Ideokratie
Uri Avnery, 30. März 2013
ENDLICH HAT sich unser Ministerpräsident für die
„Einsatzfehler“, die zum Tode von neun Türken während des Angriffs
auf die Mavi Marmara geführt haben, bei den Türken entschuldigt. Es
war das Schiff, das die israelische Blockade des Gazastreifens zu
brechen versuchte.
Er hat zwei Jahre und zehn Monate gebraucht, um dies
zu tun.
Halleluja!
Aber die wirkliche Entschuldigung hätte nicht an die
Türken gehen sollen, sondern an die Israelis. Und nicht nur wegen
der Fehler, die die Soldaten begangen haben.
DIE GANZE Affäre war von Anfang bis Ende ein Akt
puren Schwachsinns. Von Anbeginn an.
Dies ist im Nachhinein leicht zu sagen. Aber meine
Freunde und ich wiesen öffentlich auf die Dummheit dieser Aktion
hin, bevor sie anfing.
Wie wir damals sagten, war der Schaden mit dem
Stoppen des türkischen Schiffes viel größer als der Schaden, der –
wenn überhaupt – verursacht worden wäre, wenn das Schiff sein Ziel
hätte erreichen dürfen.
Was hätte denn im schlimmsten Fall passieren können?
Das Schiff hätte vor der Küste des Gazastreifens geankert, die
internationalen Aktivisten an Bord hätten einen begeisterten Empfang
erlebt, Hamas hätte einen kleinen Sieg gefeiert und das wär‘s
gewesen. Eine Woche später hätte sich keiner mehr darum gekümmert
oder daran erinnert.
Offiziell war die Blockade von der israelischen
Marine aus einem einzigen Grund auferlegt worden, um zu verhindern,
dass Waffen den von der Hamas beherrschten Gazastreifen erreichen
können. Wenn dies eine ernsthafte Sorge gewesen wäre, hätte die
Blaue Marmara auf hoher See gestoppt und nach Waffen durchsucht
werden können, um sie dann weiter fahren zu lassen. Das wurde nicht
einmal in Erwägung gezogen.
Von da an ging es nur um Prestige, politisches oder
persönliches Ego. Kurz gesagt um Schwachsinn.
Bei einer militärischen Aktion weiß niemand im
Voraus, was geschehen wird. Die Dinge entwickeln sich nie wie
geplant. Mit Verlusten muss gerechnet werden. Und wie gesagt wird:
das erste Opfer in einem Krieg ist der Kriegsplan.
Der Plan ging schief. Statt geduldig den Angriff in
internationalen Gewässern über sich ergehen zu lassen, hatten die
Türken die unglaubliche Unverschämtheit, die Soldaten mit Stöcken
und Ähnlichem „anzugreifen“. Die armen Soldaten hatten keine andere
Wahl, als sie zu erschießen.
Vernünftig wäre nun gewesen, sich sofort zu
entschuldigen, den Familien der Opfer großzügige Kompensationen zu
zahlen und die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen.
Aber nicht so bei uns Israelis. Weil wir im Recht
sind. Wie immer. Es liegt in unserm Wesen, im Recht zu sein. Wir
können nicht anders.
(Ich erinnere mich an eine Fahrschule der britischen
Armee in Palästina: In der Mitte standen die Reste eines zerstörten
Autos mit der Aufschrift: „Aber Er hatte Recht!“)
Wir misshandelten die Passagiere, stahlen ihre
Fotoapparate und anderen persönlichen Besitz und ließen sie nur nach
gründlicher Demütigung gehen. Wir klagten sie an, gefährliche
Terroristen zu sein. Beinahe hätten wir noch Entschädigungen für
unsere Soldaten verlangt, die schließlich die wirklichen Opfer
waren.
DIE REINSTE Dummheit von allem wurde durch die
Tatsache illustriert, dass die Türkei unser engster Verbündeter in
der Region war.
Die beiden Militärs hatten sehr enge Beziehungen
geknüpft. Die Nachrichtendienste beider Länder waren wie Siamesische
Zwillinge. Wir verkauften ihnen riesige Mengen militärischer
Ausrüstung und Waffen. Wir führten gemeinsame Militärmanöver durch.
Auch zwischen beiden Völkern bestanden herzliche
Beziehungen. Jedes Jahr verbrachte eine halbe Million Israelis ihre
Ferien an der türkischen Küste. Der türkische Ausdruck für
Touristen „alles eingeschlossen“ wurde in Israel zum Sprichwort.
Die türkisch-israelischen Flitterwochen begannen
gleich, nachdem David Ben Gurion die „Strategie der Peripherie“
schuf – eine Allianz der nicht-arabischen Länder, die die arabischen
Länder umgaben. Die Türkei sollte dabei eine bedeutende Rolle
spielen, zusammen mit dem Iran des Shah, mit Äthiopien, Tschad und
anderen.
Was lief falsch? Apologeten der Idiokraten
behaupten, dass sich die Beziehungen zur Türkei sogar ohne die
blaue Marmara verschlechtert hätten, da sie von der EU schon
abgewiesen und gedemütigt worden sei und sie sich der arabischen
Welt zuwende. Eine religiöse Partei hatte auch die Macht von den
säkularen Erben des großen Atatürk übernommen und besonders die der
Armee. Wäre es angesichts dieser Entwicklungen nicht klug gewesen,
sogar noch sorgfältiger als vorher mit unsern Beziehungen zur Türkei
umzugehen?
Stattdessen benahm sich unser stellvertretender
Außenminister, ein Danny Ayalon, so ausgesprochen idiotisch, dass es
in der Schule für Diplomaten als abschreckendes Beispiel gelehrt
werden sollte. Er lud den türkischen Botschafter ein, um ihm einen
Verweis zu verpassen, bot ihm einen Sitz an, der merklich tiefer als
sein eigener war und prahlte mit der Demütigung.
Was sich tatsächlich ereignete, war, dass Ayalon das
Treffen in seinem Arbeitszimmer in der Knesset hielt. In all diesen
Räumen – einschließlich dem meinigen vor langer Zeit – stand ein
normaler Stuhl und ein niedriges Sofa. Der türkische Diplomat
fühlte sich ganz bequem und fühlte sich nicht beleidigt. Aber als
Ayalon die Journalisten hereinbat, machte er sie auf die Demütigung
aufmerksam. Sie veröffentlichten dies und veranlassten so, dass die
türkische Öffentlichkeit vor Zorn explodierte.
Der Text der Entschuldigung war schon vor mehr als
zwei Jahren formuliert. Die israelische Armee bat die Regierung,
dies zu akzeptieren. Aber unser damaliger Außenminister Avigdor
Lieberman legte sein beträchtliches Gewicht auf die Waage und setzte
sein Veto ein. Wir sind eine stolze Nation mit einer stolzen Armee,
die aus stolzen Soldaten besteht. Israelis entschuldigen sich nicht.
Niemals.
DA NETANJAHU Lieberman fürchtet, muss er sich sehr
umsichtig verhalten.
Lieberman ist jetzt ein Minister im Wartestand. Er
kann sein Ministeramt nur wiedergewinnen, falls er - wenn
überhaupt - von der Bestechung frei gesprochen wird, wegen der er
angeklagt wurde. Aber er ist noch immer der Chef einer Partei, von
der Netanjahu wegen parlamentarischer Unterstützung abhängig ist.
So ein kompliziertes Manöver muss natürlich gut
vorbereitet sein. Die Entschuldigung war längst mit den Türken
vereinbart worden. Präsident Obamas Besuch in Israel sollte die
Gelegenheit sein, die auch dem Präsidenten die Aura eines
erfolgreichen Vermittlers gab. Aber der Deal wurde erst während der
allerletzten Minuten seines Besuches angekündigt.
Warum? Sehr einfach, um Netanjahu die Möglichkeit zu
geben, zu behaupten, dass alles spontan geschah: während eines
Telefongesprächs, das von Obama initiiert war. Daher hätte er sich
unmöglich vorher mit seinem Kabinett und mit Lieberman beraten
können.
Kindisch? Infantil? Tatsächlich.
NUR IN Israel? Ich bezweifle es. Ich fürchte, dass in
den meisten Ländern, den großen wie auch kleinen, entscheidende
Angelegenheiten des Staates so gemanagt werden. Und nicht nur
heutzutage.
Es ist ein erschreckender Gedanke, und deshalb wird
er von den meisten Leuten nicht akzeptiert. Sie wollen glauben, dass
ihr Geschick in den Händen von verantwortlichen Führern mit
hervorragender Intelligenz liegt. Genau wie sie sich weigern, zu
glauben, dass der Himmel leer ist und kein allmächtiger Übervater
mit unbegrenztem Mitleid dort wartet, um auf ihre Gebete zu
antworten.
Das erste historische Beispiel äußerster Inkompetenz,
das mir ins Gedächtnis kommt, ist der Ausbruch des 1. Weltkrieges.
Eine Gruppe nationalistischer Serben tötete den österreichischen
Thronfolger. Ein beklagenswerter Vorfall, aber sicher kein Grund
für einen Krieg, in dem mehrere Millionen Menschen elendiglich
umkamen.
Aber die Trottel, die den 84jährigen Kaiser in Wien
umgaben, dachten, dies wäre eine Gelegenheit, einen leichten Sieg zu
erringen und überbrachten den Serben ein Ultimatum. Der russische
Zar, umgeben von Herzögen und Erzherzögen, wollte seinen slawischen
Brüdern helfen und mobilisierte seine Armee. Sie wussten
wahrscheinlich nicht, dass entsprechend einem lange zuvor
vorbereitetem Militärplan, - in so einem Fall die deutsche Armee -
Frankreich angreifen und zerschlagen sollte, bevor die schwerfällige
russische Armee ihre Mobilisierung fertigstellen und die deutsche
Grenze erreichen konnte. Der deutsche Kaiser, ein seelisch gestörter
Jugendlicher, der nie erwachsen wurde, handelte entsprechend. Die
Briten, die es nie liebten, von zu klugen Leuten beherrscht zu
werden, eilten dem armen Frankreich zu Hilfe. Und so ging es weiter.
Konnten all diese Führer komplette Dummköpfe gewesen
sein? Wurde Europa von einer alles beherrschenden Idiokratie
regiert? Vielleicht. Aber vielleicht sind vernünftige, intelligente
Leute unter ihnen. Ist es, dass diese Macht nicht nur korrumpiert,
wie Lord Acton in seinem bekannten Ausspruch sagte, sondern auch
verblödet.
Auf jeden Fall habe ich in meinem Leben so viele
normale Menschen kennen gelernt, die, nachdem sie zur Macht gekommen
waren, so viele dumme Dinge taten, dass letzteres der Fall sein
muss.
ICH WÜNSCHTE, ich hätte die Willenskraft, nicht
noch einmal den klassischen jüdischen Witz über den Türken zu
erzählen, den ich unmittelbar nach dem Mavi Marmara-Vorfall
zitierte, zu widerstehen.
Es geht um die jüdische Mutter im Russland des
19.Jahrhunderts, deren Sohn aufgerufen war, in der Armee des Zaren
zu dienen. und zwar im Krieg gegen die ottomanische Türkei.
„Überanstreng‘ dich nicht“; fleht sie ihn an, „töte einen Türken,
und dann ruh dich aus. Töte noch einen, und ruh dich wieder aus,
töte …“
„Aber was dann, wenn der Türke mich tötet?“
unterbricht der Junge.
„Dich töten?“ antwortet die Mutter erschreckend und
überrascht. „Aber warum? Was hast du ihm getan?!“
Lasst uns einen Türken töten, und uns dann
entschuldigen …..
(Aus dem Englischen, vom Verfasser autorisiert)