Ein Lob auf die Emotion
Uri Avnery, 20.April 2013
ES WAR eine bewegende Erfahrung. Momente, die nicht
nur den Verstand berührten, sondern auch – und vor allem – das Herz.
Am letzten Sonntag, am Vorabend von Israels Gedenktag
für die Gefallenen unserer Kriege, war ich zu einer Veranstaltung
eingeladen, die von der Aktivistengruppe „Kämpfer für den Frieden“
und dem „Forum israelischer und palästinensischer trauernder Eltern“
organisiert wurde.
Die erste Überraschung war, dass sie überhaupt
stattfand. In der allgemeinen Atmosphäre der Entmutigung des
israelischen Friedenslagers nach den letzten Wahlen, als fast
niemand wagte, das Wort „Frieden“ in den Mund zu nehmen, ist solch
eine Veranstaltung ermutigend.
Die zweite Überraschung war ihre Größe. Sie fand
statt in einem der größten Hallen des Landes, in Halle 10 von Tel
Avivs Messegelände. Sie hat mehr als 2000 Sitze. Eine Viertelstunde
vor Beginn war die Teilnehmerzahl deprimierend dürftig. Eine halbe
Stunde später war sie propenvoll. (Wie viele Tugenden das
Friedenslager auch haben mag, Pünktlichkeit gehört nicht zu ihnen)
Die dritte Überraschung war die Zusammensetzung der
Zuhörer. Da waren ziemlich viele Weißhaarige, einschließlich meiner
selbst, aber die große Mehrheit war aus jungen Leuten zusammen
gesetzt, mindestens die Hälfte von ihnen junge Frauen, energisch,
sachlich, sehr israelisch.
Ich hatte das Gefühl, ich sei bei einem Staffellauf.
Meine Generation gibt den Stab an die nächste Generation weiter. Das
Rennen, der Staffellauf geht weiter.
ABER DAS Außerordentliche der Veranstaltung war
natürlich ihr Inhalt. Israelis und Palästinenser trauerten gemeinsam
um ihre toten Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern, Opfer des
Konfliktes und der Kriege, der Besatzung und des Widerstandes (bzw.
des Terrors).
Ein Araber aus einem Dorf sprach ruhig von seiner
Tochter, die auf ihrem Schulweg von einem Soldaten getötet wurde.
Eine jüdische Mutter sprach von ihrem Sohn, einem Soldaten, der in
einem der Kriege getötet wurde. Alle in gedämpften, ruhigen Ton.
Ohne Pathos. Einige sprachen Hebräisch, einige Arabisch.
Sie sprachen von ihrer ersten Reaktion nach dem
Verlust, von Hassgefühlen, von Rachedurst - und dann von dem
langsamen Wandel des Herzens. Die Erkenntnis, dass die Eltern auf
der andern Seite, dem Feind, genau so fühlten wie sie, dass der
Verlust, ihre Trauer, ihr Schmerz genau so waren wie die eigenen
Gefühle.
Seit Jahren treffen sich die trauernden Eltern von
beiden Seiten regelmäßig, um Trost in der Gemeinschaft zu finden.
Unter allen Friedensgruppen, die im israelisch-palästinensischen
Konflikt handeln, ist dies vielleicht die das Herz bewegendste
Gruppe.
ES WAR für die arabischen Teilnehmer gar nicht
leicht, zu diesem Treffen zu kommen. Zuerst wurde ihnen von der
Armee das Betreten Israels verweigert. Gabi Lasky, der unbeugsame
Anwalt vieler Friedensgruppen (einschließlich von Gush Shalom)
musste mit einem Antrag vor dem Obersten Gericht drohen, nur um eine
begrenzte Konzession zu bekommen: 45 Palästinensern aus der Westbank
wurde erlaubt, daran teilzunehmen.
(Es ist eine Routinemaßnahme der Besatzung: vor jedem
jüdischen Feiertag ist die Westbank komplett von Israel
abgeschnitten – außer für die Siedler natürlich. So werden die
meisten Palästinenser mit den jüdischen Feiertagen bekannt.)
Was bei dieser Veranstaltung so besonders war,
bestand darin, dass die israelisch-arabische Verbrüderung auf rein
menschlicher Ebene stattfand – ohne politische Reden, ohne die
Slogans, die - ehrlich gesagt - ein bisschen abgedroschen klingen.
Zwei Stunden lang waren wir alle von menschlichen
Emotionen übermannt, von einem tiefen Gefühl für einander. Und das
war ein gutes Gefühl.
ICH SCHREIBE dies mit besonderem Nachdruck, weil ich
die Bedeutung der Emotionen im Kampf für Frieden stark empfinde.
Ich selbst bin keine sehr emotionale Person. Aber mir
ist äußerst bewusst, dass im politischen Kampf Emotionen einen Platz
haben. Ich bin stolz darauf, dass ich folgenden Satz geprägt habe „
In der Politik ist es irrational, das Irrationale zu ignorieren“
oder „In der Politik ist es rational, das Irrationale zu
akzeptieren.“
Es ist eine große Schwäche der israelischen
Friedensbewegung. Sie ist äußerst rational – in der Tat vielleicht
zu rational. Wir können leicht beweisen, dass Israel Frieden
braucht, dass wir ohne Frieden ein Apartheidstaat werden, wenn nicht
gar etwas Schlimmeres.
In der ganzen Welt sind die Linken nüchterner als die
Rechten. Wenn die Linken mit einem logischen Argument für Frieden,
für Versöhnung mit den früheren Feinden, für soziale Gleichheit und
Hilfe für die Benachteiligten darlegen, antworten die Rechten mit
einer Salve emotionaler und irrationaler Slogans.
Doch Volksmassen werden nicht durch Logik bewegt.
Sie werden durch Gefühle angesprochen.
Ein Ausdruck von Gefühlen – und ein Generator von
Gefühlen ist die Sprache der Lieder. Man kann die Intensität einer
Bewegung an ihren Melodien abschätzen. Kann sich jemand die Märsche
von Martin-Luther-King ohne das Lied: „We shall overcome“
vorstellen? Wer kann sich den irischen Kampf ohne seine vielen
schönen Lieder vorstellen? Oder die Oktober Revolution ohne seine
Massen stürmischer Melodien?
Die israelische Friedensbewegung hat ein einziges
Lied hervorgebracht: einen traurigen Appell der Toten an die
Lebenden. Yitzhak Rabin wurde innerhalb von Minuten nach dem er es
gesungen hatte ermordet; sein blutbeschmierter Text wurde in seinem
Anzug gefunden. Aber all die vielen Dichter und Komponisten der
Friedensbewegung haben nicht ein einziges aufrüttelndes Lied
hervorgebracht – während die Aufhetzer aus einem Reichtum religiöser
und nationalistischer Hymnen schöpfen können.
ES IST gesagt worden, dass man seinen Feind nicht
mögen muss, um mit ihm Frieden zu schließen. Man macht mit dem
Feind Frieden, wie wir das hunderte Male gesagt haben. Der Feind
ist die Person, die man hasst.
Ich habe niemals ganz daran geglaubt, und je älter
ich werde, umso weniger tue ich es.
Nun stimmt es, man kann nicht von Millionen Menschen
auf beiden Seiten erwarten, dass sie einander lieben. Aber der Kern
der Friedensmacher, der Pioniere, kann seine Aufgabe nicht erfüllen,
wenn es nicht eine Spur gegenseitiger Sympathie zwischen ihnen gibt.
Ein gewisser Typ israelischer Friedenaktivisten
akzeptiert diese Binsenwahrheit nicht. Manchmal hat man das Gefühl,
dass sie wirklich Frieden wollen – aber nicht wirklich mit den
Arabern. Sie lieben den Frieden, weil sie sich selbst lieben. Sie
stehen vor dem Spiegel und sagen zu sich selbst: Sieh, wie wunderbar
ich bin! Wie menschlich! Wie moralisch!
Ich erinnere mich, wie viel Feindseligkeit in
gewissen fortschrittlichen Kreisen ich verursachte, als ich unser
Friedens-Symbol entwickelte: die gekreuzten Fahnen Israels und
Palästinas. Als einer von uns dieses Emblem bei einer
Peace-Now-Demonstration in den späten Achzigerjahren zeigte,
verursachte es einen Skandal. Er wurde unhöflich gebeten,
wegzugehen, und die Bewegung entschuldigte sich öffentlich.
Um einer wirklichen Friedensbewegung Schwung zu
verleihen, muss man sie mit dem Geist der Empathie für die andere
Seite erfüllen. Man muss ein Gefühl für ihre Menschlichkeit, ihre
Kultur, ihr Narrativ, ihre Ziele, ihre Ängste und Hoffnungen haben.
Und dies gilt natürlich für beide Seiten.
Nichts kann schädlicher für Friedenschancen sein, als
die Aktivitäten fanatischer pro-Israelis und pro-Palästinenser im
Ausland, die denken, dass sie ihrer bevorzugten Seite helfen, wenn
sie die andere Seite dämonisieren. Mit Dämonen macht man keinen
Frieden.
VERBRÜDERUNG ZWISCHEN Palästinensern und Israelis ist
ein Muss. Keine Friedensbewegung kann ohne dies Erfolg haben.
Und hier sind wir zu einem schmerzlichen Paradox
gekommen: Je mehr diese Verbrüderung nötig wäre, desto weniger ist
sie vorhanden.
Während der letzten paar Jahre wuchs die Entfremdung
zwischen beiden Seiten. Yasser Arafat war sich der Notwendigkeit des
Kontaktes sehr bewusst und tat viel, um sie zu fördern. (Ich drängte
ihn ständig, hier mehr zu tun.) Seit seinem Tod schwand diese
Bemühung.
Auf der israelischen Seite sind Friedensbemühungen
immer weniger populär geworden. Verbrüderung findet jede Woche in
Bilin und auf andern Schlachtfeldern statt, aber die großen
Friedensorganisationen sind nicht allzu eifrig daran beteiligt.
Auf der palästinensischen Seite gibt es eine Menge
Groll, ein (gerechtfertigtes) Gefühl, dass die israelische
Friedensbewegung nicht erreicht hat, was sie versprochen hat. Ja,
noch schlimmer, gemeinsame öffentliche Begegnungen könnten von der
palästinensischen Seite als eine Form von „Normalisierung“ mit
Israel angesehen werden, so etwas wie Kollaboration mit dem Feind.
Dies muss sich ändern. Nur eine allgemeine
Kooperation großen Umfangs zwischen den Friedensbewegungen beider
Seiten kann die Öffentlichkeit – beider Seiten – überzeugen, dass
Frieden möglich ist.
DIESE GEDANKEN gingen mir durch den Kopf, als ich den
einfachen Worten der Palästinenser und Israelis bei dieser großen
Gedenkveranstaltung lauschte.
Es war alles da: der Geist, die Emotion, die
gegenseitige Empathie, die Zusammenarbeit.
Es war ein menschlicher Augenblick – so sollte alles
anfangen.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs. vom Verfasser ….