Kriegsjunkies
Uri Avnery, 5.8.06
ES WAR für mich ein erschreckender Augenblick, als es
mir wie Schuppen von den Augen fiel.
Ich hörte eine der täglichen Reden unseres
Ministerpräsidenten. Er sagte: „Wir sind ein wunderbares
Volk!“ Er sagte: „Wir haben diesen Krieg schon gewonnen,
es ist der größte Sieg in der Geschichte unseres
Staates.“ Und weiter: „Wir haben das Antlitz des Nahen
Ostens verändert“. Und noch mehr in dieser Art.
Nun, sagte ich zu mir selbst, das ist eben Olmert.
Ich kenne ihn, seitdem er etwas über 20 Jahre alt war.
Damals war ich Mitglied der Knesset und Olmert war (
buchstäblich) Aktenträger eines anderen
Knessetmitgliedes. Seitdem habe ich seine Karriere
verfolgt. Er war niemals mehr als ein Parteifunktionär,
ein Schmalspur-Politiker, der sich auf Manipulationen
spezialisierte, ein mittelmäßiger Demagoge.
Zwischendurch wechselte er mehrfach die Parteien und
diente als Bürgermeister von Jerusalem mit der Note
„kaum genügend“, bis er sich der viel versprechenden
Sache Ariel Scharons anschloss. Rein zufällig wurde ihm
der leere Titel „Stellvertretender Ministerpräsident“
verliehen. Und als Scharon seinen Schlaganfall erlitt,
geschah etwas, worüber Olmert selbst sehr überrascht
war: er wurde Ministerpräsident. Während seiner ganzen
Karriere blieb er durch und durch Zyniker, an sich vom
rechten Flügel, aber auch bereit, gegenüber Linken
vorzutäuschen, er sei ein Liberaler .
Also – sagte ich zu mir – das wird eine weitere zynische
Rede sein . Doch plötzlich kam mir ein entsetzlicher
Gedanke: „Nein, der Mann glaubt tatsächlich, was er
sagt.!“
Man kann es sich kaum vorstellen, aber anscheinend
glaubt Olmert wirklich, dies sei ein erfolgreicher
Krieg, den er gewinnen werde; er habe radikal die
Situation Israels verändert; er sei dabei, den Neuen
Nahen Osten zu bauen; er sei ein historischer Führer
und Ariel Scharon weit überlegen, ( der ja immerhin im
Libanon besiegt worden war und der der Hisbollah
gestattete, ihr Raketenarsenal aufzubauen) . Je länger
es ihm erlaubt sei, mit diesem Krieg fortzufahren, um so
mehr werde sein Ansehen bei zukünftigen Historikern
wachsen.
Ehud Olmert hat offensichtlich jeglichen Kontakt mit
der Realität verloren. Er lebt in einer selbst
geschaffenen Seifenblase. Seine Reden zeigen, dass er
ein echtes Problem hat.
Von allen Gefahren, denen Israel jetzt ausgesetzt ist,
sind es diese, die man am ernstesten nehmen sollte. Denn
dieser Mann entscheidet ganz einfach über das Schicksal
von Millionen: wer sterben, wer Flüchtling, wessen Welt
zerschmettert werden wird.
ABER OLMERTS Problem mit dem Größenwahnsinn ist nichts
im Vergleich zu dem, was mit Amir Peretz geschehen
ist.
Genau vor neun Monaten nach der Wahl zum
Laborpartei-Vorsitzenden, hielt Peretz in Tel Aviv auf
dem Rabin-Platz eine Rede und verriet seinen Traum: im
Niemandsland zwischen Israel und dem Gazastreifen solle
ein Fußballfeld gebaut werden, und ein Fußballspiel
solle zwischen der israelischen Jugend von Sderot und
der palästinensischen Jugend des nahen Bet Hanoun
stattfinden. Ein israelischer Martin Luther King!
Neun Monate später wurde uns ein Monster geboren.
Bei der Knesset-Wahlkampagne erschien Peretz wie ein
sozialer Revolutionär. Er verkündigte, er wolle das
Antlitz der israelischen Gesellschaft verändern, die
nationalen Prioritäten neu festlegen, Milliarden
Schekel des Militärbudgets der Bildung, Erziehung,
Wohlfahrt zukommen lassen und dafür sorgen, dass die
Kluft zwischen den Reichen und Armen kleiner werde. Als
alter Friedensanhänger würde er natürlich Frieden mit
den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt
anstreben.
Dies ließ ihn die Stimmen vieler Bürger gewinnen,
einschließlich vieler, die normalerweise nicht daran
gedacht haben, jemals Labor zu wählen.
Was dann folgte, ist Geschichte. Er verführte sich
selbst, als Olmert ihm das Verteidigungsministerium
anbot. Das war Olmert, der Zyniker. Er wusste - genau
wie wir - dass Peretz in eine Falle tappt, dass er als
reiner Zivilist ohne ernsthafte militärische
Erfahrungen, zur leichten Beute der Generäle werden
würde. Aber Peretz schrak nicht zurück. Das höchste Ziel
seines Lebens ist, Ministerpräsident zu werden, und um
ein glaubwürdiger Kandidat zu sein, glaubte er, er müsse
sich selbst als Sicherheitsexperte präsentieren.
Seitdem ist Peretz zum Oberkriegstreiber geworden. Nicht
nur, dass er alle Forderungen der Generäle unterstützt,
nicht nur dass er als ihr Sprecher fungiert – er hat
auch mitgeholfen, Israel in den Krieg zu treiben.
Seitdem fordert er, der Krieg solle fortgesetzt,
ausgedehnt und vergrößert werden, es solle mehr
getötet, mehr zerstört, mehr besetzt werden. Er
erklärte selbst: „Nasrallah wird niemals den Namen Amir
Peretz vergessen!“ – wie ein verwöhntes Kind, dass
seinen Namen in eine Touristenattraktion einritzt.
Im Augenblick versucht er sogar, extremer als Olmert zu
sein. Während der Ministerpräsident zögert, weiter zu
gehen und um die zu vielen Todesfälle durch Raketen und
durch Gefechte auf dem Boden besorgt ist, die ihm
womöglich den Siegesglanz verdunkeln könnten. Peretz
will den Litani-Fluss erreichen, was immer es auch
kosten mag. Da gibt es keinen anderen Weg, falls man
Ministerpräsident werden will: man muss über Leichen
gehen.
So ist uns also ein Monster geboren worden.
Rosemaries Baby.
HEUTE, AM 25. Kriegstag können wir eine interne Bilanz
ziehen. Was waren die Ziele? Welches sind die
Ergebnisse?
0
„Die Hisbollah zu
zerstören“
Wer würde gedacht haben, dass die Hisbollah am 25. Tag
noch immer stehen und kämpfen würde? Ein paar tausend
Kämpfer gegen die fünfstärkste Armee der Welt. Keiner
spricht mehr davon, sie zu eliminieren. Weder Olmert,
noch Peretz und Dan Halutz auch nicht – der dritte im
unheiligen Bunde.
0
„Die Hisbollah
schwächen“
Das ist eine verwässerte Version des ersten Zieles. Sie
eignet sich besser; denn sie kann nicht nachgemessen
werden. Jedenfalls werden in einem Krieg beide Seiten
geschwächt. Menschen werden getötet und verwundet,
Waffen werden zerstört, Installationen vernichtet. Doch
während die israelische Armee eine Division nach der
andern mobilisieren kann, und die Amerikaner sich
beeilen, noch mehr Bomben zu liefern - können die
Hisbollah denn solche Verluste verkraften?
Keiner weiß, wie viele Kämpfer die Organisation verloren
hat. Die israelische Armee verteilt Schätzungen, ohne
sie beweisen zu können. Die Libanesen sprechen von viel
kleineren Zahlen und haben auch keine Beweise.
Aber das ist nicht die Hauptsache. Eine Organisation wie
die Hisbollah hat kein Problem, immer mehr Freiwillige
für den „Heiligen Krieg“ zu gewinnen. Egal wie hoch ihre
Verluste sein mögen, nach dem Krieg wird die
Organisation so viele neue Kämpfer trainieren, wie nötig
sind. Ihr Arsenal wird sich mit neuen Waffen wieder
auffüllen, die aus dem Iran und Syrien kommen . Die
Grenze ist lang. Es ist unmöglich, sie völlig
abzuriegeln.
0
„Die Hisbollah von der
Grenze entfernen“
Das ist ein zusammengeschrumpftes Ziel, nachdem die
beiden vorausgegangenen Ziele sich als unerreichbar
erwiesen haben - ist auch dieses Ziel unerreichbar. Die
meisten Hisbollah-Kämpfer kommen aus der lokalen
Bevölkerung der südlibanesischen Städte und Dörfer. Sie
werden auch weiterhin dort sein, offen oder getarnt.
Keine internationale Kraft wird dies verhindern können,
und die libanesische Armee sicher auch nicht.
Die Raketen können weiter weg entfernt werden. Wie viele
Kilometer? Zehn? Zwanzig? Das wird die Bedrohung
Nahariyas, Haifas oder Tel Avivs nicht beeinträchtigen
– besonders, seitdem die Reichweite der Raketen jedes
Mal größer wird, wenn technisch noch weiter entwickelte
Typen ankommen.
0
„Hassan Nasralla töten“
Im Augenblick scheint es, als sei der Bericht über
seinen Tod eine Übertreibung gewesen, um Mark Twain zu
zitieren. Als eine Art Parodie der Entebbe-Aktion wurde
Nasrallah aus einem Krankenhaus in Baalbek gezogen –
aber es war ein anderer Hassan Nasrallah. Uups!
In der Zwischenzeit lebt und blüht der echte Nasrallah.
Verglichen mit den kitschigen Reden Olmerts mit den
endlosen Klischees und der auf den Tisch schlagenden
Faust, erlebt man den Hisbollahführer als sachlichen
Redner, maßvoll und meist auch ziemlich glaubwürdig.
0
„Der israelischen Armee
wieder das Abschreckungspotential zurückgeben.“
Keiner zweifelt daran, dass die israelische Armee eine
gute, professionelle Armee ist, die fähig ist, reguläre
Armeen zu besiegen. Aber dieser Krieg beweist, dass sie
nicht in der Lage ist, eine militärische Entscheidung
gegen eine fähige Guerillaorganisation mit
entschlossenen Kämpfern zu erreichen. Wenn die Hisbollah
nach 25 Tagen noch lebt und kräftig ausschlägt, dann
ist die Abschreckung der israelischen Armee geschwächt
worden – was immer auch von jetzt an geschehen mag.
Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen hat der Krieg die
Sicherheit Israels beschädigt. Er hat bewiesen, dass
Israels Etappe einer Gefahr preisgegeben ist, dass die
Hisbollahkämpfer keinesfalls den israelischen Soldaten
unterlegen sind, dass es kein De-Luxe-Krieg ist, dass
die Luftkräfte nicht ohne die Landtruppen gewinnen
können. Nicht einmal – wie hier - unter idealen
Voraussetzungen, wenn die andere Seite so gut wie keine
Luftverteidigung hat.
Einige trösten sich mit dem Gedanken, „die Araber haben
gesehen, dass wir wahnsinnig werden können“. Wir
reagieren auf eine kleine lokale Provokation mit einer
Mord- und Zerstörungsorgie, zerstören ganze Länder und
laufen eine Art nationalen Amok. Aber Amok laufen ist
keine Politik. Es löst kein einziges Problem. Es ist
ein unkontrollierter Reflex. Es erlaubt kein
vernünftiges Denken. Dies erlaubt der andern Seite, uns
durch vorausgeplante Provokationen zu manipulieren.
0
„Eine internationale Truppe
an der Grenze entlang aufstellen.“
Dies ist eine Art Notlösung, nachdem die andern Ziele in
Rauch aufgegangen sind.
Zu Beginn des Krieges war Olmert energisch gegen solch
eine Truppe, weil sie die Bewegungsfreiheit der
israelischen Armee einschränken würde. Es ist klar, dass
keine internationale Truppe kommen wird, solange vor Ort
keine Waffenruhe herrscht und kein Abkommen mit der
Hisbollah erreicht sein wird. Niemand will sich einem
Kreuzfeuer aussetzen. Deshalb müssen diese Kräfte auch
den Interessen der Hisbollah dienen, sonst beginnt ein
Guerillakrieg gegen sie. Sind deswegen all die Opfer
gemacht worden?
0 „Wir werden eine neue Situation im Nahen Osten
schaffen.“
Das Ziel ist tatsächlich erreicht worden – aber nicht in
der Weise, die Olmert es sich (und uns) erzählte.
Die weitreichenden Kriegsfolgen werden nicht
unmittelbar wahrgenommen. Sie gehören zur Kategorie,
die Bismarck als „Imponderabilien“ definierte – Dinge,
die man weder wiegen noch messen kann.
Zehn Millionen Araber und hundert Millionen Muslime
sehen jeden Tag auf ihren Fernsehschirmen die
entsetzlichen Bilder der zermalmten Babys, die Anblicke
der schrecklichen Zerstörung. Das wird sich tief ins
Bewusstsein der Massen einprägen und wird eine Menge
Zorn und Hass anhäufen, der viel gefährlicher sein wird
als ein Arsenal von Raketen. In diesen 25 Tagen werden
Tausende von Selbstmordattentätern neu geschaffen. Und
so wie die Gestalt Nasrallahs als Held der arabischen
Welt wächst, so wird die Achtung vor den „moderaten“
arabischen Regimen abnehmen - genau die Regime, auf die
die USA und Israel angewiesen sind, um den Neuen Nahen
Osten aufzubauen.
NACH DEM 25. Tag wird der 26. kommen und noch ein Tag
und noch einer. Präsident Bush, der uns in diesen Krieg
gestoßen hat, treibt uns an, weiter zu machen ( „bis zum
letzten israelischen Soldaten“ – wie man sagt) Genau wie
Olmert, lebt er in einer Phantasiewelt.
Bush, Olmert & Co. können die Massen anstacheln und
hinter sich sammeln, bis der Ruf „Der Kaiser ist ja
nackt!“ empfängliche Ohren erreicht.
Eine der scheußlichsten Ansichten des Krieges ist das
Bild der internationalen Diplomaten, die alles taten, um
Olmert und Co in die Lage zu setzen, mit dem Krieg
fortzufahren. Die UN ist seit langem ein Agent des
Weißen Hauses geworden. Heuchelei und Scheinheiligkeit
haben einen großen Tag, während auf beiden Seiten der
Grenze Leben zerstört und Tote beerdigt wurden.
Olmert will so viele Tage wie möglich für die
Fortsetzung des Kampfes „gewinnen“. Was wird unser
Gewinn sein? Wir erobern den Südlibanon, wie Fliegen die
Fliegenfalle erobern. Generäle präsentieren Landkarten
mit eindruckvollen Pfeilen und zeigen, wie die Hisbollah
nach Norden gedrängt wird. Das wäre überzeugend – wenn
wir von der Frontlinie eines Krieges mit einer regulären
Armee reden würden, so wie sie es in der Militärakademie
gelernt haben. Aber dies ist ein völlig anderer Krieg.
Im eroberten Gebiet bleiben die Hisbollahleute, und
unsere Soldaten sind Angriffen ausgesetzt, wie die
Hisbollah sie von ihrem ersten Tag an mit Erfolg
ausgeführt hat.
Wir werden also bis an den Litani-Fluss gehen. Danach
gibt es wiederum einen Fluss und noch einen Fluss. Der
Libanon hat eine Menge Flüsse, an die wir gelangen
können.
Vielleicht würde es sich für diese beiden Junkys,
Olmert und Peretz, lohnen, von ihrem Rausch
aufzuwachen, und die Landkarte zu studieren.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasserautorisiert) |