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Der Herzog von Nablus
Uri Avnery, 24. Dezember 2011
DER NAME von Munib al-Masri ist vor kurzem als
möglicher Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten einer
palästinensischen nationalen Einheitsregierung aufgetaucht. Da er
weder ein Mitglied von Fatah noch von Hamas ist, ist er für beide
annehmbar.
Al-Masri selbst verneint solche Ambitionen. Er
sagt, er sei zu alt (77) und dass eine jüngere Generation
Palästinenser nun an der Reihe sei.
Er sagte auch, er sei ganz zufrieden mit seiner
augenblicklichen Situation.
Kein Wunder!
DIE WESTBANK-Stadt Nablus liegt eingebettet im
Tal zwischen zwei hohen Bergen, dem Ebal und dem Garizim. Der
Garizim ist der berühmtere, weil er für das samaritanische Volk
heilig ist, da es glaubt, Gott habe den Israeliten befohlen, seinen
Tempel dort zu bauen. Für sie ist Jerusalem nur eine Anmaßung.
Der Berg Garizim, 881 m über dem Meeresspiegel,
überragt das Zentrum von Nablus um 330 Meter. Er wird viele Male in
der Bibel erwähnt. Dort hielt Jotham, der Sohn des Richters Gideon,
seine berühmte Rede, in der er Politiker mit dem Dornstrauch
vergleicht, der zu nichts nütze sei, der keine Früchte trage, nicht
dufte, keinen Schatten spende, der darin übereinstimmt, der König
der Bäume zu sein, nachdem sich alle anderen Bäume weigerten.
Vielleicht stimmt Munib al-Masri mit der Moral dieser Fabel überein,
die in vielen Ländern heute seltsam relevant erscheint.
Wenn man auf der Hauptstraße von Nablus entlang
geht und seine Augen gen Himmel wendet, sieht man auf der Spitze
des Berges ein imponierendes Gebäude mit einer Kuppel. Dies ist das
Haus von Al-Masri.
Nun „Haus“ mag leicht untertrieben sein.
Tatsächlich ist es die imponierendste Privatresidenz in Palästina
und Israel, wenn nicht gar – wie behauptet wurde – von Marokko bis
an die Grenze Indiens.
Die Al-Masri-Villa ist ein genauer Nachbau der
Villa Capra, auch als Rotunda bekannt, ein einzigartiges
architektonisches Meisterwerk, etwa 60km von Venedig entfernt. Wenn
man vor dem Gebäude steht, glaubt man, seinen Augen nicht zu trauen.
Tatsächlich weiß man gar nicht, wo die Vorderseite ist – weil es
vier Vorderseiten hat, mit genau denselben Eingängen, Säulen und
Stufen. Wenn man durch einen der Eingänge eintritt, kommt man in
einen großen runden Empfangsraum, von dem alle Räume ausgehen. In
der Mitte steht eine alte griechische Statue von Herkules. Über
dieser dreistöckigen Halle wölbt sich die Kuppel.
Der marmorne Fußboden und das ganze Baumaterial
kam aus dem Ausland. Ein italienischer Experte machte den Witz, der
palästinensische Palast sehe viel besser aus als das Original, und
der italienische Palazzo sei wie eine gelungene Kopie.
Das wäre schon mehr als genug – aber ist es
nicht.
Alle Räume des Palastes sind voller Kunstwerke,
die al-Masri während 40 Jahren gesammelt hat. Sie könnten ein
eindrucksvolles Museum füllen. Gemälde von Renaissancemalern bis zur
Moderne, Kaminfeuerstellen aus Versailles, klassische Tische und
Stühle aus Spanien, Wandteppiche aus Flandern, Kerzenhalter aus
Italien und noch vieles, vieles mehr. So ist es Raum um Raum.
Das sollte nun mehr als genug sein. Ist es aber
nicht.
Als die Grabungen für die Grundmauern begannen,
wurden drei kleine alte Töpferscherben entdeckt. Man hörte mit der
Arbeit auf, und die archäologische Grabung begann. Das Ergebnis war
atemberaubend: ein komplettes byzantinisches Kloster aus dem 4.
Jahrhundert wurde entdeckt. Es steht dort mit all seinen Räumen,
Kapellen und Ställen, umgeben von kräftigen Säulen, auf denen der
ganze moderne Bau ruht. Ein Gebäude auf dem anderen.
Genug? Nicht ganz. Der Palast ist umgeben von
einem riesigen Gut, Gewächshäusern, Olivenhainen, einem Teich und
was noch …Aber nun genug davon.
ICH TRAF al-Masri, einen schlanken großen
Gentleman vor etwa zwanzig Jahren bei einem meiner Besuche bei
Yasser Arafat in Tunis. Al-Masri gehörte zum inneren Kreis des
PLO-Führers und kehrte mit ihm nach Palästina zurück.
Zuvor hatte er als jordanischer Kabinettminister
gewirkt und war angeklagt worden, Arafat und anderen Fatahführern
während des blutigen „Schwarzen September“ 1970 zur Flucht aus
Jordanien geholfen zu haben.
Zwischen all den Kunstwerken sind die Wände voll
mit Hunderten von Fotos des Besitzers mit seiner amerikanischen
Frau, seinen Söhnen und Töchtern und in Gesellschaft mit
weltbekannten Persönlichkeiten. Unter ihnen fällt Arafat besonders
auf. Al-Masri bewundert ihn.
Seit jenem flüchtigen Treffen in Tunis achtete
ich auf seine seltenen Äußerungen. Jedes Wort, das er über den
israelisch-palästinensischen Konflikt sagte, hätte auch von mir sein
können und umgekehrt. Unsere Ideen über die Lösung sind sehr
ähnlich.
Bemerkenswert ist, dass er – trotz einer Tragödie
in der Familie - ein Mann des Friedens blieb. Am Nakba-Tag vor
einigen Monaten schloss sich sein Enkel, der an der amerikanischen
Universität in Beirut studierte, den Demonstranten an, die zum
nördlichen Grenzzaun Israels kamen. Israelische Soldaten eröffneten
das Feuer, und der Enkel wurde von einer Kugel - einem verbotenen
Dum-dum-Geschoss – getroffen. Es verletzte die Wirbelsäule, die
Leber und die Nieren. Der junge Mann wird nun in den US medizinisch
behandelt.
Seit sein Palazzo fertig ist, beschäftigt sich
al-Masri mit seinen weitläufigen Geschäften und vielen
philantropischen Tätigkeiten. Er investiert besonders in die
Universitäten von Nablus, Ost-Jerusalem und Beirut. Trotzdem bleibt
er eine leidenschaftlich politische Person.
Er nannte den Palast „Palästina-Haus“ und
behauptet, es sei der Hauptzweck des Hausbaus an dieser Stelle, das
Gebiet für das palästinensische Volk zu bewahren. Indem er auf der
Spitze des Berges baute, hat er die Errichtung einer israelischen
Siedlung dort verhindert. Nablus ist sowieso schon von einer Reihe
jüdischer Siedlungen umgeben – und einige neigen zu den extremsten
neo-faschistischen Tendenzen. In einem von ihnen wohnt der Rabbiner,
dessen Buch unter gewissen Umständen das Töten von nicht-jüdischen
Kindern befürwortet. Von diesen Siedlungen kommen die jüdischen
Anstifter von Pogromen, die regelmäßig die umgebenden Moscheen
anzünden. Hier kann man wirklich von einer Villa im Dschungel reden.
DIE AL-MASRI-Familie ist eine der angesehensten
Familien im Land. Auch wenn der Name „der Ägypter“ bedeutet, kommt
sie ursprünglich aus dem Hedjas, der heute in Saudi-Arabien liegt.
Jahrhunderte lang lebte die Familie in Hebron und Jerusalem und die
letzten zwei Jahrhunderte in Nablus (Nablus ist die arabische Form
für Neapolis, die Stadt, die von Kaiser Vespasian vor etwa 1940
Jahren gegründet wurde, nachdem er die jüdische Stadt Sichem oder
Shechem zerstört hatte ).
Wenn dies England wäre, dann wäre Munib al-Masri
ein Lord, wenn nicht gar der Herzog von Nablus.
Meinen ersten Kontakt mit der Familie hatte ich
wenige Tage nach dem 1967er-Krieg. In jener Zeit glaubten nur wenige
Leute, dass Israel die neu besetzten Gebiete länger als ein paar
Wochen halten könne. Die Haupttendenz war, die Westbank an den
jordanischen König zurückzugeben. In der Knesset versuchte ich, die
Regierung zu überzeugen, die Palästinenser stattdessen in die Lage
zu versetzen, einen eigenen Staat aufzubauen.
Zu diesem Zweck machte ich die Runde bei den
lokalen palästinensischen Führern, meistens den Oberhäuptern von
Großfamilien. Einer von ihnen war Hikmet al-Masri, Munibs Onkel. Ich
stellte ihnen allen vertraulich dieselbe Frage: wenn Sie die Wahl
hätten, nach Jordanien zurückzukehren oder einen eigenen
palästinensischen Staat zu gründen, was würden Sie vorziehen? Ihre
einstimmige Antwort lautete: natürlich Palästina.
Während einer Knesset-Debatte machte ich diese
Tatsache bekannt, die vom Verteidigungsminister, Moshe Dayan zornig
geleugnet wurde. In einer der folgenden Debatten, dieses Mal mit dem
Ministerpräsidenten Levy Eshkol, sagte ich, Dayan lüge bewusst.
Eshkol verteidigte seinen Minister heftig. Aber
da er nun mal so eine Person war wie er war, sandte er mir am
nächsten Tag einen seiner Chefberater und ließ mich fragen, welchen
Beweis ich hätte. Das vom Berater gemachte Protokoll dieses
Gespräches belegt: „Es gibt keinen Unterschied zwischen der
Information des Abgeordneten Avnery und meiner eigenen. Er stimmt
mit mir aber auch darin überein, dass ein palästinensischer Staat
ohne Ost-Jerusalem nicht möglich ist. Da die Regierung Israels
entschieden hat, Ost-Jerusalem zu annektieren, ist der Vorschlag des
Abgeordneten Avnery unmöglich zu realisieren.“
Als ich dies Munib al-Masri letzte Woche
erzählte, schüttelte er traurig den Kopf.
WIE IST es möglich, fragte er mich später, dass
die Israelis nichts über die Palästinenser wissen, während die
Palästinenser so viel über die Israelis wissen?
Dies kann nicht geleugnet werden. Die
israelischen Schulkinder lernen praktisch nichts über den Islam,
nichts über den Koran, nichts über die ruhmreiche arabische
Geschichte.
Vor vielen Jahren brachte ich bei einer
Knesset-Debatte über Bildung die Idee vor, dass jeder Schüler in
Israel nicht nur die Geschichte seines Volkes – die jüdische bzw.
die arabische – lernen sollte, sondern auch die Geschichte des
Landes von der Antike bis heute, über die Kanaaniter, Phönizier,
Israeliten, Samaritaner, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner,
Araber, Philister, Kreuzfahrer, Mamelucken, Türken, Palästinenser,
Briten, Israelis als eine Möglichkeit, um zu sehen, was uns eint.
Dies amüsierte den Bildungsminister so sehr, dass er mich seitdem
„Mameluck“ nannte.
Wenn ein junger Israeli mit 18 Jahren zur Armee
kommt, „weiß“ er nur, dass der Islam eine barbarische,
anti-semitische Religion ist, und dass die Araber ihn ohne einen
Grund töten wollen.
Vielleicht ist das natürlich. Ein unterdrücktes
Volk will über seinen Unterdrücker mehr wissen, aber der Besatzer
hat nicht den Wunsch, über die Besetzten mehr zu wissen als den
Bereich des militärischen Geheimdienstes. Um so mehr als ein
Besatzer dazu tendiert, die besetzte Bevölkerung als minderwertige
Rasse anzusehen, um die Besatzung gegenüber der Welt und sich
selbst zu rechtfertigen.
Jeder Konflikt schafft Mistrauen, Vorurteile,
Hass und Dämonisierung. Wenn dieser über Generationen hinweg geht
wie dieser hier, muss all dies multipliziert werden. Um Frieden zu
machen, muss dies überwunden werden. Deshalb sind Menschen wie Munib
al-Masri so wichtig. Ich wünschte, dass jeder Israeli in der Lage
wäre, Palästinenser wie ihn zu treffen.
Ich wünsche mir auch, dass er der
palästinensische Ministerpräsident wird, der einem Kabinett der
Volksversöhnung zwischen den palästinensischen Fraktionen vorsitzt,
die am Ende zu einer Versöhnung zwischen unsern beiden Völkern
führen wird.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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