In einem Wort: Massaker
Uri Avnery, 11.11.06
„DANKT GOTT für die
amerikanischen Wahlen“, seufzten die Minister und
Generäle erleichtert auf.
Sie freuten sich nicht über den
Fußtritt in den Hintern, den das amerikanische Volk
George W. Bush verabreichte. Sie lieben Bush.
Aber wichtiger als die Abfuhr,
die Bush erteilt wurde, ist die Tatsache, dass die
Nachrichten aus Amerika die schrecklichen Berichte
über das, was in Beit Hanun geschehen war, beiseite
schoben. Statt Schlagzeilen zu machen, wurden sie
ganz unten auf die Zeitungsseite gedrängt.
DIE DINGE beim richtigen Namen zu
nennen, ist der erste bedeutende revolutionäre Akt,
sagte Rosa Luxemburg. Wie soll man also das
benennen, was in Beit Hanun geschah?
„ Ein Unglücksfall“, sagte eine
hübsche Fernsehansagerin in einem der TV-Programme.
„Tragödie“, sagte ihre ebenfalls hübsche Kollegin
auf einem anderen Kanal. Eine dritte, die nicht
weniger attraktiv war, schwankte zwischen „Vorfall“,
„Fehler“ und „Unfall“.
Es war tatsächlich ein
Unglücksfall, eine Tragödie und ein Unfall. Aber vor
allem war es ein Massaker, ein M-a-s-s-a-k-e-r.
Das Wort „Unglücksfall“ lässt an
etwas denken, wofür niemandem die Schuld gegeben
werden kann – wie z.B. ein Blitzschlag. Eine
Tragödie ist ein trauriges Geschehen oder eine
Situation wie die der Einwohner von New Orleans nach
der Flutkatastrophe. Das Geschehen in Beit Hanun war
tatsächlich traurig aber keine Tat Gottes, es war
eine Tat, die Menschen beschlossen und ausgeführt
haben.
UNMITTELBAR, nachdem die Fakten
bekannt wurden, trat der ganze Chor der
professionellen Apologeten und Rechtfertiger auf und
die, die ihr Bedauern ausdrücken und Vorwände
erfinden, ein Chor, der in solchen Fällen in
fieberhafte Aktion tritt.
„Ein unglückseliger Irrtum … er
kann in der besten Familie passieren … der
Mechanismus eines Geschützes kann falsch
funktionieren … Menschen können Fehler machen …Errare
humanum est, Irren ist menschlich … wir feuerten
zehntausende Artilleriegranaten ab, und es gab nur
drei Unfälle. (In der Olmert-Peretz-Halutz-Ära war
der erste in Kana im 2. Libanonkrieg, der 2.
ereignete sich an der Gaza-Küste, wo eine ganze
Familie ausgelöscht wurde). Aber wir entschuldigten
uns doch! Was verlangen sie denn noch von uns?“
Es gab auch Argumente wie „Sie
sind selber schuld!“ Wie üblich: die Schuld liegt
beim Opfer. Die kreativste Erklärung kam vom
stellvertretenden Verteidigungsminister Ephraim
Sneh: „Die praktische Verantwortung liegt bei uns,
aber die moralische bei ihnen.“ Wenn sie
Qassam-Raketen abschießen, was können wir anderes
tun, als mit Granaten reagieren?
Ephraim Sneh gelangte erst vor
kurzem in die Stellung eines Stellvertretenden
Verteidigungs-ministers. Diese Ernennung war der
Dank dafür, dass die Arbeitspartei sich mit Avigdor
Libermans Eintritt in die Regierung einverstanden
erklärte (in biblischer Sprache würde man dazu
„Hurenlohn“ sagen, Deut.23,19) Nun, nach nur wenigen
Tagen im Amt, wurde Sneh die Möglichkeit gegeben,
seinen Dank auszusprechen.
(In der Sneh-Familie ist es
Tradition, verabscheuungswürdige Handlungen zu
verteidigen. Ephraims berühmter Vater Moshe Sneh war
der Vorsitzende der israelischen kommunistischen
Partei. Er rechtfertigte alle Massaker, die unter
Stalin begangen wurden, nicht nur das Gulagsystem,
sondern auch den Mord jüdischer Kommunisten in der
UDSSR und seinen Satellitenstaaten, und die Sache
mit dem „Komplott“ der jüdischen Ärzte.
Jeder Gedanke einer Gleichsetzung
von Qassams und Artilleriegranaten, der sogar von
einigen Peacenics gemacht wurde, ist vollkommen
falsch. Und nicht nur deshalb, weil es keine
Symmetrie zwischen Besatzern und Besetzten gibt.
Hunderte von abgefeuerten Qassams, die seit mehr als
einem Jahr abgefeuert wurden, haben einen einzigen
Israeli getötet. Die israelischen Granaten, Raketen
und Bomben haben Hunderte von Palästinensern
getötet.
HABEN DIE Granaten die Wohnungen
der Leute absichtlich getroffen? Da gibt es nur zwei
mögliche Antworten:
Die extreme Version: Ja. Die
Folge der Ereignisse weist in diese Richtung. Die
israelische Armee, eine der modernsten in der Welt,
hat keine Antwort auf die Qassams, eine der
primitivsten Waffen. Diese Kurzstreckenrakete (die
nach dem 1.palästinensischen Kämpfer Az-al-Din
al-Qassam genannt wird, der1935 in einem Gefecht
gegen die britische Mandatsregierung fiel,) ist kaum
mehr als ein selbst gebasteltes mit hausgemachten
Explosivstoffen gefülltes Rohr.
In einem aussichtslosen Versuch,
das Abfeuern von Qassams zu verhindern, fällt das
israelische Militär regelmäßig in die Städte und
Dörfer des Gazastreifens ein und übt dort eine
Terrorherrschaft aus. Vor einer Woche fiel das
Militär in Beit Hanun ein und tötete mehr als 50
Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. In dem
Augenblick, in dem es Beit Hanun verließ, feuerten
die Palästinenser so viel wie möglich an Qassams
nach Askalon, um zu beweisen, dass diese Überfälle
sie nicht abschrecken.
Die Frustration der Generäle
wächst auf diese Weise weiter. Askalon ist keine
entlegene und von Armut geplagte kleine Stadt wie
Sderot, deren Einwohner marokkanischen Ursprungs
sind. In Askalon lebt auch eine elitäre Bevölkerung,
europäischer Herkunft. Die Armeechefs, die ihre Ehre
im Libanonkrieg verloren haben, waren - nach dieser
Version - sehr darum bemüht, den Palästinensern ein
für alle Mal eine Lektion zu erteilen, entsprechend
einem israelischen Sprichwort: „Wenn Gewalt nichts
hilft, gebrauche noch mehr Gewalt“.
Die andere Version behauptet,
dass es tatsächlich ein technischer Fehler war, ein
verhängnisvoller Defekt in der Zielvorrichtung. Aber
der Kommandeur einer Armee weiß sehr wohl, dass eine
gewisse Häufigkeit von Fehlern unvermeidbar ist. So
und soviel Prozent der Soldaten werden beim
Trainieren getötet, so und so viele sterben durch
eigene Leute („friendly fire“), so und so viele
Granaten fallen in einiger Entfernung vom geplanten
Ziel. Die Munition, die von der Artillerie gegen
Beit Hanun angewandt wurde – dieselbe, die auch in
Kana verwendet wurde – ist für ihre Ungenauigkeit
bekannt. Mehrere Faktoren können dazu beitragen,
dass die Granate mehrere hundert Meter vom Kurs
abweicht.
Derjenige, der entschieden hat,
diese Munition gegen ein Ziel in der Nähe von
Zivilpersonen anzuwenden, weiß, dass diese tödlicher
Gefahr ausgesetzt sind. Deshalb gibt es keinen
wesentlichen Unterschied zwischen den beiden
Versionen.
Wem muss also die Schuld
zugeschoben werden? Zunächst einmal der
gleichgültigen Haltung, die sich in der Armee breit
gemacht hat. Vor noch nicht langer Zeit enthüllte
Gideon Levy (in Haaretz), dass ein
Bataillonkommandeur seine Soldaten nach dem Töten
von 12 Palästinensern mit folgenden Worten gelobt
habe: „Wir haben 12 : 0 gewonnen.“
Schuldig sind natürlich die
Artilleristen und ihre Kommandeure, einschließlich
des Batteriechefs. Und der General, der für das
Südliche Kommando zuständig ist, Yoav Gallant, der
sich gleichgültig gibt und sich mit scheinheiligen
Plattitüden herausredet. Und der stellvertretende
Generalstabschef. Und der Generalstabschef Dan
Halutz, der Luftwaffengeneral, der bei einem
ähnlichen Vorfall sagte, dass er nachts gut schlafen
könne, nachdem er eine Eintonnen-Superbombe über ein
Wohngebiet abgeworfen hatte. Und natürlich der
Verteidigungsminister Amir Peretz, der die Anwendung
der Artillerie genehmigte, nachdem er sie schon
einmal verboten hatte – d.h. also, dass ihm die
voraussehbaren Konsequenzen bewusst waren.
Der Schuldigste von allen aber
ist der große Apologet: Ehud Olmert, der
Ministerpräsident.
Olmert protzte vor kurzem mit dem
klugen Verhalten der Regierung: „Es war uns möglich,
Hunderte von Terroristen zu töten – und die Welt hat
nicht reagiert.“ Nach Olmert ist jeder bewaffnete
Palästinenser ein Terrorist, einschließlich der
Zehntausende palästinensischer Polizisten, die in
Abstimmung mit Israel Waffen tragen dürfen. Sie
dürfen nun frei abgeschossen werden. „Terroristen“
sind auch die Frauen und Kinder, die auf der Straße
und in ihren Wohnungen getötet werden. (Einige sagen
ganz offen: die Kinder werden groß und werden zu
Terroristen; die Frauen gebären Kinder, die zu
Terroristen werden.)
Olmert sagt, er könne so weiter
machen, da die Welt dazu schweigt. Die USA benutzte
heute das Veto gegen eine sehr sanfte Resolution des
Sicherheitsrates gegen dieses Geschehen. Heißt das,
dass die Regierungen in aller Welt – Amerika,
Europa, die arabische Welt – an dem Verbrechen in
Beit Hanun mitschuldig sind? Das kann am besten von
deren Bürgern dieser Länder selbst beantwortet
werden.
DIE WELT hat dem Massaker keine
große Aufmerksamkeit geschenkt, weil es am
US-Wahltag passierte. Die Wahlergebnisse mögen
unsere Führer traurig stimmen – mehr als das Blut
und die Tränen der Mütter und Kinder im
Gazastreifen. Sie waren aber froh darüber, dass die
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit durch die Wahl
abgelenkt wurde.
Ein Zyniker kann sagen:
Demokratie ist wunderbar, der Wähler kann den
Troddel, den er das letzte Mal gewählt hat, durch
einen anderen Troddel ersetzen.
Wir wollen jedoch nicht zu
zynisch sein. Tatsache ist, dass das amerikanische
Volk nach einer Verzögerung von drei Jahren und
Zehntausenden von Toten kapiert hat, was die
Befürworter für Frieden weltweit – einschließlich
uns hier in Israel – schon am 1.Tag gesagt haben:
der Krieg wird eine Katastrophe werden. Er wird das
Problem nicht lösen, sondern wird einen
gegenteiligen Effekt haben.
Eine Veränderung wird aber nicht
schlagartig kommen. Die US ist ein riesiges Schiff.
Wenn es sich dreht, muss es einen großen Kreis
schlagen und benötigt dafür eine Menge Zeit – im
Gegensatz zu Israel, einem kleinen Schnellboot, das
fast an Ort und Stelle wenden kann. Aber die
Richtung ist klar.
In den beiden neuen
Kongresshäusern hat die Pro-Israel-Lobby
(Unterstützer der israelischen Rechten) einen großen
Einfluss, vielleicht sogar mehr als in den beiden
letzten. Aber die amerikanische Armee wird damit
beginnen, den Irak zu verlassen. Die Gefahr eines
neuen militärischen Abenteuers im Iran und/ oder in
Syrien ist ziemlich geschwunden. Die verrückten
Neo-Cons, die meisten von ihnen Juden, die die
extreme Rechte in Israel unterstützen, verlieren an
Macht – genau wie ihre Alliierten, die verrückten
christlichen Fundamentalisten.
Der frühere Ministerpräsident
Levy Eshkol sagte einmal: „Wenn Amerika niest,
erkältet sich Israel“. Wenn Amerika sich erholt,
besteht vielleicht auch für uns Hoffnung.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)