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Die moralischste Armee
Uri Avnery, 18. März 2017
VOR EIN
paar Tagen sah ich zufällig einen exzellenten britischen Film: „Das
Testament der Jugend“, der sich auf die Memoiren der Vera Brittain
gründete.
Vera erzählt ihre
Geschichte, die Geschichte eines britischen Mädchens, das in einer
bürgerlichen Familie ohne Ärger und Sorgen aufwuchs, als der 1.
Weltkrieg dem Paradies ein Ende bereitete. Ihr Bruder, ihre Freunde
und ihr Verlobter wurden einer nach dem Anderen im schrecklichen
Schlamm Frankreichs getötet. Sie meldete sich als Krankenschwester
nahe der Front und befasste sich mit Hunderten von Verletzten und
Toten. Das empfindliche Mädchen vom Lande wurde zu einer
abgehärteten Frau.
Die Szene, die mich
am meisten rührte, geschah, als sie zu einer Baracke voll
verwundeter Deutschen kommandiert wurde. Ein deutscher, nicht mehr
ganz junger Offizier stirbt. In seinem Delirium sieht er seine
Geliebte, fasst nach Veras Händen und flüstert:„Bist du es Klara?“
und Vera antwortet auf Deutsch: „Ich bin hier“. Mit einem
glücklichen Lächeln auf seinen Lippen stirbt der Deutsche.
Am Tag nach dem
Krieg verlangte eine englische Volksmenge einen Frieden der Rache.
Vera geht auf die Bühne und erzählt dieses Erlebnis. Die Menge wird
still.
DER FILM
brachte mich zurück zu der Affäre mit Elor Azaria, dem Soldaten, der
einen schwer Verletzten arabischen Angreifer, der hilflos am Boden
liegt, tötete. Er ist vom Militärgericht scharf verurteilt worden,
bekam aber nur eine lächerlich leichte Gefängnisstrafe von
anderthalb Jahren. Sein nach Publizität-grabschender Anwalt hat
Berufung eingelegt.
Einen Verletzten
oder einen gefangenen Feind zu töten, ist ein Kriegsverbrechen.
Warum ?
Für viele Leute ist
dies ein Rätsel. Krieg ist das Reich des Tötens und der Zerstörung.
Soldaten werden für das Töten ausgezeichnet. Warum ist das Töten
eines verletzten Feindes plötzlich ein Verbrechen? Wie ist es
möglich, über ein Gesetz des Krieges zu reden, wenn der Krieg selbst
alle Gesetze bricht? Eine Armee, die ihre Soldaten trainiert, zu
töten, wie kann sie von ihnen verlangen, Gnade zu zeigen?
Seit Beginn der
Menschheit, ist Krieg eine menschliche Begebenheit gewesen. Es
begann beim primitiven Stamm, der seine begrenzten Ressourcen von
Nahrung von raubenden Nachbarn verteidigte. Ein toter Nachbar
bedeutet mehr Nahrung.
Die Grenzen der
Kriegsverwüstung wurden in einem der furchtbarsten Konflikte in der
Geschichte – dem 30jährigen Krieg (1618-1648) - festgelegt. Sein
Hauptschlachtfeld war Deutschland – ein flaches Land mitten in
Europa ohne natürliche wehrhafte Grenzen. Fremde Armeen drangen von
allen Seiten ein, um sich untereinander zu bekämpfen. Armeen
verwüsteten ganze Städte, töteten, vergewaltigten und plünderten.
Er begann als
Religionskrieg, wurde aber ein Krieg um Vormacht und Gewinn.
Millionen starben.
Am Ende waren 2/3 von Deutschland verwüstet, 1/3 der deutschen
Bevölkerung ausgelöscht. Eines der Ergebnisse war, dass die
Deutschen, denen jede natürliche, zu verteidigende Grenzen, wie Seen
und Gebirge fehlten, eine künstliche Grenze schufen: eine mächtige
Armee. Es war der Beginn des deutschen Militarismus, der seinen
Höhepunkt im Nazi-Wahnsinn hatte.
HUMANISTEN, DIE
Zeugen der Gräueltaten des Dreißigjährigen Krieges waren, dachten
über Wege nach, um die Kriege zu begrenzen und eine Grundlage eines
internationalen Gesetzes zu schaffen. Der hervorragende Befürworter
war der Holländer Hugo de Groot („Grotius“), der Gründer der
Kriegsregeln.
Wie kann ein Krieg
begrenzt werden? Wie können Waffen „rein“ sein, wenn ihr Hauptzweck
das Töten und Zerstören ist? Grotius legte dem ein einfaches Prinzip
zu Grunde: Nichts kann getan werden, um die Mittel und die nötige
Praxis zu begrenzen und um einen Krieg zu gewinnen. Keine Armee wird
solche Begrenzungen respektieren.
Aber im Krieg
geschehen Dinge, die nichts mit einem Sieg zu tun haben. Getötete
Zivilisten, Gefangene und die Verletzten tragen nichts zum Sieg bei.
Ihr Leben ist für alle Seiten gut. Wenn ich das Leben von
gefangenen, feindlichen Soldaten schone, und der Feind das Leben
meiner eigenen Soldaten, die gefangen werden, dann gewinnt jeder.
Auf diese Weise
sind die modernen Kriegsgesetze nicht nur moralisch und human, sie
sind auch sensibel. Alle zivilisierten Nationen halten sie ein. Sie
zu brechen, ist ein Verbrechen.
Anfangs verbat das
Gesetz das Töten der Gefangenen und Verletzten, und es galt nur für
uniformierte Soldaten. Aber in den letzten Generationen wurde die
Grenze zwischen uniformierten Soldaten und kämpfenden Zivilisten
immer weiter nach unten geregelt. Guerillas, Partisanen,
Untergrundkämpfer, Terroristen sind ein Teil der anerkannten
Kriegsführung. Das Internationale Gesetz wurde erweitert, um auch
diese mit einzuschließen.
(Was ist der
Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Freiheitskämpfer?
Ich bin stolz, dass ich vor langer Zeit die einzige
wissenschaftliche Formel entdeckt habe: „Freiheitskämpfer sind auf
meiner Seite, Terroristen sind auf der anderen Seite“.)
So kommen wir
zurück zu Elor Azaria, einen neutralisierten, feindlichen
Verwundeten zu töten, ist ein Kriegsverbrechen, ganz einfach.
Verwundete „Terroristen“ müssen medizinisch behandelt werden. Sie
sind keine Feinde mehr, sie sind verletzte Menschen. Wie der
sterbende Deutsche in dem Film.
SARAH NETANJAHU,
die weithin unpopuläre Gattin unseres Ministerpräsidenten, sagte
kürzlich in einem Interview: „Ich glaube, dass die israelische Armee
die moralischste Armee in der Welt ist.“
Sie zitierte nur
einen israelischen „Glaubensartikel“, der endlos in allen
israelischen Medien, Schulen und politischen Reden wiederholt wird.
Einige mögen
denken, dass eine „moralische Armee“ ein Oxymoron ist. Armeen sind
von Natur aus unmoralisch. Armeen sind dazu da, Krieg zu führen und
der Krieg ist von Grund auf unmoralisch.
Man mag sich
fragen, wie der Krieg all die Jahrtausende überlebt hat. Die
Humanität hat einen enormen Fortschritt auf allen Feldern gemacht,
doch der Krieg hat angedauert. Es scheint, dass er zu tief in der
menschlichen Natur und der menschlichen Gesellschaft verwurzelt ist.
Wenn zwei Bürger
sich streiten, ist es ihnen nicht mehr erlaubt, einander zu töten.
Sie müssen vor Gericht gehen und das Urteil akzeptieren, das sich
auf ein Gesetz gründet, das alle akzeptieren. Der gesunde
Menschenverstand würde sagen, dass dasselbe auch bei Nationen gelten
sollte. Wenn zwei Staaten einen Streit haben, sollten sie zum
Internationalen Gericht gehen und sein Urteil friedlich erfüllen.
Wie weit sind wir
von solch einer Realität entfernt? Jahrhunderte? Millionen Jahre?
Eine Ewigkeit?
Im 17. Jahrhundert
wurde Krieg von Söldnern geführt, die um Gewinn kämpften. Manchmal
wechselten Regimenter auf dem Schlachtfeld die Seiten. Soldaten
plünderten. Die „ Belagerung von Magdeburg“ während des 30jährigen
Krieges lebt in der deutschen Geschichte bis auf diesen Tag Es war
eine Orgie des Plünderns, Tötens, der Vergewaltigung in jener Stadt
südwestlich von Berlin.
Ein Jahrhundert
später wurde Krieg von professionellen nationalen Armeen geführt und
wurden ein wenig zivilisierter. Die Kriege von Ludwig 16. und
Friedrich dem Großen ließen die zivile Bevölkerung weithin
unbehelligt.
Mit der
Französischen Revolution kamen die modernen Massenarmeen auf.
Allgemeiner Wehrdienst wurde zur Regel und ist es noch immer -in
Israel und einigen andern Ländern-- rechtskräftig.
Wehrdienst
bedeutet, dass fast jeder Seite an Seite dient – der Gute und der
Böse, der Normale und der Lasterhafte. Ich habe wohlerzogene Söhne
aus „guten Familien“ gesehen, die schreckliche Kriegsverbrechen
begingen. Als ich sie ein paar Jahre später traf, waren sie
gesetzestreue Bürger, stolze Väter von Familien.
Meine eigene
Beobachtung war, dass wenn in einer ordentlichen Truppe ein paar
stabile, moralische Soldaten mit ein paar schlechten Äpfeln dienen
und die Mehrheit der Soldaten in der Mitte dienen, gibt es eine
Chance, dass die besseren den Ton angeben.
Doch gibt es auch
die Möglichkeit, dass die Besseren sich den andern angleichen und am
Ende ist der ganze Haufen entmenschlicht. Das ist ein gutes Argument
für Wehrdienstverweigerer.
(Ich muss zugeben,
dass ich bei diesem Problem hin und her gerissen bin. Einerseits
würde ich gern moralisch gesunde Männer und Frauen beim Militär
haben, dass sie ihren Dienst tun und ihre Einheit beeinflussen.
Andrerseits bin ich mit denen tief verbunden, die dem Ruf ihres
Gewissens folgen und den Preis zahlen - drei Mädchen sind jetzt im
Militärgefängnis.
WENN ICH
einen Soldaten sehe, der einen verletzten Feind kaltblütig
erschießt, frage ich mich: Wer sind seine Eltern? In welcher Familie
ist er aufgewachsen? Wer sind seine Kommandeure?
Die größere Schuld
muss man den Offizieren geben, vom Kompanieführer aufwärts bis zum
Front-Kommandeur. In einer Armee müssen immer die Kommandeure die
Hauptverantwortung tragen. Alles hängt von den moralischen
Standards ab, die sie
Ihren
Untergeordneten einschärfen. Denen gebe ich als erstes und vor allem
die Schuld.
Direkt zu Beginn
dieser Affäre schlug ich für Azaria eine harsche Gefängnisstrafe
vor, damit es alle sehen. Dann würde ich ihn begnadigen – aber nur
unter der Bedingung, dass er öffentlich sein Verbrechen zugibt und
um Vergebung bittet. Bis jetzt hat er sich geweigert, dies zu tun.
Er sonnt sich selbst im Schein seines Status als Held gegenüber
Teilen der Bevölkerung wie z.B. seinen Eltern, die sich ihrer
öffentlichen Publizität erfreuen.
WIE MORALISCH
ist also die israelische Armee?
Noch bevor der
Staat Israel gegründet wurde, war die Untergrundorganisation (die
Hagana), die ihre Basis bildete, stolz auf ihre Moral. „Die Reinheit
der hebräischen Waffen“ war der Slogan damals so wie heute. Es war
damals so wahr wie es heute ist, aber es schuf den Glauben an „die
moralischste Armee der Welt.“
Aber so etwas wie
eine moralische Armee gibt es nicht. Leider sind Armeen in dieser
Welt nötig. Aber ihre Moral ist immer fragwürdig.
Wenn ich unsere
Armee einstufen sollte, würde ich vermuten, dass sie moralischer ist
als die russische Armee und weniger moralisch ist als – sagen wir
mal so – als die Schweizer Armee.
Die einzige völlig
moralische Armee ist die Armee, die keine Kriege führt.
(dt. Ellen Rohlfs.
vom Verfasser autorisiert)
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