Satans Ratschlag
Uri Avnery, 5.7.08
ES
WAR EIN beiläufiges Gespräch; aber es hat sich meinem Gedächtnis
eingeprägt.
Es
war kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg. Ich war gerade aus dem
Plenarsaal der Knesset herausgekommen, nachdem ich dort in einer
Rede zur sofortigen Errichtung eines palästinensischen Staates
aufgerufen hatte.
Ein anderes Knessetmitglied kam den Gang entlang. Er, ein
freundlicher Mensch, gehörte der Laborpartei an und war früher
Busfahrer. „Uri,“ sagte er und nahm mich am Arm, „verdammt noch mal,
was tust du? Du könntest große Karriere machen. Du sagst eine Menge
guter Dinge, gegen Korruption, für die Trennung von Religion und
Staat, über soziale Gerechtigkeit. Du könntest bei den nächsten
Wahlen großen Erfolg haben. Aber du verdirbst alles mit deinen
Reden über die Araber. Warum hörst du nicht mit diesem Unfug auf?“
Ich sagte ihm, er habe recht, ich könne dies aber nicht tun. Ich
sah keinen Sinn, in der Knesset zu sein, ohne die Wahrheit
aussprechen zu können, so wie ich sie sah.
Ich wurde wieder in die nächste Knesset gewählt, aber wieder als
Vorsitzender einer winzigen Fraktion, die nie in der Lage war, zu
einer großen parlamentarischen Kraft zu werden. Die Prophezeiungen
des Mannes haben sich bewahrheitet.
Im
Laufe der Jahre habe ich mich oft gefragt, ob ich damals das
Richtige getan habe. Wäre es nicht besser gewesen, für eine kurze
Zeit Prinzipien aufzugeben, um politische Macht zu gewinnen, ohne
die es unmöglich war, sie zu verwirklichen?
Ich weiß nicht, ob meine Entscheidung richtig war. Aber ich hatte
nie Gewissensbisse, weil ich für mich die richtige Wahl getroffen
hatte.
ICH ERINNERE mich an dieses Gespräch, als ich von Barak Obama hörte.
Er steht denselben Dilemmata gegenüber.
Natürlich gibt es einen großen Unterschied. Ich stand an der Spitze
einer sehr kleinen Fraktion in einem sehr kleinen Land. Er steht an
der Spitze einer riesigen Partei in einem sehr großen Land. Das
Wesen politischer Dilemmata ist trotzdem in allen Ländern - ob sie
groß oder klein sind - dieselben.
„Politik ist die Kunst des Möglichen,“ sagte Bismarck. Sie verlangt
Kompromisse. Der Politiker ist ein Fachmann – etwa wie ein
Schreiner oder ein Rechtsanwalt. Sein Job ist es, Mehrheiten
zusammen zu bringen, um die Gesetzgebung zu erfüllen und
Entscheidungen zu treffen. Um dies zu erreichen, müssen Kompromisse
gemacht werden. Einigen fällt es leicht, da für sie Prinzipien
sowieso nicht wirklich wichtig sind. Aber für Leute mit Prinzipien
kann es sehr schwierig sein.
Welche Rolle spielen Prinzipien in der Politik? Muss ein Politiker
einige Prinzipien opfern, um andere realisieren zu können? Und wenn
es so ist, wo ist die Grenze?
DIESES DILEMMA wird in einem Wahlkampf sogar noch akuter. Im Laufe
meines politischen Lebens habe ich fünf Wahlkampagnen geleitet.
Vier gewann ich, eine habe ich verloren.
In
diesen Tagen verfolge ich Barak Obamas Wahlkampagne, verfolge und
verstehe sie, verfolge sie und werde wütend, verfolge sie und mache
mir Sorgen.
Ich lausche dem, was er sagt und verstehe, warum er es sagt.
Ich sehe, was er tut, und werde oft wütend.
Ich sehe, wie er auf einem gespannten Seil über einen Abgrund tanzt,
und mache mir Sorgen.
Ich sah seinen Auftritt vor der jüdischen Lobby, wo er alle Rekorde
der Kriecherei brach, und ich fragte mich: was, dies ist der Mann,
der den großen Wechsel vollziehen will?
Ich hörte, wie er begeistert vom Recht der Bürger, Waffen zu tragen,
sprach – einschließlich Uzis und Kalaschnikovs – und vergrub meinen
Kopf. Was, Obama?
Ich hörte, wie er sich für die Todesstrafe aussprach, eine
barbarische Strafe, die die USA irgendwo zwischen den Iran und Saudi
Arabien platziert. Ich traute meinen Ohren nicht, Obama ???
Es
scheint, als ob Obama sich jeden Tag weiter von sich selbst
entfernt – und wir sind erst am Anfang der Hauptwahlkampagne.
ICH KANN mir gut die Diskussion bei Obamas Arbeitstreffen
vorstellen. Er sitzt dort, umgeben von seinen Strategen,
Meinungsforschern und PR-Leuten; sie sind alle große Experten, die
besten ihres Fachs.
Schau, Barak, sagt einer von ihnen, dies sind die Fakten: die
liberale Öffentlichkeit ist sowieso auf deiner Seite; die musst du
nicht gewinnen. Die Konservativen sind gegen dich – daran wird sich
nichts ändern. Aber zwischen drin sind Millionen Stimmberechtigte,
die das Ergebnis bestimmen werden. Diese musst du locken. Also sag
nichts Ungewöhnliches oder Radikales.
Du
musst ihnen die Dinge sagen, die sie hören wollen, mischt sich der
Zweite ein. Nichts was nach harten Liberalen riecht, bitte. Wir
brauchen auch die Stimmen der Rechten und der Evangelikalen.
Alles Definitive stößt Wähler ab, begutachtet der Dritte. Jedes
Prinzip hat Gegner, also gehe nicht in die Details. Bleibe bei
vagen Allgemeinheiten, die bei jedem Anklang finden.
Ich habe viele Kandidaten gesehen – in Israel und in den USA – die
mit einem klaren und prägnanten Programm anfingen und als
verschwommene, langweilige und gesichtslose Politiker endeten.
IN
GOETHES großem Drama verkauft Faust seine Seele dem Teufel - für
einen Erfolg auf dieser Welt. Jeder Politiker hat seinen eigenen
Satan, der ihm Macht im Tausch für seine Seele anbietet.
Du
hast Prinzipien, flüstert der Satan ihm ins Ohr. Die sind ja sehr
schön, aber wenn du die Wahlen gewinnen willst, sind sie zu nichts
nütze. Du kannst sie nur realisieren, wenn du zur Macht kommst.
Also lohnt es sich, einige Prinzipien aufzugeben, einige
Kompromisse zu machen, um zu gewinnen. Danach bist du frei und
kannst nach Herzenslust tun, was du schon immer tun wolltest.
Der Kandidat weiß, dass dies stimmt. Um seine Pläne ausführen zu
können, muss er erst gewählt werden. Um gewählt zu werden, muss er
auch Dinge sagen, an die er nicht glaubt und Dinge aufgeben, von
denen er überzeugt ist.
Und wieder taucht die Frage auf: wo liegt die Grenze? Welche
Konzessionen sind auf dem Weg zum Ziel zulässig? Wo ist die rote
Linie?
Der Teufel weiß, dass die kleinen Kompromisse zu größeren führen,
und auf diesem Weg verliert der Kandidat dann seine Seele. Ohne
dass er es merkt, rutscht er einen schlüpfrigen Abhang hinunter, und
wenn er schließlich seine Augen öffnet, findet er sich selbst im
schmutzigen politischen Sumpf wieder.
Dies ist der erste große Test des Führers in spe: den
Unterschied zwischen dem Zulässigen und dem Verbotenen zu erkennen:
zwischen der „Kunst des Möglichen“ und „ das Ziel heiligt die
Mittel“; zwischen dem eigensinnigen Bestehen auf seinen Prinzipien
und der totalen Kapitulation gegenüber jenen Experten, die jedes
neue Programm in einen Brei von leeren Phrasen verwandeln.
SEIT BEGINN der Demokratie im antiken Griechenland ist sie von
einer Frage heimgesucht worden: kann man sich auf das Volk, den
Demos, verlassen, dass es die richtige Wahl trifft? Wie kann die
Öffentlichkeit zwischen Lösungen für Probleme wählen, von denen sie
keine blasse Ahnung hat? Schließlich fehlt es Millionen von
Wählern selbst an rudimentärem Kenntnissen über die Staatsfinanzen,
über die Komplexität ausländischer Beziehungen, über militärische
Strategie und die tausend anderen Dinge, über die das
Staatsoberhaupt zu entscheiden hat.
Die Antwort ist : tatsächlich haben sie keine Ahnung. Man kann von
einem Taxifahrer, einem Dentisten oder gar einem Professor für
Mathematik nicht erwarten, dass er über die afghanischen Stämme oder
die internationale Ölszene Bescheid weiß. Darum braucht man eine
repräsentative Demokratie. Hier hat die Wählerschaft nur eines zu
beurteilen: die Einschätzung von Führungsqualitäten.
Wie entscheidet das Volk, dass ein Kandidat ein „Führer“ ist? Ist es
eine Frage des Selbstvertrauens? Der Charakterstärke? Des
Charismas? Der äußeren Erscheinung? Hatte er bei früheren Aufgaben
Erfolg? Glaubt es, dass er oder sie wirklich ihre Wahlversprechen
erfüllt?
In
diesen Tagen ist es nicht einfach, einen richtigen Eindruck zu
bekommen, weil der Kandidat von einer großen Menge PR-Experten
umgeben ist, die sein Image manipulieren, ihm Worte in den Mund
legen und seine öffentlichen Veranstaltungen inszenieren. Das
Fernsehen ist keine moderne Ausgabe der alten Agora in Athen, wie
behauptet wird. Es ist seinem Wesen nach ein verlogenes,
verfälschendes Instrument. Doch trotz allem ist es das Image des
Kandidaten, das letzten Endes zählt.
Barack Obama hat Millionen Bürger, besonders die Jungen,
beeindruckt. Nach Jahren des moralischen Verfalls unter Bill Clinton
und den machtbesessenen Torheiten George Bushs, verlangen sie einen
Wechsel nach einem Führer, dem man vertrauen kann, der eine neue
Botschaft hat. Und Obama hat ein wunderbares Talent, diese Hoffnung
in erhebenden Reden auszudrücken.
Es
besteht nur die Gefahr, dass sich die erbaulichen Reden auflösen
und keinen Führer mit dem Charakter, der Stärke und dem Talent
hinter sich lassen, der seine Versprechen erfüllt.
Wenn sich Obama seinen Beratern und dem Geflüster des Satans
ausliefert, mag er wohl Stimmen des anderen Lagers gewinnen, aber
seine Glaubwürdigkeit verlieren – und dies nicht nur im eigenen
Lager. Die Öffentlichkeit mag instinktiv entscheiden, „ der hat es
nicht in sich“, dass er nicht der Führer ist, dem man vertrauen
kann.
Andererseits, wenn er für die notwendigen Kompromisse nicht bereit
ist, wenn er zu viele Wähler vor den Kopf stößt, wird er der
entgegengesetzten Gefahr ausgesetzt sein: dass er mit seinen
Prinzipien zurückbleibt, ohne die Fähigkeit, sie zu verwirklichen.
Er
hat noch vier anstrengende Monate vor sich. Viele Versuchungen
liegen auf beiden Seiten. Er muss sich entscheiden, wer er ist, wie
viel er aufzugeben bereit ist, ohne sich selbst aufzugeben.
Und vielleicht muss er es wie Charles de Gaulle machen, der als ein
Mann des Krieges die Macht ergriff und die Macht gebrauchte, um in
Algerien einen schwierigen, fast unerträglich schmerzlichen Frieden
zu schließen.
ICH MÖCHTE nicht das sein, was man auf jiddisch spöttisch einen
Etzes-geber nennt – vom hebräischen Wort für Ratschlag und dem
deutschen Wort für Geber. Eine Person, die Ratschläge anbietet, ohne
jede Verantwortung und ohne den Preis für die Folgen zu tragen.
Selbst wenn ich gefragt würde, würde ich es nicht wagen, Obama, dem
Kandidaten für das mächtigste Amt in der Welt, einen Rat zu geben.
Außer dem Rat, den Polonius in Shakespeares „Hamlet“ seinem Sohn
Laertes gegeben hat:
„Dies vor allem: bleib dir selber treu!“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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