Wackelige Stühle
Uri Avnery, 12.9.09
NICHT EINMAL die Römer sahen solch ein Spiel in ihrer Arena: drei
Gladiatoren kämpfen gegen einander, während jeder von ihnen sich
selbst gleichzeitig gegen Angreifer von hinten wehren muss.
Alle drei von ihnen – Barack Obama, Binyamin Netanyahu und Mahmoud
Abbas – kämpfen um ihr politisches Überleben. Alle drei Kämpfe sind
sehr verschieden – doch hängen sie mit einander zusammen.
OBAMA STECKT in großen Schwierigkeiten. Groß? Riesengroß! Der
bedeutendste Kampf betrifft die Gesundheitsreform.
Diese steht in keiner Verbindung zu Israel. Außerdem ist es für
einen Israeli schwierig, dies überhaupt zu verstehen.
Für uns ist es schwer – tatsächlich unmöglich – zu begreifen, wie
ein modernes, progressives Land ohne Krankenversicherung für alle
funktionieren kann. Unser Gesundheitssystem entwickelte sich, lange
bevor der Staat gegründet wurde. Krankenkassen umfassten die ganze
jüdische Bevölkerung in Palästina. Nach der Gründung des Staates
wurde dies zum Gesetz für alle Bürger. Jeder Israeli ist bei einer
der vier offiziell anerkannten Krankenkassen versichert. Alle werden
zu einem großen Teil von der Regierung finanziert, die auch
entscheidet, welche Dienstleistungen von ihnen übernommen werden
müssen.
In
einer fortschrittlichen Gesellschaft hat eine Person ein Recht auf
medizinische Grundversorgung, Krankenhauspflege, Operationen und
Medikamente. Deshalb scheint es sehr merkwürdig, dass es im
reichsten Land der Welt 46 Millionen * gibt, die diesen
wesentlichen Schutz nicht haben. Ganz besonders in einem Land, in
dem medizinische Ausgaben – in Prozenten zum Gesamtnationalprodukt
ausgedrückt – viel höher sind als bei uns.
Und nun kommt Obama und schlägt einen Plan vor, der diesen Leuten
die Option einer Regierungskrankenversicherung anbietet. Was könnte
selbstverständlicher sein? Aber in den USA sind mächtige Kräfte
dabei, dies zu verhindern, und zwar im Namen des freien
Unternehmertums, der Kräfte des Marktes, des Rechtes auf Privatleben
und anderer hoch-klingender Vorwände. Sie stellen Obama als
zweiten Hitler oder zweiten Stalin oder gar beides dar. Und seine
Popularität sinkt dramatisch.
Merkwürdig? Verrückt? Vielleicht. Aber wir müssen dies ernst nehmen
- es betrifft uns direkt.
WEIL OBAMA ein zentraler Spieler in unserem eigenen Spiel ist.
Als er an die Macht kam, begriff er, dass die Situation im
erweiterten Nahen Osten verändert werden muss. Die meisten Muslime
in der Welt, einschließlich der meisten Araber, hassen die USA.
Aber selbst eine Weltmacht kann nicht in einer Atmosphäre des Hasses
funktionieren. Der Hauptgrund für diesen Hass liegt in der
unbegrenzten Unterstützung für die Regierung Israels, die die
Palästinenser unterdrückt.
Acht Jahre lang handelte Präsident Bill Clinton als Agent der
jüdischen Lobby für Israel. Danach war es Präsident George W. Bush,
der weitere acht Jahre als Agent der christlich-fundamentalistischen
Lobby für Israel handelte. Präsident Obama begreift, dass die
grundlegenden US-Interessen ein Ende des
israelisch-palästinensischen Konfliktes verlangen, der die ganze
Region vergiftet.
Der Krieg in Afghanistan macht es noch schlimmer. Obama ist in
dieses Schlamassel durch ein Versehen hinein geraten: in der Hitze
des Wahlkampfes kündigte er an, die Truppen aus dem Irak abziehen
zu wollen. Aber um nicht des Defätismus angeklagt zu werden, fügte
er hinzu, er wolle die amerikanische Intervention in Afghanistan
intensivieren.
Das war ein übereiltes Versprechen. Afghanistan ist schlimmer als
der Irak. Es ist ein völlig anderer Krieg in einer völlig anderen
Umgebung gegen einen völlig anderen Feind. Die USA haben keine
Chance, diesen Krieg zu gewinnen, der kein klares Ziel und keinen
eindeutigen Feind hat, gegen eine Bevölkerung, die sich seit der
Antike in der Kunst üben musste, wie man fremde Invasoren los
wird.
Es
ist leicht, in einen Sumpf zu geraten, aber sehr schwierig, wieder
herauszukommen. Obama hat für Afghanistan keine Exit-Strategie. Auch
dies wird seine Popularität in der nächsten Zukunft beeinträchtigen.
IN
DIESER Situation gerät er mit Binyamin Netanyahu in die
Auseinandersetzung.
Es
ist keine Frage mehr: das einzige Rezept für die Heilung der
israelisch-palästinensischen Wunde ist die Beendigung der Besatzung
und die Herstellung von Frieden zwischen dem Staat Israel und dem
Staat Palästina, der neben ihm entstehen soll. Dies verlangt
sinnvolle und intensive Verhandlungen innerhalb einer festgesetzten
Zeitspanne. Das ist aber unmöglich, wenn gleichzeitig die Siedlungen
erweitert werden. Es ist wie der palästinensische Anwalt Michael
Tarasi zutreffend sagt: „Wir verhandeln über die Teilung einer
Pizza, und unterdessen isst Israel die Pizza auf.“
Deshalb hat Obama der israelischen Regierung eine eindeutige
Forderung gestellt: sofortiger Stop des Siedlungsbaus,
einschließlich jenes in Ostjerusalems. Eine klare und logische
Forderung. Aber während er Netanyahu unter Druck setzt, ist er zu
Hause selbst wegen der Gesundheitsreform und des Afghanistankrieges
großem Druck ausgesetzt.
NETANYAHUS SITUATION ist nicht weniger kompliziert.
Seine Regierung gründet sich auf eine Koalition von fünf
verschiedenen Parteien. Die Siedler und ihre Unterstützer stellen
die Mehrheit dar. Der „Linke“ in dieser Koalition, Ehud Barak, ist
für die Errichtung einer noch größeren Anzahl von Siedlungen
verantwortlich als Netanyahu selbst .
Netanyahu tanzt auf einem dünnen Seil über dem israelischen
Jahrmarkt, ohne Sicherheitsnetz hoch über den Köpfen der Zuschauer.
Er muss einen direkten Konflikt mit Obama vermeiden, unterdessen
aber die Nationalisten seiner eigenen Partei und seiner Koalition
zufrieden stellen.
Wie macht man das? Man muss den Amerikaner davon überzeugen, in den
Siedlungen ein klein wenig an Bauaktivitäten zu erlauben, nur
gerade ein klein wenig, um die Siedler ruhig zu stellen. Man muss
die Siedler davon überzeugen, das Versprechen gegenüber den
Amerikanern, den Siedlungsbau einzufrieren, sei nur Augenwischerei
und dass in Wirklichkeit der Siedlungsbau in vollem Schwung weiter
geht.
Die Amerikaner erkennen natürlich, dass unsere Regierung sie zu
täuschen versucht. Wenn sie den Bau von nur weiteren 500 Häusern in
den Siedelungsblocks erlauben und die Fertigstellung von weiteren
2500 im Bau befindlichen und nur ein paar mehr in Ostjerusalem, dann
geht das Bauen unkontrolliert weiter.
Die Siedler wissen sehr wohl, dass ihr ganzes Unternehmen auf
Täuschung und Tricks beruht: ein Haus nach dem anderen, ein
Stadtteil nach dem anderen. Sie sind glücklich, Netanyahu mit dieser
Methode fortfahren zu lassen. Im Augenblick verhalten sie sich
ruhig und sind nicht beunruhigt, um so mehr, als sich bisher noch
keine große israelische öffentliche Bewegung erhoben hatte, um
Obamas Friedensbemühungen zu unterstützen
Obamas Schwierigkeiten bezüglich der Gesundheitsreform erscheinen
Netanyahu wie die Erhörung eines Gebetes. Vielleicht genügt ihm die
göttliche Hilfe allein nicht, und die Pro-Israel-Lobby hilft im
Stillen den Feinden der Reform. Wenn Obamas Leute entscheiden, die
Zeit sei noch nicht reif für eine Konfrontation mit Netanyahu
und es sich lohne, in kleinen Sachen nachzugeben – ein paar Häuser
hier und ein paar Häuser dort – dann würde dies für Netanyahu ein
riesiger Erfolg bedeuten. Jeder Israeli würde dies so sehen:
Netanyahu stellte sich männlich der Konfrontation und Obama war
es, der zuerst blinzeln musste. Aber danach, während der zweiten
und dritten Schlacht, wenn Obama darauf besteht und nicht nachgeben
wird, weder in Wort noch in Tat, wird Netanyahu in Schwierigkeiten
geraten.
MAHMOUD ABBAS ist der schwächste der drei Gladiatoren. Seine
Situation ist die heikelste .
Er
befindet sich auf einem schlüpfrigen Abhang und muss sich auf Obama
verlassen, der selbst auf der Spitze eines Turmes steht, der
zusammenstürzen kann. Er hat schon erfahren, dass Netanyahu gar
nicht beabsichtigt, wirkliche Verhandlungen mit ihm zu führen. Und
Hamas klagt ihn der Kollaboration mit der Besatzungsmacht an.
Allgemeine Meinungsumfragen auf der Westbank scheinen anzuzeigen,
dass die Popularität der Fatah steigt und dass Hamas verliert. Aber
Umfragen in Palästina waren bis jetzt immer falsch (wie am
Vorabend der letzten Wahlen, als sie einen großen Sieg für die Fatah
voraussagten) . Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde,
die vom amerikanischen General Keith Dayton trainiert werden,
arbeiten eng mit den Besatzungskräften zusammen und dienen ihnen
ganz offen als ihre Subunternehmer. Was mag der gewöhnliche
Palästinenser auf der Straße wohl darüber denken?
Das Leben unter der Besatzung auf der Westbank ist auf eine Illusion
gebaut. Die Kommentatoren preisen den Erfolg des Ministerpräsidenten
der palästinensischen Behörde, Salaam Fayad, wie er die
palästinensische Wirtschaft wieder aufbaut. Ramallah wächst und
gedeiht. Neue Geschäfte werden eröffnet. Netanyahus
„wirtschaftlicher Frieden“ wird Realität. Aber dies ist natürlich
eine komplette Seifenblase: die israelische Armee kann all dies in
einer halben Stunde zerstören, wie sie dies 2002 bei der Operation
„Schutzschild“ gemacht hat.
Wenn Abbas auf dem Weg zum Frieden innerhalb weniger Monate nicht
einen eindrucksvollen Fortschritt aufzeigen kann, dann kann alles
zusammenbrechen. General Dayton hat schon gewarnt, wenn nicht
„innerhalb von zwei Jahren“ Frieden erreicht wird, werden sich die
von ihm trainierten Kräfte gegen die israelische Besatzung (und
natürlich auch gegen Abbas) wenden. Die Hamas macht ihnen schon
die Hölle heiß.
In
ein paar Tagen sollen die drei – Obama, Netanyahu und Abbas - in
New York eine Gipfelkonferenz halten und das Friedensschiff in Gang
bringen.
Es
wird ein interessantes Treffen werden – falls es stattfindet - weil
jeder der drei auf einem wackligen Stuhl sitzen wird. Während sie
mit ihren beiden Kollegen reden werden, wird jeder außerdem mit
seinen Feinden zu Hause beschäftigt sein.
Das ist natürlich keine ungewöhnliche Situation. Henry Kissinger
sagte einmal, dass Israel keine Außenpolitik, sondern nur
Innenpolitik hat. Das stimmt wohl mehr oder weniger für jedes Land.
Die USA, Israel und Palästina sind in dieser Hinsicht keine
Ausnahme.
Kommentatoren in Elfenbeintürmen, die gewohnt sind, den politischen
Führern Ratschläge zu erteilen und ihnen zu sagen, was sie tun
sollen, verfehlen häufig diese Dimension. Eine Person, die nie die
Hitze einer Wahlkampagne durchgemacht hat, wird kaum Verständnis für
die volle Tragweite der Motive eines Politikers aufbringen. Es war
Otto von Bismarck – durch und durch ein Politiker – der sagte:
„Politik ist die Kunst des Möglichen“.
Wie können die Friedensbemühungen zurück in den Bereich des
Möglichen gerückt werden? Bei dieser Kampagne hat das israelische
Friedenslager eine doppelte Aufgabe: erstens die Politik des
Ausweichens und der Täuschung unserer Regierung aufzudecken; und
zweitens Obamas Hände bei seinen Bemühungen , dieser Region den
Frieden zu bringen, zu stärken. Es ist wichtig, dass ein starkes
und authentisches israelisches Lager seine Unterstützung für seine
Bemühungen zum Ausdruck bringt. Unsere Freunde in den USA, Europa
und in der ganzen Welt haben die gleiche Aufgabe.
Dieser dreifache Kampf findet nicht in einem römischen Amphitheater
statt, und wir sind keine Zuschauer. In diesem Spiel geht es um
nichts weniger als um unser Leben.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
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