Danke, Dubby!
Uri Avnery, 16.10.04.
Wirklich wichtig
ist nicht, was er sagte, oder warum er es sagte, sondern welche
Weltanschauung daraus spricht.
Bis jetzt hatte
jeder versucht, das Interview von Dov („Dubby“) Weisglass, Ariel
Scharons intimstem Freund, zu analysieren. Aber da gibt es äußerst
wenig zu analysieren. Sein Statement ist glasklar: der „Abzugsplan“
ist dazu bestimmt, den Friedensprozess für die nächsten Jahrzehnte
„einzufrieren“, alle Friedenspläne in „Formaldehyd“ * zu legen, um
der Möglichkeit, einen palästinensischen Staat zu schaffen, ein für
alle Mal ein Ende zu setzen.
Ein Dutzend kleiner
Siedlungen werden aufgelöst, um praktisch alle 250 000
Westbanksiedler dort zu halten, wo sie sind. Israel wird den
Gazastreifen „aufgeben“, der 1,3% des Palästinas von 1948 beträgt,
um schließlich die Westbank, die 16 mal größer ist, auf Dauer in
Besitz zu nehmen. Der Gazastreifen wird zu Lande, zu Wasser und von
der Luft aus von der Welt abgeschnitten – genau wie die sieben oder
acht ähnlichen palästinensischen Enklaven, die in der Westbank
gerade entstehen.
Warum hat „Dubby“
diesen Plan preisgegeben? Diese Enthüllung spuckte ins Gesicht
der Laborpartei, genau in dem Augenblick, wo Sharon sie am meisten
benötigte!
Die Antwort ist
einfach: Sharon will den rechten Flügel überzeugen – für die Linken
hat er nur Verachtung übrig. Von 40 Mitgliedern seiner Likudfraktion
in der Knesset enthielten sich 13 in dieser Woche der Stimme,
obwohl es bei dieser Abstimmung nur um eine Resolution ging, die
eine unbedeutende Rede von ihm zu Kenntnis nahm. Sharon will dem
extrem rechten Flügel seiner eigenen Partei erklären, dass der
„Abzug“ eher ein Kriegsplan als ein Friedensplan ist, eher ein Plan
ist, um Gebiete zu annektieren, als ein Plan, um Gebiete
„aufzugeben“, eher ein Plan für eine schnelle Expansion der
Westbank-Siedlungen ist, als ein Plan, die Siedlungen im
Gazastreifen aufzulösen.
Sharon kann dies
nicht so offen sagen, ohne George W. Bush lächerlich zu machen.
Deshalb sandte er seinen vertrauten Leutnant, dies an seiner Stelle
von sich zu geben. Die Siedler wissen natürlich, dass „Dubby“
„seines Meisters Stimme“ ist.
Sharon kann es sich
leisten, die „Linke“ mit Verachtung zu strafen. Als Beweis diente
die Farce von Shimon Peres: er analysierte Weisglass’ Statement in
einer überzeugenden Knessetrede und verurteilte Sharon scharf.
Unmittelbar danach versammelte er die Knessetfraktion von Labor und
bat sie darum, sie möge sich bei der Abstimmung gegen Sharon der
Stimme enthalten. Die Mitglieder aber waren von seiner Rede so
überzeugt, dass sie seinen Vorschlag mit 10 zu 9 Stimmen verwarfen.
„Es war mir zu gut gelungen“, beklagte sich Peres.
Danach verkündigten
die beiden „Links“-Parteien, Labor und Yakhad ( früher Meretz), dass
sie für den Abzugsplan stimmen würden, wenn Sharon ihn der Knesset
unterbreitet. Keine Enthüllungen würden sie dazubringen, davon
Abstand zu nehmen. Sharon wusste, dass er sich auf ihre Schwäche
verlassen kann – und wie recht hatte er.
Nur Weisglass
selbst mag einen Preis zahlen. Es ist kaum glaubhaft, dass die
wunderbare Freundschaft zwischen Dubby und Condy, zwischen Weis und
Rice, halten wird, nachdem er sie quasi in der Öffentlichkeit
ausgezogen hat.
Aber das alles
ist wirklich nicht wichtig; denn Weisglass hat denen, die Sharons
Absichten kennen, nichts Neues mitgeteilt. Und wer immer sich etwas
vormachen lassen will, wird sich auch weiterhin täuschen lassen.
Was wirklich von
Bedeutung ist, ist die Weltanschauung Sharons, wie sie aus dem
langen Interview von Weisglass auftaucht. Wenn er die Art und Weise
von Sharons Denken aufdeckt, wirft er Licht auf seine grundlegenden
Überzeugungen und Vorstellungen.
Sharons Welt ist
ein-dimensional, so wie die flache Welt vor Galileo.
Eine Welt, in der
brutale Macht – und nur brutale Macht – herrscht.
Dies ist eine Welt,
die keine Vergangenheit und keine Zukunft hat, keine Lektionen aus
der Geschichte und keine Voraussicht kommender Dinge. Was jetzt
existiert, wird immer existieren.
Dies ist eine Welt
ohne moralische Kräfte, wo die Meinungen der Menschheit nichts
zählen.
Die Welt von
Stalin, der einmal geringschätzig fragte: „Wie viele Divisionen hat
der Papst?“
Laut Sharon ist
das einzige, was zählt, das Interesse Israels und des jüdischen
Volkes.
Sein Interesse ist
es, alle Gebiete zwischen Mittelmeer und Jordan – mindestens - in
Besitz zu nehmen.
Die Palästinenser
sind ohnmächtig. Darum stellen sie nichts anderes als Objekte dar,
die man, so viel man will, herumschubsen kann.
Europa ist wie ein
pathetischer Haufen – zum Teufel mit ihm!
Es gibt nur eine
wirkliche Macht in der Welt: die USA. Sie sind die Welt-Manager.
Alle Macht der Welt
ist im Weißen Haus konzentriert. Der Präsident und eine handvoll
anderer Leute sind die Manager.
So ist es jetzt –
und so wird es in Zukunft bleiben.
Darum gibt es nur
eines für uns: die Macht der israelischen Armee und die Allianz mit
dem Weißen Haus aufrecht zu erhalten. Alles andere ist Unsinn,
Phantasien von Intellektuellen.
Die israelische
Armee und das Weiße Haus – das ist die Siegeskombination. Mit ihr
werden wir das ganze Land in Besitz nehmen. Ein Friedensprozess
ist unnötig. Frieden ist unnötig! Die Palästinenser sind ein zu
vernachlässigender Faktor. Lasst sie für die nächste Zeit in ihren
Ghettos vegetieren! Zu gegebener Zeit werden sie von alleine aus dem
Land verschwinden.
Das ist – frei
übersetzt – die Welt Sharons laut Weisglass
Oberflächlich
betrachtet, ein realistisches Bild.
Sharons Gedanken
sind primitiv, und vielleicht glaubt man deswegen, er sehe die
Dinge so, wie sie wirklich sind.
Wirklich? Ist das
tatsächlich das wirkliche Bild? Die Geschichte zeigt, dass brutale
Militärmacht ein stumpfes Instrument ist, das niemals komplexe
Probleme löst. Ein Führer, der sein ganzes Vertrauen auf sie setzt,
wird entdecken, dass sie wie ein gebrochenes Rohr ist, das die Hand
verletzt, die nach ihm greift.
Was Thomas
Jefferson in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung über „eine
dezente Achtung vor der Meinung der Menschheit“ schrieb, war nicht
nur ein leeres Wort. Es war eine realistische Beurteilung: die
öffentliche Meinung der Welt beeinflusst in tausend Weisen das
Benehmen der Nationen und Regierungen. Das kann weitreichende
Auswirkungen haben. Nach einem britischen Dichter ist „die Feder
mächtiger als das Schwert“. Und der Papst hat tatsächlich
Divisionen, auch wenn sie nicht auf dem Paradeplatz marschieren.
Die militärische
Macht ist in der Welt nur eine der aktiven Kräfte. Die
wirtschaftlichen Kräfte haben keinen kleineren Einfluss - auf weite
Sicht hin ist ihr Einfluss tatsächlich viel größer. Moralische
Kräfte sind unsichtbar, aber ihre Auswirkungen sind immens. Einer
der größten militärischen Führer der Geschichte, Napoleon, war sich
dessen sehr bewusst.
Die menschliche
Sehnsucht nach Freiheit ist unbesiegbar und darum auch der
Freiheitskampf unterdrückter Nationen. Dies zu ignorieren, ist kein
Realismus – es ist Blindheit.
Sogar George W.
Bush, eine Person, die nicht weniger primitiv und brutal als Sharon
ist, lernt gerade, dass das „Weltmanagement“ seine Grenzen hat, da
er langsam im irakischen Morast versinkt. Der Glaube, Israels
Probleme könnten nur mit Hilfe und in Verbindung mit dem Weltmanager
gelöst werden, ist illusorisch.
Auch wenn ein Land
eine eindrucksvolle militärische Überlegenheit gewonnen hat, ist die
Welt nicht eindimensional - sie ist ein sehr komplizierter Ort;
denn unzählige Kräfte sind am Werk, nichts bleibt an seinem Platz.
„Alles ist im
Fluss“, sagte der alte Philosoph Heraklit.
Man ist versucht,
Hamlet frei zu zitieren : „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und
Erde, als du, Arik, dir in deiner Philosophie zusammenträumst.“
Darum ist Sharons
Weltsicht, die zunächst so realistisch erscheint, das völlige
Gegenteil von Realismus. Es ist eine Sicht der Dinge, die zur
Katastrophe führen wird.
Und dir, Dubby, sei
Dank dafür, dass du sie uns – egal aus welchen Motiven - aufgedeckt
hast.
* Formaldehyd wird zum Konservieren
von Leichen benützt
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert) |