Das Ministerium der Angst
Uri Avnery,
26. September 2015
„WIR HABEN
nichts zu fürchten, außer der Furcht,“ sagte Präsident Franklin
Delano Roosevelt. Er hatte unrecht.
Angst ist eine
notwendige Vorbedingung für menschliches Überleben. Die meisten
Tiere in der Natur haben sie. Sie hilft ihnen, auf Gefahren zu
reagieren, ihnen aus dem Weg zu gehen oder sie zu bekämpfen. Die
Menschen überleben, weil sie furchtsam sind.
Die Furcht ist
beides: individuell und kollektiv. Seit ihren frühesten Tagen hat
die menschliche Rasse in Kollektiven gelebt. Beides ist notwendig
und eine erwünschte Bedingung. Die frühe Menschheit lebte in
Stämmen. Der Stamm verteidigte sein Gebiet gegen alle „Fremden“ –
die benachbarten Stämme - , um seine Nahrungsquelle und seine
Sicherheit zu wahren. Die Angst war eines der sie einenden Faktoren.
Zu einem Stamm zu
gehören (Der nach vielen Entwicklungen zu einer modernen Nation
wurde) ist auch eine tiefe psychologische Notwendigkeit. Auch dies
ist mit Angst verknüpft - Angst vor andern Stämmen, Angst vor
andern Nationen.
Aber Angst kann
wachsen und zu einem Monster werden.
VOR KURZEM erhielt
ich von einem jungen Naturwissenschaftler, Youv Litvin, einen sehr
interessanten wissenschaftlichen Artikel, der sich genau mit diesem
Phänomen aus einander setzt. Er beschrieb mit wissenschaftlichen
Ausdrücken, wie leicht Angst manipuliert werden kann. Die damit
befasste Wissenschaft war die Erforschung des menschlichen Gehirns,
die sich auf Experimente mit Tieren im Labor z.B. mit Mäusen und
Ratten, auseinandersetzt.
Nichts ist leichter,
als Ängste zu schüren. Zum Beispiel werden Mäuse, während Rockmusik
spielt, einem elektrischer Schock ausgesetzt. Nach einiger Zeit
zeigten die Mäuse auch dann Reaktionen äußerster Angst, wenn
Rockmusik gespielt wurde, ohne dass ihnen ein Schock gegeben wurde.
Allein die Musik verursachte die Angst.
Dies kann auch
umgekehrt sein. Lange Zeit wurde ihnen die Musik gespielt, ohne
einen Schmerz zu verursachen. Langsam, sehr langsam verringerte sich
die Angst. Aber nicht vollkommen: als nach langer Zeit mit der Musik
wieder ein Schock verpasst wurde, erschienen sofort die vollen
Symptome. Einmal war genug.
WENDET MAN
dies gegenüber menschlichen Nationen an, sind die Ergebnisse
dieselben.
Die Juden sind ein
perfektes Labor – ein Experimentierstück. Jahrhunderte der
Verfolgung in Europa lehrte sie den Wert der Angst. Wenn sie von
weitem Gefahr witterten, lernten sie, sich bei Zeiten zu retten -
gewöhnlich durch Flucht.
In Europa waren die
Juden eine Ausnahme, die luden zu Opfern einluden. Im
Byzantinischen (Ost-römischen) Reich waren Juden normale Menschen.
Im ganzen Reich wurden regionale Völker zu ethnisch-religiösen
Gemeinschaften. Ein Jude in Alexandria konnte eine Jüdin in
Antiochien heiraten, aber nicht die junge Frau von neben an, falls
sie zufällig eine orthodoxe Christin war.
Dieses „Millet“-System
währte während des islamisch Ottomanischen Reiches; während des
britischen Mandats und lebt im heutigen Staat Israel noch weiter.
Ein israelischer Jude kann eine israelische Christin oder einen
Muslim nicht legal heiraten.
Dies war der Grund,
dass es in der arabischen Welt keinen Antisemitismus gab, abgesehen
vom Detail, dass Araber selbst Semiten sind. Juden und Christen, die
„Völker des Buches“ haben einen Sonderstatus im islamischen Staat
(wie heute im Iran, eine Art „zweiklassig“, in anderer Weise
privilegiert (Sie müssen nicht in der Armee dienen). Bis zur
Ankunft des Zionismus waren arabische Juden hier nicht ängstlicher
als andere Menschen.
Die Situation in
Europa war ganz anders. Das Christentum, das sich vom Judentum
abspaltete, hegte von Anfang an gegenüber Juden eine tiefe
Abneigung. Das Neue Testament enthielt herbe anti-jüdische
Beschreibungen von Jesu Tod, die jedes christliche Kind in einem
beeindruckenden Alter lernte. Und die Tatsache, dass die Juden in
Europa (abgesehen von Roma und Sinti) das einzige Volk waren, das
keine Heimat hatte, machte es um so verdächtiger und
furchterregender.
Das fortgesetzte
Leiden der Juden in Europa setzte jeden europäischen Juden in eine
ständige und tiefsitzende Angst. Jeder Jude war ständig in
Alarmbereitschaft - bewusst oder unbewusst oder im
Unterbewusstsein, sogar in Zeiten und Ländern, die von jeder Gefahr
weit entfernt schienen wie im Deutschland zur der Zeit, als meine
Eltern noch jung waren.
Mein Vater war ein
vorzügliches Beispiel für dieses Syndrom. Er wuchs in einer Familie
auf, die seit Generationen in Deutschland lebte. (Mein Vater, der
Latein studiert hatte, bestand darauf, dass unsere Familie mit
Julius Caesar nach Deutschland gekommen war.) Aber als die Nazis an
die Macht kamen, brauchte mein Vater für die Entscheidung zu fliehen
nur wenige Tage, und ein paar Monate später kam meine Familie
glücklich in Palästina an,
EINE PERSÖNLICHE
Bemerkung: Meine eigene Erfahrung mit der Angst war auch interessant
– für mich wenigstens.
Als 1948 der
hebräisch-arabische Krieg ausbrach, meldete ich mich natürlich
freiwillig zum Kampf. Vor meiner ersten Schlacht, krümmte ich mich
- buchstäblich vor Angst. Während des Kampfes, der glücklicherweise
leicht war, verließ mich die Angst und kehrte nie wieder zurück.
Bei den folgenden
etwa 50 Kämpfen, einschließlich einem halben Dutzend größerer
Schlachten fühlte ich keine Angst.
Ich war sehr stolz
darauf, doch war es eine dumme Sache. Zum Ende des Krieges hin, als
ich schon Truppenführer war, gab man mir den Befehl, eine Position
zu übernehmen, die dem feindlichen Feuer ausgesetzt war. Ich ging,
um die Position auszukundschaften, fast aufrecht bei hellem
Tageslicht und wurde sofort von einer ägyptischen Gewehrkugel
durchdrungen. Vier meiner Soldaten, Freiwillige aus Marokko holten
mich tapfer aus der Schusslinie. Ich kam gerade noch rechtzeitig
zum nächsten Militärhospital, so wurde mein Leben gerettet.
Selbst dies hat meine
verlorene Angst nicht wieder hervorgerufen. Ich fühle sie noch immer
nicht, obwohl mir bewusst ist, dass dies äußerst dumm ist.
ZURÜCK ZU
meinem Volk.
Die neue hebräische
Gemeinschaft in Palästina , gegründet von Flüchtlingen der Pogrome
in Moldavia, Polen, Ukraine und Russland und später verstärkt von
den vom Holocaust übriggebliebenen, lebten in Angst vor ihren
arabischen Nachbarn, die von Zeit zu Zeit gegen die Einwanderung
revoltierten.
Die neue
Gemeinschaft, Yishuv genannt, machte ihre Jugend stolz auf ihr
Heldentum, die so fähig war, sich selbst, ihre Städte und ihre
Dörfer zu verteidigen. Ein ganzer Kult wuchs um die neue „Sabras“
(Kaktuspflanze), die furchtlosen, heroischen, jungen Hebräer, die im
Lande geboren waren. Als wir in dem Krieg von 1948 nach langem
und bitterem Kampf (Wir verloren 6500 junge Männer aus einer
Gemeinschaft von 650 000 Menschen) schließlich gewannen, wurde die
kollektive rationale Angst durch einen irrationalen Stolz ersetzt.
Hier waren wir nun,
eine neue Nation auf neuem Boden, stark und selbstbewusst; wir
konnten es uns leisten, furchtlos zu sein. Aber wir waren es nicht.
Furchtlose Leute
können Frieden und mit den Feinden von gestern einen Kompromiss
machen, Koexistenz versuchen und sogar Freundschaft schließen. Dies
geschah - mehr oder weniger – in Europa nach vielen hunderten von
Jahren ständiger Kriege.
Nicht hier. Die
Furcht vor der „arabischen Welt“ erzeugte eine dauernde Spannung
in unserm nationalen Leben: das Bild des „kleinen von Feinden
umgebenen Israel“ war eine innere Überzeugung und ein
Propagandatrick. Ein Krieg folgte dem anderen, und jeder produzierte
neue Wellen von Ängstlichkeit.
Diese Mischung von
anmaßendem Stolz und tiefsitzender Angst, eine Mentalität des
Eroberers, und permanente Furcht, ist ein Kennzeichen des heutigen
Israel. Ausländer haben oft den Verdacht, dass dies eine Täuschung
sei, aber es ist ganz real
ANGST IST
auch das Instrument von Herrschern. Schaffe Angst und herrsche. Dies
ist eine Maxime der Könige und Diktatoren Jahrhunderte lang
gewesen.
In Israel ist es das
leichteste Ding der Welt. Man muss nur den Holocaust erwähnen (Shoah
auf Hebräisch) und die Angst sickert aus allen Poren des nationalen
Körpers.
Holocaust-Erinnerungen schüren, sind wie eine nationale Industrie.
Kinder werden zu ihrem ersten Auslandtrip nach Auschwitz gesandt, um
dieses zu besuchen. Der letzte Erziehungsminister verordnete (Im
Ernst) die Einführung der Holocaustlehre im Kindergarten. So gibt es
einen Holocausttag - zusätzlich zu vielen andern jüdischen
Feiertagen, die für vergangene Versuche, Juden zu töten sind.
Das historische Bild,
das so im Gedächtnis eines jeden jüdischen Kindes - in Israel wie im
Ausland - geschaffen wird, liegt in den Worten des Passah-Gebetes,
das jedes Jahr in jeder jüdischen Familie laut gelesen wird: “In
jeder Generation erheben sie sich gegen uns, um uns zu vernichten,
aber Gott rettet uns aus ihren Händen!“
DIE LEUTE FRAGEN
sich, welches die besondere Qualität ist, die Benjamin Netanjahu
auszeichnet , um immer wieder gewählt zu werden und praktisch
alleine zu regieren, umgeben von einer Herde geräuschvoller,
unbedeutender Personen.
Die Person, die ihn
am besten kennt, sein eigener Vater, erklärte einmal, dass Bibi ein
guter Außenminister sein könnte, aber unter keinen Umständen ein
Ministerpräsident. Es stimmt! Netanjahu hat eine gute Stimme und ein
wahres Talent fürs Fernsehen – aber das ist auch alles. Er ist
oberflächlich, er hat keine Vision der Welt und keine wirkliche
Vision für Israel, seine historischen Kenntnisse kann man
vergessen.
Aber er hat ein
wirkliches Talent: Panikmache. Darin hat er keinen Konkurrenten.
Es gibt kaum eine
größere Rede von Netanjahu in Israel oder im Ausland ohne
wenigstens eine Bemerkung über den Holocaust. Danach kommt das
letzte up-to-date Angst machende Bild.
Einmal gab es
„Internationalen Terrorismus“. Der junge Netanjahu schrieb ein Buch
darüber und stellte sich selbst als Experte vor. In Wirklichkeit
ist dies Unsinn. So etwas wie internationalen Terrorismus gibt es
nicht. Er ist von Scharlatanen erfunden worden, die eine Karriere
darauf bauten. Professoren und ähnliches.
Was ist Terrorismus?
Zivilisten töten? Wenn es so ist, dann sind die abscheulichsten Akte
von Terrorismus in der letzten Geschichte Dresden und Hiroshima.
Kämpfer von Nichtstaaten zu töten? Such sie dir aus. Wie ich viele
Male sagte: „Freiheitskämpfer“ sind auf meiner Seite,
„Terroristen“ sind auf der andern Seite.
Palästinenser und
Araber sind im Allgemeinen natürlich Terroristen. Sie hassen uns,
weil wir ihnen einen großen Teil ihres Landes genommen haben.
Offensichtlich kann man keinen Frieden mit solch perversen Leuten
wie jenen machen. Man kann sie nur fürchten und sie bekämpfen.
Wenn das Feld der
Terroristenkämpfer zu voll wird, dann schaltet Netanjahu zur
iranischen Bombe um. Dort war die aktuelle Bedrohung unserer
Existenz. Der zweite Holocaust.
Für mich ist dies
immer lächerlich gewesen. Die Iraner haben keine Atombombe und wenn
sie sie hätten, würden sie sie nicht benützen
Aber nimm die
iranische Bombe von Netanjahu – was bleibt dann noch? Kein Wunder,
dass er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Aber jetzt ist es
endlich erledigt worden. Was sollte nun getan werden?
Mach dir keine
Sorgen. Bibi wird eine andere Bedrohung finden, blutrünstiger als je
zuvor.
Warte nur und
zittere.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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