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Wer annektiert wen?
Uri Avnery, 24. März 2011
IN EINER selten späten Nachtsitzung nahmen die
Knessetabgeordneten endgültig zwei widerlich rassistische Gesetze
an . Beide sind klar gegen Israels arabische Bürger gerichtet, ein
Fünftel der Bevölkerung.
Das erste macht es möglich, die
Staatsbürgerschaft von Personen zu annullieren, die wegen
Straftaten für schuldig befunden werden, die Sicherheit des Staates
zu gefährden. Israel rühmt sich, ein Menge solcher Gesetze zu haben.
Die Staatsbürgerschaft wegen solcher Gründe zu annullieren, ist
gegen das internationale Gesetz und gegen internationale
Konventionen.
Das zweite ist raffinierter. Es erlaubt
Gemeinschaften mit weniger als 400 Familien „Zutritts-Komitees“ zu
ernennen, die verhindern können, dass „unpassende“ Personen hier
wohnen. Es verbietet sehr schlau und ausdrücklich die Abweisung von
Kandidaten wegen Rasse, Religion etc. – aber es ist ein Paragraph
der Augenwischerei. Ein arabischer Bewerber wird einfach wegen
seiner vielen Kinder oder weil er keinen Militärdienst machte,
zurückgewiesen.
Eine Mehrheit der Mitglieder hat sich gar nicht
erst zum Abstimmen gezeigt. Schließlich war es sehr spät, und
außerdem haben sie Familien. Wer weiß, vielleicht haben sich einige
geschämt, abzustimmen.
Aber weit schlimmer ist ein drittes Gesetz, das
innerhalb einiger Wochen sein letztes Stadium durchlaufen wird. Es
ist das Gesetz, um den Boykott der Siedlungen zu verbieten.
SEIT SEINEM frühen Stadium ist der ursprünglich
derbe Text dieses Gesetzentwurfes irgendwie verbessert worden.
Wie es jetzt aussieht, wird das Gesetz jede
Person oder Organisation strafen, die öffentlich zu einem Boykott
Israels aufruft – wirtschaftlich, akademisch und kulturell.
„Israel“ bedeutet nach diesem Gesetz jedes israelische Unternehmen
oder jede Person in Israel oder in den von Israel kontrollierten
Gebieten. Einfach gesagt: es geht um die Siedlungen. Und nicht nur
um den Boykott von Produkten der Siedlungen, den Gush Shalom vor
etwa 13 Jahren initiiert hat, sondern auch um die Weigerung von
Schauspielern, in der Siedlung Ariel aufzutreten, und um den Aufruf
von Akademikern, keine akademische Institution dort zu unterstützen.
Es gilt natürlich auch für jeden Aufruf zum Boykott einer
israelischen Universität oder eines israelischen
Handelsunternehmens.
Dies ist ein grundsätzlich fehlerhaftes Stück
einer Gesetzgebung: es ist antidemokratisch, diskriminierend,
annexionistisch und vor allem verfassungswidrig.
JEDER HAT das Recht, zu kaufen oder nicht zu
kaufen, was er oder sie wünscht, und zwar bei dem, den sie wählen.
Das ist offensichtlich und benötigt keine Bestätigung. Es ist Teil
des Rechts auf freien Ausdruck, das mit jeder Verfassung garantiert
wird, die ihren Namen verdient und es ist auch ein wesentliches
Element einer freien Marktwirtschaft.
Ich kaufe gern in dem Laden an der Ecke, weil mir
sein Besitzer sympathisch ist und nicht im Superladen gegenüber,
der seine Angestellten ausnützt. Gesellschaften geben große Summen
Geld aus, um mich zu überzeugen, eher ihre Produkte als die von
anderen zu kaufen.
Und wie steht es mit ideologisch motivierten
Kampagnen? Vor Jahren wurde ich bei einem Besuch in New York darum
gebeten, keine Weintrauben aus Kalifornien zu kaufen, weil die
Besitzer von Weinbergen die mexikanischen Fremdarbeiter
unterdrücken. Dieser Boykott ging lange Zeit und war – wenn ich mich
nicht irre – erfolgreich. Keiner wagte zu behaupten, dass solche
Boykotts ungesetzlich sind.
Hier in Israel kleben Rabbiner vieler Gemeinden
regelmäßig Posters an Wände, auf denen sie ihre „Schäflein“
aufrufen, in gewissen Läden nicht zu kaufen, von denen sie glauben,
sie seien nicht koscher oder nicht koscher genug. Solche Aufrufe
sind ganz gewöhnlich.
Solche Veröffentlichungen stimmen völlig mit den
Menschenrechten überein. Bürger, für die Schweinefleisch
verabscheuungswürdig ist, haben das Recht, darüber informiert zu
werden, wo Läden sind, die Schweinefleisch verkaufen und Läden, die
keines verkaufen. So weit ich weiß, hat in Israel bis jetzt noch
niemand dieses Recht angefochten.
Früher oder später werden anti-religiöse Gruppen
Aufrufe veröffentlichen, um koschere Läden zu boykottieren, die die
Rabbiner mit hohen Abgaben für Zertifikate bezahlen – einige von
ihnen gehören zu den untolerantesten ihrer Art. Sie unterstützen ein
ausgedehntes religiöses Establishment, das Israel offen in einen
„Halacha-Staat“ verwandeln will – es ist das jüdische Äquivalent zu
einem muslimischen „Sharia-Staat“. Viele tausend Kashrut-Überwacher
und unzählige andere religiöse Funktionäre werden von der weithin
weltlichen Öffentlichkeit dafür bezahlt.
Was soll man also über einen anti-rabbinischen
Boykott sagen? Er kann kaum verboten werden, da die Religiösen und
Antireligiösen garantiert die gleichen Rechte haben.
DESHALB SIEHT es so aus, als ob nicht alle
ideologisch motivierten Boykotte falsch sind. die Initiatoren
dieser besonderen Gesetzesvorlage – Rassisten der Liebermanschule,
Likud-Rechte und Kadima-Zentristen - behaupten dies auch nicht. Für
sie sind Boykotts nur dann falsch, wenn sie gegen die
nationalistische, annexionistische Politik dieser Regierung sind.
Dies wird sogar direkt im Gesetz selbst
angegeben. Boykotts sind ungesetzlich, wenn sie gegen den Staat
Israel gerichtet sind – nicht z.B. durch den Staat Israel gegen
irgendeinen anderen Staat. Kein normaler Israeli würde im Nachhinein
den Boykott, den das Weltjudentum gegen Deutschland verhängte,
unmittelbar nachdem die Nazis an die Macht kamen, verurteilen – ein
Boykott, der Joseph Goebbels als Vorwand diente, als er am 1.
April 1933 den ersten antisemitischen Boykott der Nazis
veröffentlichte („Deutsche wehrt euch! Kauft nicht beim Juden!“)
Auch kein aufrechter Zionist wird die
Boykottmaßnahmen falsch finden, die vom Congress unter intensiv
jüdischem Druck gegen die frühere Sowjet-Union zustande kamen, um
die Barrieren für freie jüdische Emigration zu beseitigen. Diese
Maßnahmen waren äußerst erfolgreich.
Nicht weniger erfolgreich war der weltweite
Boykott gegen das Apartheidregime in Südafrika – ein Boykott der von
der südafrikanischen Befreiungsbewegung sehr willkommen geheißen
wurde, obwohl er auch die von weißen Geschäftsleuten beschäftigten
afrikanischen Arbeiter schädigte. (Ein Argument, das jetzt von den
israelischen Siedlern wiederholt wird, die palästinensische Arbeiter
zu Hungerlöhnen beschäftigen).
Also sind politische Boykotts nicht falsch,
solange sie gegen andere gerichtet sind. Es ist dies alte „Hottentoten-Moral
aus kolonialer Überlieferung – „Wenn ich deine Kuh stehle, ist es in
Ordnung. Wenn du meine Kuh stiehlst, ist es Diebstahl.“
Die Rechten können Aktionen gegen linke
Organisationen aufrufen. Die Linken dürfen keine Aktionen gegen
rechte Organisationen aufrufen. So einfach ist das.
ABER DAS Gesetz ist nicht nur antidemokratisch
und diskriminierend, es ist auch eklatant annexionistisch.
Durch einen einfachen semantischen Trick – in
weniger als einem Satz – machten die Gesetzmacher das, was auf
einander folgende Regierungen nicht zu tun wagten: sie annektieren
das palästinensische, von Israel besetzte Land an Israel.
Oder könnte es genau umgekehrt sein? Sind es die
Siedler, die Israel annektieren?
Das Wort „Siedlungen“ erscheint nicht im Text. Um
Himmels Willen! Genau so wie das Wort „Araber“ in keinem der
anderen Gesetze erscheint.
Stattdessen stellt der Text einfach fest, dass
Boykottaufrufe gegen Israel durch das Gesetz verboten sind,
einschließlich dem Boykott israelischer Institutionen und
Unternehmen in allen von Israel kontrollierten Gebieten. Dies
schließt natürlich die Westbank, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen
mit ein.
Das ist der Kern der Sache. Alles andere ist
Verdunklung.
Die Initiatoren wollen unsern Aufruf zum Boykott
der Siedlungen zum Schweigen bringen. Er gewinnt aber gerade
weltweit an Schwung.
DIE IRONIE der Sache ist die, dass sie genau das
Gegenteil erreichen.
Als wir mit dem Boykott anfingen, war unser
erklärtes Ziel, eine klare Linie zwischen Israel in seinen
anerkannten Grenzen – der Grünen Linie - und den Siedlungen zu
ziehen. Wir waren nicht für einen Boykott des Staates Israel, der –
wie wir glauben - die falsche Botschaft aussendet und die
israelische Mitte in die wartenden Arme der extremen Rechten stößt.
(„Die ganze Welt ist gegen uns“) Ein Boykott der Siedlungen, (so
denken wir) hilft, die Grüne Linie wieder einzurichten und einen
klaren Unterschied zu machen.
Dieses Gesetz tut nun genau das Gegenteil. Indem
es die Grenzlinie zwischen dem Staat Israel und den Siedlungen
verwischt, spielt es denen in die Hände, die für einen Boykott
Israels aufrufen – wie ich denke - irrtümlich im Glauben, ein
vereinigter Apartheidstaat bereite den Weg für eine demokratische
Zukunft.
Vor kurzem wurde die Torheit des Gesetzes von
einem französischen Richter in Grenoble demonstriert. Dieser Vorfall
betraf die fast monopolistisch israelische Exportfirma Agrexco für
landwirtschaftliche Produkte. Der Richter verdächtigte die
Gesellschaft des Betruges, weil Produkte der Siedlungen falsch
deklariert waren, als ob sie aus Israel kämen. Dies konnte Betrug
sein, weil israelische Exporte in Europa große Privilegien genießen,
während Produkte der Siedlungen diese Privilegien nicht genießen.
Solche Vorfälle geschehen immer öfter in
verschiedenen europäischen Ländern. Dieses Gesetz wird sie
vervielfachen .
NACH DER originalen Version hätten diejenigen,
die den Boykott unterstützen, eine kriminelle Tat begangen und wären
verurteilt worden. Dies hätte uns große Freude bereitet, weil unsere
Weigerung, Geldstrafen zu zahlen und ins Gefängnis zu gehen, die
Sache noch dramatischer gemacht hätte.
Diese Klausel ist jetzt weggelassen worden. Aber
jedes einzelne Unternehmen in einer Siedlung und tatsächlich jeder
einzelne Siedler, der sich vom Boykott verletzt fühlt, kann jede
Gruppe, die zum Boykott aufruft, und jede Person, die mit solch
einem Aufruf verbunden ist - für unbegrenzten Schadenersatz -
verklagen. Da die Siedler gut organisiert sind und ihnen
grenzenlose Fonds aller Arten von Kasinobarone und Bordellmagnaten
zur Verfügung stehen, werden sie Tausende von Klagen für
astronomische Summen einreichen und die Boykottbewegung praktisch
lähmen. Dies ist natürlich ihr Ziel.
Der Kampf ist also noch längst nicht zu Ende.
Nach dem Erlass des Gesetzes werden wir den Obersten Gerichtshof
anrufen, dies Gesetz zu annullieren, da es im Widerspruch zu Israels
fundamentalen verfassungsmäßigen Prinzipien und den grundsätzlichen
Menschenrechten steht.
Wie Menachem Begin zu sagen pflegte: „ Es gibt
noch Richter in Jerusalem !“
Oder ???
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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