Die
Tempelbergbomber
Uri
Avnery, 18.9.04
Der
Sicherheitsdienst wird von einer schrecklichen Angst heimgesucht: es
soll noch einmal ein Ministerpräsident ermordet werden. Auf dem
extrem rechten Flügel, der seine Bewunderung für Yigal Amir und
seine Tat nicht verbirgt, gibt es welche, die von einer ähnlichen
Tat träumen. Wenn es Amir gelungen war, den Oslo-Prozess zu morden,
warum sollte es nicht einem anderen Amir gelingen, den Abzugsprozess
der Siedlungen aus dem Gazastreifen zu torpedieren?
Aber der
Sicherheitsdienst befürchtet auch noch Schlimmeres: dass eine
jüdische Terrorgruppe die Moscheen auf dem Tempelberg in die Luft
sprengen will.
Vor Jahren
bereitete eine jüdische Untergrundorganisation genau dies vor. Doch
dies wurde vor der Ausführung entdeckt. Nun ist ein ähnlicher Plan
im Gange.
Der
Sicherheitsdienst nimmt an, dass diese Aktion dahin zielt, Ariel
Sharons Abzugsplan ein Ende zu setzen. Die Al-Aksa-Moschee und/oder
den Felsendom in die Luft zu sprengen, würde bedeuten, die ganze
arabische und muslimische Welt in Brand zu stecken. Dies würde
schwerwiegende Umwälzungen verursachen, arabische Regime stürzen,
vielleicht eine muslimisch fundamentalistische Revolution in der
ganzen Region ins Rollen bringen. Wer wird in solch einer Situation
dann noch an die Evakuierung von Siedlungen denken?
All dies
stimmt, aber es rührt nicht an die Wurzeln der Verschwörung. Die
Bombardierung der Moscheen auf dem Haram Al-Sharif ist ein
Unterfangen, das über Aktuelles und Lokales hinausgeht. Es ist ein
revolutionärer Akt, der die jüdische Religion selbst verändern
würde. Vom Standpunkt der möglichen Bombenleger ist dies die
Hauptsache.
In Israel
wird die jüdische Geschichte in drei „Häuser“ eingeteilt, womit
drei Tempel gemeint sind. Der 1. Tempel wurde vermutlich von König
Salomo im 10. Jahrhundert v.Chr. gebaut und vom babylonischen König
Nebukadnezar im Jahre 568 v. Chr. zerstört. Das Volk aus Judäa wurde
nach Babylon verschleppt, und mehr als 50 Jahre vergingen, bevor es
ihm erlaubt wurde, nach Jerusalem zurückzukehren und den Tempel
wieder aufzubauen.
Der Bau des
2. Tempels wurde 516 v. Chr. beendet. Er wurde von König Herodes um
das Jahr 20 v.Chr. renoviert und erweitert und vom römischen
Feldherrn Titus im Jahre 70 n.Chr. zerstört.
Der 3.
Tempel existiert nicht; aber die neue jüdische Gesellschaft, die
sich seit 1882 in Palästina aufbaute, nennt sich selbst oft „das
3. Haus“ (Als Moshe Dayan zu Beginn des Yom Kippur-Krieges
hysterisch wurde, begann er über die „Zerstörung des 3. Hauses“ zu
jammern). Aber dies ist nur ein symbolischer Terminus – keiner der
Gründerväter der zionistischen Bewegung oder der Gründer des Staates
Israel träumten davon, einen neuen Tempel zu bauen.
Der Grund
dafür liegt 1934 Jahre zurück. Als die Römer Jerusalem belagerten,
konnte Yokhanan Ben Zakkai, ein führender Rabbiner, in einem Sarg
hinaus geschmuggelt werden, bevor die Stadt fiel und zerstört
wurde. Er war auf den römischen Kommandeur zugegangen und hatte mit
Erfolg die Genehmigung erhalten, ein jüdisch religiöses Zentrum in
Yavneh – zwischen Jaffa und Asdod – aufzubauen.
Das war der
Beginn einer Revolution innerhalb der jüdischen Religion.
„Das erste
Haus“ war ein ziemlich unbedeutendes Gebäude. Im Gegensatz zur
Bibel gibt es keinen historischen Beleg darüber, dass das Reich
Davids und Salomos jemals existierten.* Jerusalem war ein kleiner
Ort, Judäa war bedeutungslos. Die jüdische Religion, wie wir sie
kennen, entstand im Babylonischen Exil – und seitdem leben zwei
Drittel der Juden ( wie sie seitdem genannt worden sind) außerhalb
von Palästina.
Das „zweite
Haus“ war anfangs auch eine ziemlich bescheidene Angelegenheit, wie
von einem zeitgenössischen Propheten bestätigt wird. Aber im Laufe
der Zeit änderte sich dies. König Herodes, ein großer Bauherr,
versuchte, die Herzen seiner ihn verunglimpfenden Kritiker zu
gewinnen, indem er den Tempel in einen großartigen Bau verwandelte.
Schon vorher
hatte sich um den Tempel eine priesterliche Aristokratie gebildet,
die ihre Position in der jüdischen Gesellschaft in Judäa ausbaute.
Politisch kam dies in der Partei der Sadduzäer zum Ausdruck. Gegen
sie konstituierte sich die Partei der Pharisäer. Sie erlaubten eine
breitere Auslegung der heiligen Schriften, und sie glaubten an eine
Welt jenseits des Todes. In jener Zeit blühte die jüdisch religiöse
Kreativität, und die Bibel wurde endgültig zusammengefasst. Da
das priesterliche Establishment an der Macht war, spielte der Tempel
in der Bibel eine zentrale Rolle. Das rituelle Tieropfer begleitete
andere Praktiken, die mit dem Tempel, dem symbolischen Wohnort
Jahwes, verbunden waren.
Jesus, ein
jüdischer Revolutionär, rebellierte gegen die Kommerzialisierung des
Tempels wie es auch viele Pharisäer taten. Die hasmonäische
Dynastie, die sich auf die priesterliche Aristokratie gründete,
betrachtete die Pharisäer als ihre Feinde und richtete viele von
ihnen hin.
All dies
änderte sich, als der Tempel zerstört wurde. Nicht nur der Bau
verschwand, sondern auch der Opferkult. Die jerusalemitische
Aristokratie war ausgelöscht, die Priester verloren ihre Aufgabe.
Die jüdische Religion änderte ihren Kurs.
Seitdem
waren die Rabbiner Nachfolger der Pharisäer in der jüdischen
Gemeinschaft und Religion dominant. Lange vor der Zerstörung des 2.
Tempels lebte der größte Teil der Juden außerhalb Palästinas. Nach
der Zerstörung ( und dem aussichtslosen Bar-Kochba-Aufstand von 135
n.Chr.) wurde die jüdische Gemeinschaft in Palästina immer weniger.
Jerusalem wurde ein Traum, und alle bedeutenden Ereignisse in der
Entwicklung der jüdischen Religion geschahen weit weg davon.
Nach der
Zerstörung des Tempels wurde die jüdische Religion eine Sache von
Gesetzen und Geboten und war mit keinem besonderen Land verbunden.
Das Land Israels und Jerusalem wurden mehr zu Symbolen, als dass sie
mit territorialer Realität verknüpft waren. Die jüdische Religion
forderte ihre Anhänger nicht einmal auf, eine Pilgerreise nach
Jerusalem zu machen, wie es der Islam von seinen Gläubigen fordert,
wenigstens einmal im Leben nach Mekka zu pilgern.
Bis zum
Aufkommen des modernen Zionismus versuchten die Juden nicht ein
einziges Mal, en masse nach Palästina zurückzukehren – das war ihnen
sogar ausdrücklich durch ihre Religion verboten. Als 1492 eine
halbe Million Juden aus dem katholischen Spanien vertrieben wurden,
zerstreuten sie sich im ganzen muslimischen Ottomanischen Reich. Nur
wenige gingen nach Palästina, auch eine ottomanische Provinz.
Napoleons Aufruf, die Juden sollten in Palästina einen jüdischen
Staat gründen, fiel auf taube Ohren. Die ersten Befürworter der
modernen zionistischen Idee – lange vor Theodor Herzl – waren
Engländer, und Amerikaner, die von christlichen Impulsen motiviert
waren.
Während der
letzten Jahrhunderte wurde das europäisch-amerikanische Judentum
immer mehr eine Religion, das von einer universalen moralischen
Botschaft durchdrungen war. Die jüdischen Denker waren davon
überzeugt, dass es die „Mission“ der Juden sei, den Völkern der
Welt eine universale Ethik zu bringen und sahen dies als das
wirkliche Wesen des Judentums an .
Der
Zionismus kam als Teil der nationalistischen Bewegungen Europas ins
Leben – und als Re-Aktion auf ihren allgemein antisemitischen
Charakter. Er brachte die Theorie auf, dass die Juden eine Nation
wie andere europäische Nationen seien und dass diese Nation ihren
eigenen Staat im Land, damals Palästina genannt, errichten sollten.
Nicht zufällig erhob sich gegen Herzls Lehre eine heftige, laut
vernehmbare Opposition von fast allen großen Rabbinern seiner Zeit,
von Hassidim und ihren Gegnern, den Mitnagdim, den Orthodoxen und
den Reformisten.
Aber als die
zionistische Gemeinschaft in Palästina zu einem Staat wurde, ist mit
dem Judentum dort etwas Seltsames geschehen. Die Verbindung mit dem
Land und dem Boden veränderte das Wesen der Religion, so wie sich
auch alle anderen Bereiche des nationalen Lebens veränderten. Es ist
keine Übertreibung, zu behaupten, dass die jüdische Religion in
Israel - nicht in der Diaspora - eine Mutation durchmacht, die in
den letzten Jahren immer extremere Formen annimmt.
Eine
Religion mit einer universalen Botschaft verkam zu einem
Stammeskult. Eine Religion der Ethik verkommt zu einer Religion von
heiligen Plätzen und Gräbern. Yeshayahu Leibowitz, ein Jude der
alten Sorte, definierte die Religion der Siedler als einen
heidnischen, götzendienerischen Kult.
Der neue
Tempelkult wäre ein Höhepunkt in diesem Prozess. Die praktischen
Vorbereitungen für die Zerstörung der Moscheen und den Wiederaufbau
des Tempels – zusammen mit Tieropfern und anderen Tempelkulten -
bedeuten eine Absage an die jüdische Religion der letzten 2000
Jahre. Es ist eine religiöse Revolution von historischen
Dimensionen.
Wenn diese
Tendenz im Staat Israel dominant wird, so wird es nicht – wie ich
glaube - zum Bau eines 3.Tempels kommen, sondern zur Zerstörung des
„dritten Hauses“. Der 2. Tempel fand zusammen mit dem jüdischen Volk
in diesem Land ein gewaltsames Ende, weil eine kleine Minderheit
fanatischer Zeloten, die den heutigen extremen Siedlern sehr ähnlich
waren, an die Macht der jüdischen Gemeinschaft kamen und diese in
einen wahnsinnigen, hoffnungslosen Krieg hineinzog. Genau das kann
heute wieder geschehen.
Am Vorabend von Yom Kippur,
dem Versöhnungsfest, ist dies etwas, worüber man nachdenken sollte.
* vgl. auch
Finkelstein/ Silberman: Keine Posaunen vor Jericho, C.H. Beck 2003
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs
und vom Verfasser autorisiert)
Die Deutsche Website von Uri Avnery mit allen
seinen übersetzten Texten
Eine Seite für seine Übersetzerin Ellen Rohlfs |