„Rund um uns wütet der Sturm…“
Uri Avnery, 13. April 13
„RUND UM uns wütet der Sturm/ Aber unser Haupt wird
sich nicht beugen…“ sangen wir, als wir jung waren, bevor der Staat
Israel geboren wurde.
Am Vorabend von Israels 65.Geburtstag am kommenden
Dienstag könnten wir dieses erhebende Lied wieder singen. Und nicht
nur aus nostalgischen Gründen.
Rund um uns toben viele Stürme. In Syrien reißt ein
schrecklicher Bürgerkrieg das Land auseinander. In Ägypten ist das
Land nach dem Sieg des Arabischen Frühlings noch immer im Aufruhr.
Der libanesische Staat ist immer noch unfähig, seine Autorität bei
bewaffneten Gruppierungen durchzusetzen, und dasselbe gilt für den
Irak. Der Iran ist eifrig damit beschäftigt, seine Atombombe zu
bauen, während er finstere Drohungen ausstößt.
Israel sieht sich selbst als Insel im stürmischen
Meer, von allen Seiten bedroht, jede Minute bereit, einem Tsunami
ausgesetzt zu sein.
ÜBER ALL diesem liegt etwas Ironisches.
Das zionistische Abenteuer begann mit dem
Versprechen, für die Juden nach Jahrhunderten der Hilflosigkeit eine
sichere Zufluchtsstätte zu schaffen.
Tatsächlich war dies – von aller ideologischen
Dekoration befreit – das zentrale Thema des Bemühens. Überall waren
Juden wehrlos und von der Gnade anderer abhängig. Hier im eigenen
Staat wären wir in der Lage - mit erhobenem Haupt. – uns selbst zu
verteidigen.
Mit andern Worten: eine Ewigkeit lang waren wir das
Objekt der Geschichte; jetzt haben wir unser Schicksal in die
eigenen Hände genommen, ein Schauspieler auf der Bühne der
Geschichte, eine Nation unter anderen Nationen.
Davor waren wir Juden eine Art ethnisch-religiöse
Entität. Mit dem Zionismus stellten sich die Juden – oder ein Teil
von ihnen – als eine moderne Nation dar, die sich gegen jeden Feind
selbst verteidigen kann.
In diesem Sinn war der Zionismus tatsächlich ein
voller Erfolg. Seine Schöpfung, der Staat Israel, ist jetzt stark
und sicher.
ODER ? WENN man vielen unserer Führer zuhört, scheint
das Gegenteil der Fall zu sein. Vor Jahren behauptete Professor
Jeshajahu Leibowitz, der bissige Kritiker des zionistischen
Establishments, Israel sei der einzige Ort in der Welt, wo das Leben
der Juden in tödlicher Gefahr sei. Wie sich herausstellte, hatte er
nicht ganz recht.
Vor ein paar Tagen – am Holocausttag – erklärte unser
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, wir würden von einem zweiten
Holocaust bedroht, der von einem nuklear bewaffneten Iran ausgeführt
werden könnte.
Am nächsten Tag erklärte eine Gruppe internationaler
Hacker, von pro-palästinensischen Gefühlen angeregt, einen
Cyber-Krieg gegen Israel. Sie versprachen, die Hauptinstitutionen
des Landes, die militärischen und die zivilen, die privaten und die
der Regierung, lahm zu legen. Wie sich herausstellte, ist der
Angriff elendiglich fehlgeschlagen. Es wurde kein bedeutsamer
Schaden angerichtet. Aber bevor dieses klar wurde, antwortete der
frühere Außenminister Avigdor Lieberman und verglich die Kampagne
mit dem Nazi-Holocaust.
Was ist das? Verfolgungswahn? Manipulationen? Ein
politischer Trick? All dies oder mehr?
IM ZEITRAUM von neun Tagen erlebt Israel drei
nationale Ereignisse. Jedes Mal heulen die Sirenen, offizielle
Feierlichkeiten und endlose Reden werden gehalten. Alle
Fernseh-Kanäle, das Radio und die gedruckten Medien widmen sich
vollkommen dem Thema des Tages.
Der letzte Montag war Holocausttag. Das ganze Land
gedachte des entsetzlichsten Kapitels der Geschichte. Um 10 Uhr,
beim Heulen der Sirenen, kam das ganze Land zum Stillstand. Die
Autos hielten mitten auf der Straße, Männer, Frauen und Kinder
stiegen aus und standen in Hab-acht-Stellung. Noch lebende
Überlebende – meistens über 80 – erzählten ihre schrecklichen
Geschichten, Zuhörer weinten.
In Yad Vashem hielt Netanjahu seine Standardrede –
Nie wieder … Wir werden nicht … die iranische Bombe … zweiter
Holocaust …
Morgen Abend wird der Gedenktag für die gefallenen
Soldaten sein. Das Land wird der vielen Tausende gedenken, die in
Israels zahlreichen Kriegen gefallen sind. Trauernde Eltern werden
Blumen auf die Gräber ihrer Lieben legen. Politiker werden Reden
halten über das Leben, das in heldenhafterweise für die Nation
gegeben wurde, damit ein zweiter Holocaust verhindert würde.
Der nächste Tag wird ein Tag der Freude sein. Ohne
Unterbrechung werden die Sirenen das Ende des Gedenktages ankündigen
und den Beginn des Unabhängigkeitstages. Reden über die Opfer der
Gefallenen werden abgelöst von Reden über den Ruhm und die
Errungenschaften des Staates, der sich wie ein Wunder aus der Asche
des Holocaust erhob. Im Mittelpunkt der Festlichkeiten steht die
israelische Armee, eine der stärksten und leistungsfähigsten in der
Welt.
Die Nähe dieser drei Daten ist nicht zufällig. Es ist
ein bewusster Versuch, Generationen von Israelis mit der Idee zu
durchdringen, dass Israel unter ständiger Bedrohung ist, wie die
jüdischen Gemeinden in Europa während Jahrhunderten und dass unsere
Armee der einzige Garant für unsere nationale und selbst die
individuelle Sicherheit ist.
Viele Leute sehen dies als Manipulation an – die es
tatsächlich ist. Unter Netanjahu erreicht dies neue Höhen bzw.
Tiefen. Die jüdische Opferrolle wird wie eine Flagge geschwenkt,
die unsere ganze Politik rechtfertigt: die Besatzung, die
Siedlungen, die Unterdrückung der Palästinenser, die Zurückweisung
eines Friedens, der sich praktisch auf die Zwei-Staatenlösung
gründet.
Es ist auch ein politischer Trick. Die ständige
Erinnerung an die existentiellen Gefahren – im Iran, in Syrien, in
Ägypten und sonst wo - sind dafür bestimmt, die Bevölkerung um die
Führung zu scharen. Bei der letzten Wahlkampagne präsentierte sich
Netanjahu selbst als ein „starker Führer für einen starken Staat“.
Macht nichts, dass er tatsächlich ein Schwächling ist, dafür
bekannt, sich unter ausländischem und internem Druck zu unterwerfen.
Panikmache ist seine wirksamste Waffe.
DOCH WÄRE es ein großer Fehler, israelische Ängste
als unecht abzutun, als wären sie künstlich erzeugt. Sie sind ganz
real.
Ausländer sind oft verwundert, wie Israelis im selben
Satz - buchstäblich im selben Atemzug -behaupten, „Israel ist eine
regionale Macht“, und wir werden nicht „wie Lämmer zur Schlachtbank
gehen“, wie Juden (von Israelis behauptet)im Holocaust gegangen
seien. Beides ist real. Beides lebt nebeneiander im Geist der
meisten Israelis.
Keiner, der während des Holocausttages in Israel
gewesen ist, kann den leichtesten Zweifel über den riesigen Einfluss
haben, den der Holocaust weiterhin auf uns ausübt. Die meisten von
uns (mich eingeschlossen) haben Verwandte, die in der Shoa
umgekommen sind. Das tiefe Gefühl für die Opferrolle, die Ängste und
Befürchtungen liegen tief in uns. Es ist fast unmöglich, sie in
wenigen Jahren zu überwinden.
DOCH MÜSSEN wir sie überwinden, weil sie keine
Beziehung zur jetzigen Realität haben und uns daran hindern, uns
rational zu verhalten.
Tatsache ist, dass Israel ein starker Staat ist und
dies so noch lange Zeit bleiben wird.
Wir haben ein sehr starkes und effizientes Militär,
mehr als ausreichend, um jeder voraussehbaren Bedrohung
entgegenzutreten. Der arabische Frühling hat wenigstens
vorübergehend mehrere militärische Bedrohungen beiseitegeschoben.
Das stimmt auch für die reale oder eingebildete nukleare Bedrohung
aus dem Iran. Kein iranischer Führer wird je die totale Zerstörung
seines Landes mit seiner Jahrtausende alten Zivilisation riskieren,
um uns Ärmste zu zerstören.
Aber ein starkes Militär ist nur eine Komponente von
Sicherheit. Es gibt noch viele andere.
In 65 Jahren haben wir eine solide und starke
Wirtschaft aufgebaut, die viel stabiler ist als viele größere und
stärkere ökonomische Mächte in aller Welt. Auf verschiedenen
Gebieten wie der High-Tech, den Naturwissenschaften, in der Medizin,
der Landwirtschaft und den Künsten gehören wir zu der ersten
Weltliga. Israels intime Beziehungen mit der Nummer-Eins-Weltmacht
scheinen für lange Zeit sicher zu sein und uns auf vielen Gebieten
riesige Vorteile zu bringen, selbst bei langsamem Rückgang der
US-Macht.
Die wiederbelebte hebräische Sprache ist dynamisch
und fest etabliert. Die israelische Demokratie, wenn auch unter
ständiger Bedrohung, scheint in der Lage zu sein, dem Angriff
widerstehen zu können. Wir können sicher stolz sein auf das, was
unsere Gesellschaft erreicht hat – praktisch aus dem Nichts.
Die einzigen wirklichen Gefahren, denen Israel
gegenübersteht, kommen von innen. Wahnsinnige Politik, die
fortgesetzte Besatzung, der ständige Krieg, das Vordringen der
fundamentalistischen Religion – dies sind die realen Ursachen, über
die man sich Sorgen machen muss.
ICH MACHE darauf aufmerksam, nicht um Triumphgefühle
zu schüren, sondern im Gegenteil.
In Israel ist es die Rechte, die bei Ängsten und
ständigen Erfindungen neuer Bedrohungen prächtig gedeiht, um sich
dem Frieden zu verweigern und das Gefühl „ die ganze Welt ist gegen
uns“ hochkommen zu lassen. Sie stellen unsern Staat wie ein noch
belagertes Ghetto dar, das einer ewigen Gefahr der Vernichtung
entgegensieht.
Das israelische Friedenslager muss entschlossen gegen
dieses Weltbild aufstehen. Israel ist stark und, weil es stark ist,
kann es auch Risiken auf sich nehmen und Frieden mit dem
palästinensischen Volk und der ganzen arabischen und muslimischen
Welt schließen.
Vor 65 Jahren, als wir eine Bevölkerung von kaum 650
000 waren, hatte meine Generation dieses Selbstvertrauen. Unsere
Häupter waren erhoben. Wir müssen dieses Selbstvertrauen jetzt
wieder entdecken.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)