Der Krieg der Toren
Uri Avnery,
16. Mai 2015
VOR EIN paar Tagen
brachte der israelische TV-Kanal 10 eine investigative Reportage
über den israelischen Angriff von 2006 auf den Libanon, bekannt als
der „2.Libanon-Krieg. “
Auch wenn sie nicht
gerade tiefschürfend war, gab sie ein gutes Bild ab von dem, was
sich tatsächlich ereignete. Die drei israelischen Hauptprotagonisten
redeten frei.
Das Bild war sehr
beunruhigend, um wenigstens das zu sagen. Man könnte auch sagen, es
war alarmierend.
Die
Hauptschlussfolgerung ist, dass all unsere Führer in jener Zeit sich
mit eklatanter Unverantwortlichkeit benahmen, die an Dummheit
grenzte.
REKAPITULIEREN WIR:
der2. Libanonkrieg dauerte 34 Tage vom 7. Juli bis 14. August, 2006.
Er wurde durch einen
Grenzzwischenfall provoziert: Hisbollah-Kräfte im südlichen Libanon
überquerten die Grenze und griffen eine israelische
Routine–Patrouille an. Das Ziel war, israelische Soldaten zu fangen,
um sie gegen eigene Gefangene auszutauschen–die einzige Weise, die
israelische Regierung dahin zu bringen, arabische Gefangene zu
entlassen.
Bei diesem Angriff
wurden zwei israelische Soldaten auf libanesisches Gebiet gezogen.
Alle anderen wurden getötet. Uns wurde erzählt, dass die Gefangenen
vermutlich noch am Leben seien. Der Film zeigt, dass das
Armeekommando sofort wusste, dass wenigstens einer der beiden
Gefangenen tot, und der zweite vermutlich auch gestorben war. In
der Tat wurden beide während der Aktion getötet.
Die übliche Reaktion
bei solch einem Vorfall ist ein Racheaktion, um die „Abschreckung
wieder herzustellen“, wie das Bombardement oder der Beschuss einer
Hisbollah-Basis oder eines libanesischen Dorfes. Doch diesmal nicht.
Das israelische Kabinett begann einen Krieg.
Warum?
Die TV-Reportage
liefert keine überzeugende Antwort. Die Entscheidung wurde sofort
getroffen – nach einem Minimum von Überlegungen. Man hat das Gefühl,
dass Emotionen und persönliche Ambitionen eine große Rolle spielten.
DIE TV-Untersuchung
bestand fast nur aus den Zeugenaussagen der drei Personen, die
tatsächlich die Entscheidung trafen und den Krieg führten.
Der erste war der
Ministerpräsident. Ehud Olmert hatte erst wenige Monate vorher sein
Amt angetreten, fast durch Zufall. Er war der stellvertretende
Ministerpräsident unter Ariel Scharon gewesen, der ihm diesen leeren
Titel als Kompensation vermacht, hatte, weil er ihm kein ernsthaftes
Ministerium gegeben hatte. Als Sharon plötzlich in ein Dauerkoma
fiel, managte es Olmert geschickt, sein Nachfolger zu werden.
Während seines
Erwachsenenlebens war Olmert ein politischer Funktionär gewesen,
gegenüber niemandem loyal, er sprang von einer Partei zur anderen,
von einem Förderer zum anderen, von der Knesset in die Jerusalemer
Stadtverwaltung und zurück, bis er sein Lebensziel erreichte: das
Amt des Ministerpräsidenten.
Währenddessen hatte
er überhaupt keine militärischen Erfahrungen gesammelt. Um den
wirklichen Militärdienst hat er sich gedrückt, und am Ende tat er
verkürzten Dienst in der juristischen Abteilung der Armee.
Der
Verteidigungsminister, Amir Peretz hatte sogar noch weniger
Erfahrung. Ein Laboraktivist von Beruf, der frühere Generalsekretär
der riesigen Histadrut-Gewerkschaft wurde Führer der Labor-Partei.
Als die Partei sich Olmerts neuer Regierung anschloss, konnte Peretz
ein Ministerium wählen und nahm das prestigeträchtige
Verteidigungsministerium.
Diese Verbindung von
zwei Regierungsführern ohne jede militärische Qualifikation ist in
Israel ungewöhnlich, in einem Land, das ständig im Krieg ist. Das
ganze Land lachte, als Peretz bei einer Armeeübung von einem
Fotografen mit einem Fernglas gefangen wurde, von dem er die
Schutzhülsen wegzunehmen vergessen hatte.
Die dritte Person des
so schicksalhaften Trios, der Stabschef Dan Halutz, sollte
vermutlich die militärische Unzulänglichkeit seiner beiden zivilen
Vorgesetzten ersetzten. Er war Berufssoldat, ein Offizier in guter
Verfassung. Aber leider war er ein Luftwaffengeneral, ein früherer
Kampfpilot, der niemals mit Bodentruppen umgegangen war.
In Israel sind alle
früheren Stabschefs von Bodentruppen gekommen und waren erfahrene
Infanteristen. Die Armee hatte nie einen Stabschef, der kein
erfahrener Infanterie- oder Panzeroffizier war. Die Ernennung von
Halutz auf diesen Posten war äußerst ungewöhnlich. Böse Zungen
spielten darauf an, dass der frühere Verteidigungsminister, eine
Person mit jüdisch-iranischem Ursprung, Halutz bevorzugte, weil sein
Vater auch ein Immigrant aus dem Iran war.
Wie dem auch sei: der
Stabschef, der weniger als ein Jahr im Amt war, war völlig
unerfahren und hatte keine Qualifikation, um eine Bodentruppe zu
führen.
So geschah es, dass
die drei Führer des 2. Libanon-Krieges neu im Amt waren und völlig
unerfahren, einen Bodenkrieg zu führen. Zwei der drei hatten
keinerlei Erfahrung in militärischen Angelegenheiten.
Der Stabschef hatte
noch ein anderes Missgeschick: Es wurde später bekannt – ein paar
Stunden, nachdem die Entscheidung, den Krieg zu beginnen, getroffen
und bevor der erste Schuss abgeschossen war, hatte er seinen
Börsenmakler beauftragt, seine Aktien zu verkaufen. In der
TV-Reportage behauptete er, er habe gemeint, die Instruktion schon
ein paar Tage vorher gegeben zu haben, als noch keiner von einem
Krieg träumte, und dass aus einigen technischen Gründen es eine
Verzögerung gegeben habe. Aber wie Peretz‘ Foto mit dem
geschlossenen Fernglas, so hat die Halutz Affaire mit den Aktien
einen Schatten auf beide geworfen.
Olmert wurde in der
Zwischenzeit natürlich überführt, Bestechungsgelder und
verschiedene andere Verbrechen begangen zu haben und zu
Gefängnisstrafe verurteilt wurde, mit einem schwebenden
Berufungsverfahren.
DEM 2. LIBANON-Krieg
war 24 Jahre früher der 1. Libanonkrieg voraus gegangen, der von
Verteidigungsminister Ariel Scharon angeführt worden war und unter
der Schirmherrschaft von Menachem Begin gestanden hatte.
Der Krieg hatte klar
umrissene Kriegsziele: die palästinensische Basis im Süden des
Libanon zu zerstören. klar umrissene Kriegsziele, einen klaren
operativer Plan und eine effiziente militärische und politische
Führung. Es endete natürlich in einer Katastrophe, nachdem das
Sabra-Shatila-Massaker stattgefunden und die Welt schockierte
hatte.
Als Folge der
Brutalität dort wurde eine Untersuchung angesetzt, und Sharon wurde
als Verteidigungsminister abgesetzt (aber nicht aus der Regierung
entlassen). Militärische Kommandeure wurden bestraft.
Trotzdem wurde die
Kampagne in Israel als brillanter militärischer Erfolg angesehen.
Nur wenige realisierten, dass es an der östlichen Front gegenüber
von Syrien ein militärisches Chaos gegeben hatte; keine israelische
Einheit erreichte das angegebene Ziel, während an der Westfront die
israelischen Truppen erst nach der vorgeschriebenen Zeit Beirut
erreichten und erst nach dem Bruch der von der UN festgesetzten
Feuerpause. (Es war damals, als ich Yasser Arafat im belagerten
westlichen Teil der Stadt traf.)
Der 1. Libanon-Krieg
hatte eine unvorhergesehene und dauernde Wirkung. Die
palästinensischen Truppen wurden tatsächlich aus dem Land abgezogen
und nach Tunis befördert (Wo Arafat den Kampf bis zum
Oslo-Abkommen fortführte) Aber anstelle der palästinensischen
Bedrohung wuchs im Libanon eine schlimmere Bedrohung. Die
schiitische Bevölkerung, bis dahin ein Verbündeter Israels, wurde
ein tödlicher und sehr effizienter Feind. Die Hisbollah (Partei von
Allah) wurde zu einer kraftvollen politischen und militärischen
Kraft, die schließlich zum 2. Libanonkrieg führte.
DOCH DER 1.
Libanonkrieg war – verglichen mit dem 2. Libanonkrieg ein
strategisches Meisterstück. Im 2. Libanonkrieg gab es überhaupt
keinen operativen Plan. Noch gab es ein klares Kriegsziel – ein Muss
für jede erfolgreiche militärische Operation.
Der Krieg begann mit
einem massiven Bombenangriff auf zivile als auch auf militärische
Ziele, Elektrizitätswerke, Straßen und Dörfer- die Erfüllung des
Traumes eines jeden Luftwaffengenerals. Entscheidungen wurden
getroffen und zurückgenommen, die Operation begonnen und gestrichen.
Ziele wurden bombardiert und zerstört ohne irgendeinen Zweck,
abgesehen von der Terrorisierung der zivilen Bevölkerung und des
„Hineinbrennens der Lektion ins Bewusstsein“, dass es sich nicht
lohnt, Israel zu provozieren.
Hisbollah reagierte
durch Terrorisierung israelischer Städte mit Raketen. Auf beiden
Seiten wuchs die Zahl der Todesfälle und der Zerstörung. Der Süden
des Libanon und seine Mitte litten natürlich am meisten.
Als die Hisbollah
nicht kapitulierte, wuchs der Druck in Israel, eine Bodenoffensive
zu starten. Sie führte beinahe nirgendwohin. Nachdem die UN eine
Feuerpause verordnet hatte, entschied die israelische Führung, nach
der Fristlinie noch eine letzte Bodenoffensive zu beginnen. 34
israelische Soldaten wurden für nichts (und wieder nichts) getötet.
Ein großer Teil der
Operation wurde von Reservesoldaten durchgeführt, die eilig zusammen
gerufen worden waren. Als die Reservisten an ihren Basen ankamen,
fanden sie die Notlager leer - viel wesentliches Material fehlte.
Da sie uniformierte Zivilisten waren, beklagten sie sich laut. Klar
war, dass das Armeekommando diese Lager jahrelang vernachlässigt
hatte. Auch das Training. Viele Reservisten hatten jahrelang ihre
Trainingskurse nicht gemacht.
Als das Schießen
schließlich aufhörte, waren die Errungenschaften der israelischen
Armee gleich null. Ein paar libanesische Dörfer direkt neben der
Grenze waren erobert worden und mussten wieder aufgegeben werden.
DIESES MAL konnten
die Fehler nicht zugedeckt werden. Eine zivile
Untersuchungs-kommission wurde gebildet. Sie verurteilte die
Führung. Peretz und Halutz mussten zurücktreten, Olmert wurde bald
danach der Korruption angeklagt und musste auch zurücktreten.
Vom Gesichtspunkt der
israelischen Regierung aus hatte der 2.Libanonkrieg doch einige
Errungenschaften gebracht.
Seitdem, bis heute
ist die libanesisch-israelische Grenze verhältnismäßig ruhig
gewesen. Falls es überhaupt ein erkennbares Kriegsziel gegeben haben
sollte, wäre es das Terrorisieren der libanesischen zivilen
Bevölkerung durch weitverbreitete Zerstörung und Tötung. Dies wurde
tatsächlich erreicht. Hassan Nasrallah, der herausragende
Hisbollah-Führer (der nach seinem viel weniger fähigen Vorgänger
ernannt worden war, der von der israelischen Armee durch „gezieltes
Töten“ „eliminiert“ worden war) gab mit ungewöhnlicher Offenheit
zu , dass er nicht die Aktion der Gefangennahme befohlen hätte,
hätte er vorausgesehen, dass dies in einen Krieg ausarten würde.
Doch während man den
drei israelischen Führern bei der TV Reportage zuhörte, war man
geschockt von der Inkompetenz aller drei. Sie begannen ohne
wirklichen Grund einen Krieg, in dem Hunderte von Israelis und
Libanesen getötet und Häuser zerstört worden waren, einen Krieg ohne
klaren Plan geführt, Entscheidungen ohne notwendiges Wissen
getroffen. Als sie im TV sprachen, zeigten sie sehr wenig Respekt
für einander.
Ein Israeli, der
diesen Zeugen zuhörte, ist gezwungen, sich selbst zu fragen: ist das
so mit all unseren Kriegen – in der Vergangenheit und Zukunft? Ist
das bis jetzt nur durch Zensur und stilles Übereinkommen verdeckt
gewesen?
Und die viel größere
Frage: Ist dies für die meisten Kriege in der Geschichte wahr
gewesen – vom alten Ägypten und Griechenland bis heute? Wir wissen
schon, dass der 1. Weltkrieg mit seinen Millionen Opfern von
politischen Dummköpfen entfacht und von militärisch inkompetenten
Leuten geführt wurde.
Ist die Menschheit
für immer zu solchem Leiden verurteilt? Müssen wir Israelis vorwärts
auf ein paar andere Kriege schauen, die von derselben Art von
Politikern und Generälen geführt werden?
(dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)