordung.
In dem Film gaben die
Berater bereitwillig zu, dass Sharon gar nicht daran dachte, eine
politische Initiative zu ergreifen, um die Intifada zu beenden –
sein einziges Ziel war, den palästinensischen Widerstand mit
brutaler Gewalt zu brechen. Während dieser Intifada wurden 4944
Palästinenser getötet und 1011 Israelis. (In der vorhergehenden
Intifada fanden 1593 Palästinenser und 84 Israelis den Tod. )
Die Israelis glauben,
Sharons brutale Methode sei ein großer Erfolg. Die Zweite Intifada
kam langsam zum Stillstand.
WIRD ES eine Dritte
Intifada geben? Wenn ja, wann? Hat sie schon begonnen, oder waren
die Ereignisse der letzten Zeit nur eine Art Generalprobe?
Keiner weiß es, am
wenigsten unsere Sicherheitskräfte. Es gibt keine verlässliche
Information von den Agenten. Wieder ist alles spontan.
Eines ist sicher:
Mahmoud Abbas, Arafats Nachfolger, hat große Angst davor. Er wartete
ein paar Tage, und dann, als er sich sicher war, dass dies kein
allgemeiner Aufstand war, befahl er, seinen amerikanisch trainierten
Polizeikräften zu intervenieren und so den Demonstrationen ein Ende
zu bereiten.
Er verurteilte sogar
die Aufstände und klagte Benjamin Netanjahu an, er habe sie
absichtlich geschürt.
Einer der Gründe für
diesen Verdacht war, dass am Freitag die israelische Polizei junge
Palästinenser nicht daran hinderte, den Tempelberg („Haram al-Sharif“)
zu erreichen, wie sie es häufig tun, wenn der leiseste Verdacht für
eine bevorstehende Unruhe besteht.
Ich stellte die Frage
in einem Kreis von Freunden: Nehmen wir einen Augenblick an, dass
Abbas recht hatte, was könnte Netanjahus Motiv gewesen sein?
Einer antwortete: Er
ist besorgt darüber, dass Barack Obama bei seinem bevorstehenden
Besuch in Jerusalem die Wiederaufnahme des „Friedensprozesses“
fordern könnte. Netanjahu wird ihm sagen, dies sei mit der Aussicht
auf eine neue Intifada unmöglich.
Ein anderer sagte:
Netanjahu wird dem Präsidenten sagen, Abbas habe seine Autorität
verloren und deshalb kein brauchbarer Partner sei.
Und ein dritter:
Netanjahu wird der israelischen Öffentlichkeit sagen, wir ständen
vor einer Notlage und es müsste sofort eine Regierung der nationalen
Einheit errichtet werden. Alle zionistischen Parteien müssten von
ihren Wählern dahin gebracht werden, sich zu vereinen. u.s.w.
SEI ES, wie es sei,
die relevante Frage ist, ob ein spontaner Ausbruch in Sicht ist.
Offen gesagt, ich
weiß es nicht. Ich zweifle, ob es jemand anders weiß.
Das
Nicht-Vorhandensein einer echten Friedensinitiative macht an einem
gewissen Punkt eine weitere Intifada wahrscheinlich. Wie lange kann
die harte Besatzung ohne eine ernste Herausforderung andauern?
Andrerseits scheint
es nicht so, als ob die große Masse des palästinensischen Volkes
psychisch auf einen Kampf vorbereitet wäre. In den besetzten
Gebieten der Westbank hat sich eine neue Bourgeoisie hoch
gearbeitet, die eine Menge zu verlieren hat. Unter der
Schirmherrschaft der US ist es dem palästinensischen
Ministerpräsident Salam Fayad gelungen, eine Wirtschaftsblüte ins
Leben zu rufen, von der viele profitieren.
Die Aussicht auf
noch eine Runde Gewalt sagt diesen Leuten nicht zu, noch zieht es
arme Leute an, die mit dem täglichen Überlebenskampf schon voll
beschäftigt sind. Um diese Menschen zu einem Aufstand zu bringen,
ist ein extrem provokatives Ereignis nötig. Dies kann schon morgen
früh geschehen oder innerhalb Wochen oder Monaten – oder überhaupt
nicht.
Abbas klagt Hamas an,
die Unruhe in der Westbank zu schüren, die von der Fatah beherrscht
wird, während Hamas selbst gleichzeitig die Feuerpause in seinem
eigenen Herrschaftsbereich, dem Gazastreifen, einhält. Tatsächlich
sind beide Regime – jedes in seinem Bereich Palästinas – an Ruhe
interessiert, während sie einander der Kollaboration mit der
Besatzung bezichtigen.
(Vor 150 Jahren
denunzierte Karl Marx die Bemühungen seines sozialistischen Gegners
Ferdinand Lassalle, eine Arbeiter-Kooperative aufzubauen. Marx
behauptete, wenn die Arbeiter etwas zu verlieren haben, werden sie
keine Revolution mehr machen. Wenn man eine Revolution will, „dann
je schlimmer die Situation umso besser“, soll Lenin gesagt haben).
JE MEHR Leute auf
beiden Seiten über die dritte Intifada reden, umso
unwahrscheinlicher ist es, dass sie geschieht. Wie die Deutschen zu
sagen pflegten: Vorausgesagte Revolutionen ereignen sich nicht.
Aber wenn kein Ende
der Besatzung abzusehen ist, wird eines Tages die Dritte Intifada
ausbrechen, ganz plötzlich, wenn keiner darüber geredet hat, wenn
jeder auf beiden Seiten an ganz andere Dinge denkt.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)