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Ein parlamentarischer Mob
Uri Avnery, 17.7.10
ALS ICH das erste Mal in die Knesset gewählt wurde, war ich
entsetzt über das, was ich vorfand. Ich entdeckte abgesehen von
wenigen Ausnahmen, dass der intellektuelle Inhalt der Debatten nahe
Null war. Er bestand hauptsächlich aus Klischees, so wie man sie
auch auf Allgemeinplätzen hören kann. Während der meisten Debatten
war das Plenum fast leer. Die meisten Mitglieder sprachen ein
vulgäres Hebräisch. Beim Abstimmen hatten viele Mitglieder keine
Idee, worüber sie pro oder contra stimmen sollten – sie folgten nur
den Ordern ihrer Partei.
Das war 1967, als die Knesset Mitglieder wie Levy Eshkol und Pinhas
Sapir, David Ben Gurion und Moshe Dayan, Menachem Begin und Yohanan
Bader, Meir Yaari und Yaakov Chazan einschloss, nach denen heute
Straßen und Vororte benannt werden.
Im
Vergleich zur gegenwärtigen Knesset sieht die damalige Knesset wie
Platons Akademie aus.
WAS MICH mehr als alles andere erschreckte, war die Bereitschaft der
Mitglieder, unverantwortliche Gesetze zu erlassen, um – besonders in
Zeiten von Massenhysterie - flüchtige Popularität zu gewinnen. Eine
meiner ersten Knessetinitiativen war, eine Gesetzesvorlage
einzureichen, nach der eine zweite Regierungskammer hätte geschaffen
werden können, eine Art Senat, zusammengesetzt aus herausragenden
Persönlichkeiten, die die Vollmacht hätten, die Einführung neuer
Gesetze aufzuhalten und die Knesset zu zwingen, sie nach einer Pause
neu zu überdenken. Ich hoffte, dies würde verhindern, dass Gesetze
übereilt in hitziger Atmosphäre angenommen werden würden.
Diese Gesetzesvorlage wurde nicht ernst genommen, weder von der
Knesset noch von der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Knesset stimmte
beinahe einstimmig dagegen. ( nach ein paar Jahren sagten mir einige
Mitglieder, dass sie ihre Abstimmung von damals bedauerten). Die
Zeitungen betitelten die vorgeschlagene Kammer „House of Lords“ und
machten sie lächerlich. Haaretz widmete dem Vorschlag eine ganze
Seite Karikaturen und stellte mich im Gewand eines britischen
Adligen dar.
Es
gibt also keine Bremse. Die Produktion unverantwortlicher Gesetze,
von denen die meisten rassistisch und anti-demokratisch sind,
gedeiht. Je mehr sich die Regierung selbst in eine Versammlung
politischer Parteibonzen verwandelt, um so geringer wird ihre
Fähigkeit, solche Gesetzgebung zu verhindern, Die gegenwärtige
Regierung, die größte, die minderwertigste und verachtetste in
Israels Geschichte, arbeitet mit den Knessetmitgliedern zusammen,
um solche Gesetzesvorlagen einzureichen, ja sie sogar selbst zu
initiieren.
Das einzig verbliebene Hindernis für diese unverantwortliche
Haltung ist der Oberste Gerichtshof. Da wir keine Verfassung haben,
hat er sich die Vollmacht genommen, skandalöse Gesetze, die die
Demokratie und die Menschenrechte verletzen, zu annullieren. Aber
der Oberste Gerichtshof wird selbst von rechten Extremisten
belagert, die ihn zerstören wollen. Er verhält sich deshalb sehr
zurückhaltend. Er interveniert nur in extremen Fällen.
So
hat sich eine paradoxe Situation ergeben: das Parlament, der höchste
Ausdruck von Demokratie, ist jetzt selbst zu einer ernsthaften
Bedrohung der israelischen Demokratie geworden.
DER MANN, der dieses Phänomen mehr als jeder andere personifiziert,
ist das Knessetmitglied Michael Ben-Ari von der „Nationale
Union“-Partei, dem Erben von Meir Kahane, dessen Organisation „Kach“
( „So“) vor vielen Jahren wegen ihres offen faschistischen
Charakters verboten worden war.
Kahane wurde nur einmal in die Knesset gewählt. Die Reaktion der
anderen Mitglieder war eindeutig: wann immer er aufstand, um das
Wort zu ergreifen, verließen fast alle anderen Mitglieder den Saal .
Der Rabbiner musste seine Rede vor einer handvoll ultra-rechter
Kollegen halten.
Vor ein paar Wochen besuchte ich die augenblickliche Knesset das
erste Mal seit ihrer Wahl. Ich ging hin, um einer Debatte zuzuhören,
die auch mich betraf: die Entscheidung der palästinensischen
Behörde, die Produkte der Siedlungen zu boykottieren – viele Jahre,
nachdem Gush Shalom diesen Boykott gestartet hatte. Ich verbrachte
ein paar Stunden in dem Gebäude, und von Stunde zu Stunde wuchs mein
Widerwille.
Der Hauptgrund war eine Tatsache, die mir bis dahin nicht bewusst
war: MK Ben-Ari, der Schüler und Bewunderer von Kahane, lässt sich
dort feiern. Er ist kein isolierter Außenseiter am Rande des
parlamentarischen Lebens, wie es sein Mentor gewesen war. Im
Gegenteil, er steht im Mittelpunkt. Ich sah Mitglieder fast aller
Fraktionen sich in der Cafeteria der Mitglieder um ihn scharen und
ihm und seinem endlosen Gerede im Plenum mit gespannter
Aufmerksamkeit zu lauschen. Zweifellos hat sich der Kahanismus –
eine israelische Version von Faschismus – vom Rand ins Zentrum
bewegt.
VOR KURZEM ist das Land Zeuge einer Szene geworden, die so aussah,
als hätte sie im Parlament von Südkorea oder Japan stattgefunden.
Auf dem Rednerpult des Knessetsprechers stand das Knessetmitglied
Hanin Soabi von der arabisch-nationalistischen Baladfraktion und
versuchte zu erklären, warum sie sich der Gaza-Hilfs-Flotille
angeschlossen hatte, die von der israelischen Marine angegriffen
worden war. MK Anastasia Michaeli, ein Mitglied der Lieberman-Partei,
sprang von ihrem Sitz auf und lief mit grauenerregenden Schreien und
erhobenen Armen auf das Podium zu, um Hanin Soabi mit Gewalt von
dort wegzuziehen. Andere Mitglieder erhoben sich von ihren Sitzen,
um Michaeli zu helfen. Neben der Rednerin versammelte sich ein
drohendes Knäuel von Knessetmitgliedern. Nur mit großer Mühe gelang
es Saalordnern, Soabi vor körperlichem Schaden zu bewahren. Eines
der männlichen Mitglieder schrie sie in einer Mischung von
Rassismus und Sexismus an: „Geh nach Gaza und sieh, was man dort mit
einer 41jährigen unverheirateten Frau tun wird!“
Es
hätte keinen größeren Unterschied zwischen den beiden weiblichen
MKs ( Mitglieder der Knesset) geben können. Während Hanin Soabi aus
einer Familie aus der Gegend Nazareths kommt, deren Ursprünge
Jahrhunderte zurückgehen, vielleicht bis in Jesu Zeiten, wurde
Anastasia im (damaligen) Leningrad geboren, wurde zur Miss Sankt
Petersburg gewählt, wurde dann Mannequin, heiratete einen Israeli,
konvertierte zum Judentum und immigrierte mit 24 nach Israel,
behielt aber ihren sehr russischen Vornamen bei. Sie wurde Mutter
von acht Kindern. Sie könnte eine israelische Sara Palin sein, die
schließlich auch eine Schönheitskönigin war.
So
weit ich ausmachen konnte, hat sich kein einziges jüdisches Mitglied
erhoben, um Soabi während des Tumultes beizustehen. Nichts als ein
paar schwache Proteste des Knessetpräsidenten Reuven Rivlin und
des Meretz-Mitglieds Chaim Oron.
In
all den 61 Jahren ihrer Existenz hat die Knesset keinen solchen
Anblick geboten. Innerhalb einer Minute verwandelte sich die
souveräne Versammlung in einen parlamentarischen Lynchmob.
Man muss nicht die Ideologie der Baladpartei teilen, um die
beeindruckende Persönlichkeit von Hanin Soabi zu respektieren. Sie
spricht fließend und gut (auch hebräisch) , hat akademische Grade
von zwei israelischen Universitäten, kämpft für die Rechte der
Frauen innerhalb der israelisch-arabischen Gesellschaft und ist das
erste weibliche Mitglied einer arabischen Fraktion in der Knesset.
Die israelische Demokratie könnte stolz auf sie sein. Sie kommt aus
einer arabischen Großfamilie. Der Bruder ihres Großvaters war
Bürgermeister von Nazareth und ein Onkel stellvertretender Minister,
ein anderer Richter am Obersten Gerichtshof. (Tatsächlich schlug ich
an meinem ersten Tag in der Knesset ein anderes Mitglied der
Soabi-Familie vor, zum Knessetpräsidenten gewählt zu werden).
In
dieser Woche entschied eine große Mehrheit der Knesset, einen
Vorschlag von Michael Ben-Ari anzunehmen, der von Likud und
Kadima-Mitgliedern unterstützt wurde: es sollten Hanin Soabis
parlamentarische Privilegien entzogen werden. Davor fragte der
Innenminister sogar den Rechtsberater der Regierung um die
Genehmigung seines Planes, Soabi wegen Hochverrats die israelische
Staatbürgerschaft zu entziehen. Eines der Knessetmitglieder schrie
sie an: „Du gehörst nicht in die israelische Knesset! Du hast kein
Recht, einen israelischen Ausweis zu tragen.!“
Am
selben Tag befasste sich die Knesset mit einer Aktion gegen den
Gründer von Zoabis Partei, Asmi Bishara. Bei einer ersten Anhörung
genehmigte sie einen Gesetzesentwurf – auch dieser von Likud und
Kadima-Mitgliedern unterstützt - der dahin zielte, Bisharas Pension
zu streichen, auf die er nach seinem Rücktritt aus der Knesset ein
Recht hat. (Er ist im Ausland geblieben, nachdem ihm mit einer
Anklage wegen Spionage gedroht worden war.)
Die stolzen Eltern dieser Initiativen, die massive Unterstützung von
Likud, Kadima, Liebermans Partei und all den religiösen Fraktionen
erhielten, verbargen ihre Absicht nicht, alle Araber aus dem
Parlament zu vertreiben und endlich eine rein jüdische Knesset zu
errichten. Die letzten Entscheidungen der Knesset sind nur teil
einer seit langem andauernden Kampagne, die fast jede Woche neue
Initiativen von öffentlichkeitshungrigen Mitgliedern hervorruft, die
wissen, dass je rassistischer und antidemokratischer ihre
Gesetzesentwürfe sind, sie bei vielen Wählern um so populärer
werden .
So
war auch die Knessetentscheidung dieser Woche: die Bedingung für den
Erwerb der Staatbürgerschaft zu bestimmen: der Kandidat muss einen
Eid auf Israel als einen „jüdischen und demokratischen Staat“
schwören. Das würde bedeuten, dass Araber ( besonders ausländische
arabische Ehepartner von arabischen Bürgern) sich der zionistischen
Ideologie unterwerfen. ( Das US-Äquivalent würde die Forderung
gegenüber neuen amerikanischen Bürgern sein, die einen Eid auf die
USA als einem „weißen, angelsächsischen protestantischen Staat“
ablegen müssten.)
Es
scheint keine Grenzen der parlamentarischen Unverantwortlichkeit zu
geben. Alle roten Linien sind schon vor langer Zeit überschritten
worden. Dies betrifft nicht nur die parlamentarische Vertretung von
mehr als 20% von Israels Bürgern. Es gibt eine klare Tendenz, allen
arabischen Bürgern die Staatsbürgerschaft zu entziehen.
DIESE TENDENZ ist mit dem anhaltenden Angriff auf den Status der
Araber in Ost-Jerusalem verbunden.
In dieser Woche war ich auch bei einer Gerichtsverhandlung im
Jerusalemer Amtsgericht wegen der Verhaftung von Muhammed Abu-Ter,
einem der vier Hamasmitgliedern des palästinensischen Parlaments von
Jerusalem. Die Verhandlung wurde in einem winzigen Raum abgehalten,
in dem nur etwa ein Dutzend Zuhörer Platz hatten. Mir gelang es, nur
mit großen Schwierigkeiten hinein zu kommen.
Nachdem sie in demokratischen Wahlen gewählt worden waren und -
entsprechend Israels expliziter Verpflichtung nach dem
Oslo-Abkommen - den Arabern Ost-Jerusalems erlaubt worden war,
daran teilzunehmen, verkündete die Regierung, dass ihr Status als
„permanente Bewohner“ widerrufen worden sei.
Was bedeutet das? Als Israel Ost-Jerusalem 1967 annektierte, dachte
die Regierung nicht im Traume daran, den Bewohnern die Bürgerschaft
zu geben, was den Prozentsatz arabischer Wähler in Israel
bedeutend vergrößert hätte. Man erfand auch keinen neuen Status für
sie. Da andere Alternativen fehlten, wurden die Einwohner zu
„permanenten Bewohnern “, einem Status, den man Ausländern gibt, die
in Israel wohnen bleiben wollen. Der Innenminister hat das Recht,
diesen Status zu widerrufen und solche Leute in das Land ihres
Ursprungs zu deportieren.
Natürlich passt diese Definition des „permanenten Bewohner“ nicht
für die Einwohner Ost-Jerusalems. Sie und ihre Vorfahren wurden hier
geboren. Sie haben keine andere Staatsbürgerschaft und keinen
anderen Wohnort. Der Widerruf ihres Status’ macht sie zu politisch
Heimatlosen, die nirgendwo hingehören und ohne irgend einen Schutz
sind.
Der Staatsanwalt behauptete vor Gericht, dass mit dem Streichen
seines Status als „permanenter Bewohner“ Abu-Ter eine „illegale
Person“ geworden sei, dessen Weigerung, die Stadt zu verlassen,
unbegrenzte Haft rechtfertigt.
(Einige Stunden vorher befasste sich der Oberste Gerichtshof mit
unserer Petition, die die Untersuchung des Gaza-Flotille-Vorfalls
betraf. Wir errangen einen partiellen, aber bedeutsamen Sieg:
zum ersten Mal in der Geschichte des Obersten Gerichtshofes stimmte
dieser zu, sich in einer Sache einzumischen, die eine
Untersuchungskommission betraf. Das Gericht entschied, dass wenn die
Kommission die Zeugenaussagen der Offiziere fordert und die
Regierung dies zu verhindern versucht, sich das Gericht einmischen
würde.)
WENN EINIGE Leute versuchen, sich selbst etwas vorzumachen und
glauben, dass der parlamentarische Mob „nur Araber“ verletzen will,
dann haben sie sich sehr geirrt. Die einzige Frage ist: wer kommt
als nächstes dran ?
In
dieser Woche adoptierte die Knesset bei der ersten Lesung einen
Gesetzesentwurf, der schwere Strafen über Israelis verhängt, die
sich für einen Boykott Israels im allgemeinen und auf
wirtschaftliche Unternehmen, Universitäten und andere israelische
Institutionen, einschließlich Siedlungen im Besonderen aussprechen.
Jede dieser Institutionen ist berechtigt, einen Schadenersatz von
5000 Dollar von jedem Unterstützer des Boykotts zu verlangen.
Ein Aufruf zum Boykott ist ein demokratisches Ausdrucksmittel. Ich
bin gegen einen allgemeinen Boykott Israels, aber ( nach Voltaire)
bin ich bereit, dafür zu kämpfen, dass jeder das Recht hat , zum
Boykott aufzurufen. Das wirkliche Ziel der Gesetzvorlage ist
natürlich, die Siedlungen zu schützen. Es ist dafür bestimmt,
diejenigen abzuschrecken, die zu einem Boykott der Produkte von
Siedlungen aufrufen, die außerhalb der 1967er -Grenze im besetzten
Land bestehen. Dies schließt mich und meine Freunde ein.
Seit der Gründung Israels hat dieses nie aufgehört, sich damit zu
rühmen, die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ zu sein. Dies ist
ein Juwel in der Krone der israelischen Propaganda. Die Knesset ist
das Symbol der Demokratie.
Es
scheint, dass der parlamentarische Mob, der die Knesset übernommen
hat, entschlossen ist, dieses Image ein für alle Mal zu zerstören,
so dass Israel seinen eigentlichen Platz irgendwo zwischen
Libyen, dem Jemen und Saudi Arabien finden wird.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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