Die Geschichte zweier Demonstrationen
Uri Avnery, 30.4.05
Vorgestern
fanden zwei Demonstrationen im Abstand von nur etwa 50 km
statt.
Die eine fand
bei der Siedlung Homesh statt, nicht weit von Jenin.
Zehntausende von Siedlern und ihre Sympathisanten kamen, um
gegen die geplante Evakuierung dieser Siedlung zu demonstrieren.
Die Demonstranten schworen, die Entscheidungen der Regierung
und der Knesset zu sabotieren. Einer von ihnen erklärte sogar,
dass sie höchstens in Särgen, mit der Nationalflagge bedeckt,
weggetragen werden könnten.
Hunderte von
Soldaten und Polizisten waren entlang des Weges stationiert, um
die Demonstranten vor allen Eventualitäten zu schützen. Die
offizielle „Stimme Israels“ im Radio erzählte ihren Hörern, die
Verkehrspolizei habe ihre Instruktionen von den Führern des
Siedlerrates erhalten
Zur selben Zeit
fand eine andere Demonstration bei Bil’in westlich von Ramallah
statt. Seine Bewohner und die der benachbarten Dörfer
demonstrierten zusammen mit israelischen Friedensaktivisten
gegen den „Trennungszaun“, der auf ihrem Land errichtet wird.
Diese
Demonstration wurde heftig von Soldaten und Polizisten
attackiert, die die Demonstranten angriffen, sie schlugen,
verletzten und verhafteten und alte und neue Waffen benützten.
Die Sicherheitsleute hatten „Mord in den Augen“, wie ein
hebräischer Ausdruck lautet.
In dieser
Region gibt es keinerlei Vorwand dafür, dass der Sicherheitszaun
Sicherheitszwecken diene. Das wirkliche Ziel ist für jeden, der
diesen Ort besucht, offensichtlich: Bil’in und den anderen
Dörfern wird das Land geraubt, um die Siedlung von Kiryat
Sefer zu erweitern.
Ich erinnere
mich noch an den Ort von vor zehn Jahren. Damals waren gut
gepflegte Olivenhaine enteignet und von Bulldozern zerstört
worden. Zu jener Zeit hatten uns die Dorfbewohner auch darum
gebeten, dagegen zu protestieren und zu versuchen, dieses
Unrecht zu stoppen.
Nun ist dort
eine große Stadt für ultra-orthodoxe Juden gebaut worden und sie
wächst rapide. Der Trennungszaun verläuft nahe an den letzten
Häusern von Bil’in und schneidet das Dorf von seinen Ländereien
ab. Auf diesen wird ein neuer Stadtteil von Kiryat Sefer gebaut
werden. Zusammen mit den in der Nähe liegenden Siedlungen von
Modiin Illit und Matitiyahu ist es einer der „Siedlungsblöcke“,
die die israelischen Regierungen ( ob Likud oder Labor) – mit
dem Segen von Präsident Bush – annektieren wollen.
Der Plan war,
eine friedliche Demonstration auf der Route des Zaunes
abzuhalten und symbolisch dort einige Olivensetzlinge zu
pflanzen. Aber Erfahrungen in dieser Region lehrten uns, dass
man damit rechnen musste, Sicherheitskräfte würden mit Gewalt
reagieren. Deshalb wurden nur Aktivisten gebeten, daran
teilzunehmen, die die Lage kannten und damit umgehen konnten.
Wir waren etwa 200 Israelis, Männer und Frauen jeden Alters. Die
im Bus gegebenen mündlichen und schriftlichen Instruktionen
gingen dahin, absolut gewaltfrei zu demonstrieren.
Wir rechneten
damit, dass die Busse schon unterwegs angehalten werden können,
und waren auf diese Möglichkeit vorbereitet. Wir waren deshalb
ziemlich überrascht, als wir das Dorf ohne Zwischenfall
erreichten. Erst später wurde uns klar, dass es eine Falle war.
Im Dorf
schlossen wir uns etwa tausend Bewohnern von diesem und den
benachbarten Dörfern an. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Wir
begannen den Marsch in Richtung auf die geplante Route des
Zaunes. An der Spitze gingen der frühere palästinensische
Minister Kadura Fares, der palästinensische
Präsidentschaftskandidat Dr. Mustafa al-Bargouthi, die
arabischen Knessetmitglieder Barakeh, Sakhalka und Dahamsheh,
die Bürgermeister der Dörfer und ich. Wir hielten in unsern
Händen Olivenzweige, die wir auf der Route des Zaunes pflanzen
wollten. Die Dorfjugend trug eine 50m lange palästinensische
Fahne. Vor uns fuhr langsam ein geschmückter Wagen und ein
palästinensischer Aktivist verkündete durch einen mächtigen
Lautsprecher auf hebräisch: „Dies ist eine friedliche und
gewaltfreie Demonstration“.
Etwa einen
Kilometer vor dem Verlauf des Zaunes hielt uns eine Kette
Sicherheitsleute an. Sie trugen keine Abzeichen, und so wussten
wir nicht, ob dies Soldaten oder Grenzpolizisten waren.
Plötzlich wurde
ohne Vorwarnung eine Salve Tränengas auf uns abgeschossen.
Innerhalb Sekunden waren wir von einer Wolke aus weißem Gas
eingehüllt, und der Lärm explodierender Granaten aus allen
Richtungen kam auf uns zu.
Die
Demonstranten zerstoben hustend und würgend nach zwei Seiten.
Manche von ihnen gingen um die Soldaten herum und setzten den
Marsch in felsigem Terrain weiter fort. Sie wurden von einer
zweiten Reihe Soldaten angehalten, die sie auch mit Tränengas
überschütteten.
Wir - an der
Spitze der Demo - gingen weiter und erreichten einen Punkt, der
etwa 50 m von der Route des Zaunes entfernt war. Da griff uns
eine dritte Reihe von Soldaten an. Barakeh hatte einen hitzigen
Wortwechsel mit einem der Offiziere und während sie noch
argumentierten, feuerte ein Soldat eine Gasgranate aus nächster
Nähe zwischen seine Beine. Er wurde leicht am Bein verletzt. Ein
anderer besonders wilder Soldat riss mir das Poster – das
Gush-Shalom-Zeichen mit den gekreuzten Fahnen Israels und
Palästinas - aus den Händen, stieß mich heftig und warf mich
um.
An anderen
Stellen waren die Randale noch schlimmer. Muhamed Hatib,
Mitglied des Dorfkomitees, bemerkte einen Mann mit verdecktem
Gesicht, der begann, Steine auf die Soldaten zu werfen. Er lief
zu ihm und schrie: „Wir haben entschieden, keine Steine gegen
die Soldaten zu werfen; mach dies in deinem Dorf und nicht in
unserm. Woher kommst du eigentlich?“ Der Mann wandte sich ihm
zu, griff ihn an und rief gleichzeitig seine Kollegen auf, riss
das Tuch von seinem Gesicht und setzte sich eine Polizeikappe
auf.
So enthüllte
sich das Geheimnis und wurde von Kameras dokumentiert: „als
Araber verkleidete“ Undercover-Soldaten waren zur Aktion
ausgesandt worden. Diese begannen mit dem Steinewerfen auf die
Sicherheitsleute, um ihnen den Vorwand zu liefern, uns
anzugreifen. In dem Augenblick, in dem sie entdeckt worden
waren, wandten sie sich den nächsten Demonstranten zu und
griffen sie an, zogen Revolver und begannen mit dem Verhaften.
Später, als klar wurde, dass dies von ausländischen Fernsehteams
photographiert worden war, bestätigte die Polizei offiziell,
dass das Steinewerfen die Methode von „arabisierten“
Undercover-Soldaten sei, um in der Menge der Demonstranten
unterzutauchen.
Im Laufe des
Tages kamen noch mehr Details zum Vorschein: Die Armee hatte
eine Einheit eingesetzt, die bis dahin noch nie bei solch einer
Aktion beteiligt war: die Gefängnisdiensteinheit
„Massada“,
deren normale Aufgabe es ist, Meuterer in den Gefängnissen zu
unterdrücken. Dies ist eine besonders brutale Gruppe, wohl die
brutalste im Land, die mit neuen Mitteln zur Bekämpfung von
Aufruhr ausgerüstet ist. Unter anderem mit Salzkugeln, die dafür
bestimmt sind, besonders schmerzhafte Wunden zu verursachen.
Der schon oben erwähnte Muhammad Hatib, 30, Vater von zwei
Kindern, erhielt vier Kugeln in seinen Rücken, der bald voll
schwarz-blauer, geschwollener, kreisförmiger Wunden war.
Diese
Salzkugeln waren zu Beginn der 90er Jahre aus Amerika nach
Israel gebracht worden. Bis jetzt schreckte die Armee davor
zurück, sie einzusetzen, weil sie einen öffentlichen Aufschrei
fürchtete.
Nun wurden sie
uns gegenüber das erste Mal angewandt.
Es scheint,
dass die Armee die ganze Aktion im voraus als Falle vorbereitet
hatte. Die „Massada“-Einheit probierte ihre neue Taktiken und
die neuen Waffen bei diesem friedlichen Marsch von Zivilisten
aus.
Der
erschreckende Unterschied zwischen der Art und Weise, wie die
beiden Demonstrationen behandelt wurden, lassen sehr
nachdenklich werden.
Die Siedler
versuchen offen, den Staat zu lähmen, die Ausführung der
Regierungs- und Knessetentscheidungen zu verhindern und
tatsächlich die israelische Demokratie zu stürzen. Aber Ariel
Sharon und seine Leute rufen öffentlich dazu auf, „sie zu
umarmen“, „ sie zu lieben“ und „Verständnis für ihr Leid zu
haben“. Das ist die Direktive, die den Sicherheitskräften
gegeben wurde. Für Friedensaktivisten ist ganz andere Behandlung
vorgesehen.
Dies wirft ein
Licht auf ein noch wichtigeres Phänomen, das die Zukunft Israels
entscheiden mag. Hier haben sich die Menschen schon so daran
gewöhnt, dass es für sie natürlich ist.
Im Ausland weiß
man nichts davon.
Tatsache ist,
dass alle israelischen Medien täglich in ihren Hauptnachrichten
die Propaganda der Siedler verbreiten. Jedes einzelne
Nachrichtenprogramm auf allen drei TV-Kanälen widmet sich
ausführlich jeden Abend den Ereignissen der Siedler, Reden von
Siedlern und Interviews mit Siedlern. Oft füllen diese Berichte
das halbe Nachrichtenprogramm.
Zwischen den
Siedlern und den Medien ist eine Art Symbiose entstanden – sie
arbeiten „mit einem Kopf“. Die Siedler bereiten täglich mehrere
Begebenheiten für die Medien vor, und diese schöpfen sie gierig
aus und dienen so als unbezahlte Propagandaorgane der Siedler
und der äußersten Rechten. Es war einmal eine Zeit, da war es
üblich, der andern Seite – um des Ausgleichs willen - das Recht
der Antwort zu geben. Nicht mehr. Da gibt es keine andere
Seite.
Im
Nachrichtenprogramm wird nicht ein Wort – buchstäblich kein
einziges Wort – der Kritik an den Siedlern laut. Das
Establishment der „Linken“ spricht auch von der Notwendigkeit,
„sie zu umarmen“ und „sie zu verstehen“, und so tun es natürlich
alle Sprecher der Regierung und der großen Parteien. Leuten, die
eine gegensätzliche Meinung haben, wird keine Gelegenheit
gegeben, in den Hauptmedien des Landes über die Siedler zu
reden.
Auf diese Weise
stellt die israelische Demokratie alle ihre Medien den Feinden
der Demokratie zur Verfügung. Selbst in der Weimarer Republik
ging die Dummheit nicht so weit.
Absurd? Das
scheint nur so. In Wirklichkeit reflektiert es die reale
Situation: trotz der lauten Rede über „Abzug“ ist Sharons Herz
bei den Siedlern. Er will die meisten Westbanksiedlungen – wenn
nicht gar alle – annektieren.
Die
gegenwärtige Kontroverse über eine Handvoll kleiner Siedlungen
im Gazastreifen ist in seinen Augen eine Art Familienkabbelei
und wird schnell vorübergehen. Tatsächlich mag Sharon daran
interessiert sein, die Aufregung zu schüren, um die Amerikaner
zu überzeugen, dass es unrealistisch sei, von ihm zu erwarten,
die Westbanksiedlungen und die Außenposten aufzulösen. In der
Tat haben Armee und Polizei niemals Tränengas gegen
Demonstranten vom rechten Flügel eingesetzt, auch dann nicht,
wenn sie physisch angegriffen oder gar verletzt wurden ( wie es
regelmäßig z.B. in Hebron geschieht) oder wenn die Siedler
wichtige Straßen blockieren und riesige Verkehrsstaus
verursachen.
Andrerseits
ist die Kontroverse mit uns, den Friedensaktivisten, der
wirklichen Opposition der Regierung, ein echter Kampf um die
Zukunft Israels: ob es ein Staat innerhalb der Grünen Linie
sein wird, ein liberaler, demokratischer Staat, der in Frieden
mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat an seiner Seite
lebt; oder ein aggressiver, nationalistischer Staat, der
praktisch die ganze Westbank festhält und die Palästinenser in
ein paar isolierte Enklaven einsperrt.
Wenn man dies
so sieht, dann sind die der Armee gegebenen Direktiven ganz
logisch: Umarmt sie, weil sie eure Brüder sind – und schlagt
die Friedensaktivisten, weil sie eure Feinde sind.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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