Der
Mann mit der Uzi
Uri Avnery, 20. Oktober 2012
Es war einmal ein junger Israeli, der von Kannibalen
gefangen worden war. Sie steckten ihn in einen Kochtopf und waren
dabei, unter diesem ein Feuer anzuzünden, als er noch einen letzten
Wunsch zum Ausdruck brachte: „Bitte, gib mir noch eine Ohrfeige!“
Als der Chefkannibale ihm diesen Gefallen tat, sprang
der Israeli auf, zückte seinen Uzi und legte die um, die ihn
gefangen genommen hatten.
Er wurde gefragt: „Wenn du die ganze Zeit die Uzi bei
dir hattest, warum hast du sie dann nicht vorher benützt?“
„ Wenn ich nicht zornig bin, kann ich das nicht tun“,
antwortete er.
BARAK OBAMAs Schlagabtausch mit Mitt Romney erinnert
mich an diesen Witz. Bei der ersten Konfrontation war er lustlos und
gelangweilt. Er wollte diese dumme Sache nur zu Ende bringen.
Während des zweiten Schlagabtausches, war er wie
verwandelt: energisch, aggressiv, entschlossen. Kurz : zornig.
Als diese Konfrontation im TV begann, war es nach
israelischer Zeit 3 Uhr morgens. Ich hätte sie aufnehmen können, um
sie mir später anzusehen. Aber ich konnte nicht warten. Meine
Neugierde war zu groß.
Natürlich ist die ganze Vorstellung albern. Es gibt
überhaupt keine Verbindung zwischen einem rhetorischen Talent und
der Fähigkeit, eine Nation zu leiten. Man kann ein ausgezeichneter
Polemiker sein und unfähig, eine vernünftige Politik zu betreiben.
Israelis brauchten nur auf Benjamin Netanjahu schauen. Man kann ein
entschlossener Führer sein und völlig unfähig, sich selbst
auszudrücken. Zum Beispiel: Jitzhak Rabin.
Doch die Amerikaner bestehen darauf , dass ihre
Führer als Vorbedingung ihre Fähigkeit als Debattierer
demonstrieren, um gewählt zu werden. Irgendwie erinnert es an die
Einzelkämpfe in der Antike, als jede Seite einen einzigen Kämpfer
wählte und die beiden einander zu töten versuchten, anstelle eines
gegenseitigen Massenmordes. David und Goliath kommen mir da in den
Sinn. Sicher war das humaner.
DIE RHETORIK war nicht an die Massen der Wähler
gerichtet. Wie schon gesagt worden ist, war sie an die
„Unentschlossenen“ gerichtet, eine besondere Klasse von Leuten. Die
Anrede ist vermutlich als Ehrentitel verliehen worden, um zu
unterscheiden. Für mich ist es eher wie ein Ausdruck von Verachtung.
Wenn man sich drei Wochen, bevor der Gong schlägt, noch nicht
entschieden hat, ist das denn was, womit man prahlen kann?
In diesem Stadium des Spieles müssen beide Kandidaten
sehr vorsichtig sein, um niemanden gegen sich aufzubringen. Das
bedeutet natürlich, dass man es sich nicht leisten kann, eine
definitive, klar umrissene Meinung über etwas außer über
„Mutterschaft und Apfelkuchen“ zu haben - oder in Israel: „ über
Zionismus und gefilte Fish“.
Man muss sich vor neuen Ideen hüten. Gott bewahre.
Neue Ideen schaffen Feinde. Man mag ein paar Wähler beeindrucken,
aber wahrscheinlicher ist, dass man viel mehr davontreibt. Der
Trick ist, Allgemeines kraftvoll auszudrücken.
Waffenbesitz zum Beispiel. Waffen töten. Im
strengsten Vertrauen möchte ich verraten, dass Waffen für genau
diesen Zweck produziert werden. Da es unwahrscheinlich ist, dass man
von Kannibalen gekidnappt wird, warum sollte man dann um Gottes
Willen eine Uzi in seinem Schrank bewahren? Um die bösen Indianer
fern zu halten?
Doch sogar Obama umging dieses Thema. Er wagte
nicht, mit einer klaren Forderung zu kommen, um dieser Plage im
Ganzen ein Ende zu setzen. Man greift die Waffen-Lobby nicht an .
Fast wie die Pro-Israel-Lobby. Mitt Romney zitierte seine
Erfahrungen, wie er Pro-Waffen- und Anti-Waffen-Leute
zusammenbrachte, um mit ihnen einen Kompromiss auszuarbeiten. Sagen
wir: Kinder werden nicht zehnmal im Jahr ihre Schulkameraden mit
Maschinenpistolen niedermähen, nur fünf mal im Jahr.
ICH MUSS zugeben, dass ich den erbitterten Streit um
den Benghazi-Vorfall nicht ganz verstehe. Vielleicht braucht man
eine amerikanische Denkweise, um dies zu begreifen. Meine primitive
israelische Denkweise versteht es einfach nicht.
War es ein einfacher terroristischer Angriff, oder
nützten die Terroristen eine Protestdemo als Deckung? Warum - zur
Hölle – ist das wichtig? Warum sollte der Präsident sich damit
beschäftigen, das Bild auf diese oder jene Weise zu fälschen? Die
Israelis wissen aus langer Erfahrung, dass nach einem verpfuschten
Rettungsversuch die Sicherheitsdienste immer lügen. Das liegt in
ihrer Natur. Kein Präsident kann dies ändern.
Der Gedanke, dass jedes Land seine Hunderte von
Botschaften und Konsulate in aller Welt vor jeder Art eines
Angriffes bewachen kann, ist naiv. Besonders wenn man ihr
Sicherheits-budget kürzt.
Abgesehen von diesen besonderen Themen, sprachen
beide Kandidaten über Allgemeines. Zum Beispiel: nach mehr Erdöl
bohren. Aber nicht die Sonne und den Wind vergessen. Junge Leute
müssen in der Lage sein, ins Gymnasium und zur Universität zu gehen,
um danach einen gut bezahlten Job zu bekommen. Dem hinterhältigen
Chinesen muss gezeigt werden, wer der Boss ist. Arbeitslosigkeit ist
schlecht und muss abgeschafft werden. Die Mittelklasse muss gerettet
werden.
Die Mittelklasse scheint (in den USA wie in Israel)
die ganze Bevölkerung auszumachen.
Man fragt sich, von was sie die Mitte sind. Man hört
kaum etwas von einer niedrigeren und einer höheren Klasse.
Kurzum: beide Kandidaten machten große Unterschiede
zwischen sich, aber sie sehen verdächtig gleich aus.
AUSSER NATÜRLICH ihrer Hautfarbe. Aber wagt man dies
überhaupt zu erwähnen? Nicht wenn man politisch korrekt sein will.
Die offensichtlichste Tatsache der Wahlkampagne ist auch das größte
Geheimnis.
Ich kann es nicht beweisen, aber mein Gefühl sagt
mir, dass bei diesen Wahlen die Rasse eine viel größere Rolle
spielt, als man zuzugeben bereit ist.
Bei den Präsidentendebatten kann eine Tatsache nicht
übersehen werden: dass ein Kandidat weiß ist und der andere
halbschwarz. Der Unterschied wird noch deutlicher, wenn die zwei
Frauen im Mittelpunkt stehen. Die eine kann kaum weißer als Ann
sein und die andere kaum schwärzer als Michelle.
Aber diese Dinge nicht zu erwähnen, lässt sie nicht
verschwinden. Sie sind da. Sie spielen sicher bei vielen Leuten
eine Rolle, vielleicht unbewusst.
Man kann sich nur wundern, dass Barack Hussein Obama
überhaupt an erster Stelle gewählt wurde. Es zeigt das amerikanische
Volk im besten Licht. Aber wird es dieses Mal eine Gegenreaktion
geben? Ich weiß es nicht.
VON ANFANG an hatte ich das Gefühl, dass Obama diese
Debatte gewinnen würde. Und er gewann.
In einem früheren Artikel erwähnte ich, dass ich
viele Bedenken gegenüber Obama habe. Ein wütender Leser fragte mich,
welche. Obama hat der Anti-Friedensagenda von Netanjahu
nachgegeben. Nach einigen schwachen Versuchen, Netanjahu dahin zu
bringen, mit dem Siedlungsbau aufzuhören, gab Obama auf .
Obama muss seinen Teil der Schuld auf sich nehmen,
denn er verschwendete vier kostbare Jahre, während denen er dem
israelisch-palästinensischem Frieden ernsthaften, vielleicht gar
irreversiblen Schaden zugefügt hat. Siedlungen sind mit
fieberhafter Eile erweitert worden, die Besatzung hat noch tiefere
Wurzeln geschlagen, die Zwei-Staaten-Lösung – die einzige, die es
gibt – ist schwer untergraben worden.
Der Arabische Frühling, der so einfach ein Neubeginn
für Frieden im Nahen Osten hätte sein können, ist vertan worden. Die
Arabische Friedensinitiative, die jahrelang auf dem Tisch gelegen
hat, liegt noch immer wie eine verwelkte Blume dort.
Die amerikanische Untätigkeit an diesem Problem hat
die Verzweiflung der israelischen Friedenskräfte am Vorabend
unserer eigenen Wahlen verstärkt, indem die Idee des Friedens ganz
und gar aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt wurde.
Auf der andern Seite hat Obama Netanjahu daran
gehindert, einen katastrophalen Krieg zu beginnen. Er könnte das
Leben von Hunderten oder gar Tausenden Menschen gerettet haben,
Israelis und Iranern und vielleicht am Ende auch das von
Amerikanern. Allein dafür müssen wir ihm zutiefst dankbar sein.
ICH HOFFE, dass Obama die Wahlen gewinnt. Oder eher,
dass der andere Kerl sie nicht gewinnt. Im Hebräischen zitieren wir
aus dem Buch Esther: „Nicht aus Liebe zu Mordechai, sondern aus Hass
gegenüber Haman.“
(Ich bin versucht, wieder einen alten jüdischen Witz
vom geizigen reichen Mann im Shtetl zu zitieren, den anlässlich
seines Todes keiner wie üblich loben wollte. Schließlich stand
einer auf und sagte: „Wir wissen alle, dass er knauserig, gemein
und habgierig war, aber verglichen mit seinem Sohn war er ein
Engel.“)
Dies ist natürlich eine große Übertreibung. Ich habe
wirkliche Sympathie für Obama. Ich denke, dass er grundsätzlich eine
dezente, wohlmeinende Person ist. Ich wünsche seine Wiederwahl – und
nicht nur, weil die gegnerische Seite so besorgniserregend ist.
WENN OBAMA gewählt wird, wie wird seine zweite
Amtszeit aussehen, so weit es uns betrifft?
Die heimliche Hoffnung besteht immer, dass ein
Präsident in seiner 2. Amtszeit sich viel weniger unterwürfig
gegenüber der „pro-Israel“-Lobby zeigt - die in Wirklichkeit eine
anti-Israel-Lobby ist, die uns in eine nationale Katastrophe führt.
Nachdem der Präsident wiedergewählt ist, wird er von
seinen Sorgen über diese Lobby - deren Wähler und deren Geld -
befreit sein. Natürlich, nicht ganz. Er wird sich noch über die
Zwischenwahlen zum Kongress Sorgen machen müssen und über das
Schicksal seiner Partei in der nächsten Präsidentenrunde.
Er wird aber viel mehr Spielraum haben. Er wird in
der Lage sein, viel mehr für den Frieden zu tun und für einen Wandel
des Nahen Ostens.
Sagen wir mit unsern arabischen Cousins: Inshallah! –
wenn Gott es will!
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert )