Ein
sehr einseitiger Krieg
Uri Avnery, 21.8.04
„Von meinetwegen,
können sie alle verhungern.!“ verkündete Zachi Hanegbi, nachdem die
palästinensischen Gefangenen einen zeitlich unbegrenzten
Hungerstreik wegen der Gefängnis-bedingungen erklärt hatten. Auf
diese Weise fügte der Minister für Innere Sicherheit dem Lexikon
über den israelisch-palästinensischen Konflikt einen weiteren
denkwürdigen Satz hinzu.
Hanegbi wurde das
erste Mal berühmt (oder berüchtigt) als von ihm als Student ein
Photo aufgenommen wurde, während er mit seinen Freunden arabische
Studenten mit Fahrradketten jagte. Damals veröffentlichte ich ein
Photo von ihm, das in den 30er Jahren deutsche und polnische
Studenten nicht beschämt hätte. Es gibt nur einen kleinen
Unterschied: in den Dreißigern waren die Juden die Verfolgten –
jetzt sind sie die Verfolger.
Mittlerweile hat
sich Hanegbi wie viele junge Radikale verändert – er wurde ein
rücksichtloser Karrierist. Er ist ein Minister geworden, der selbst
an heißen Sommertagen elegante Anzüge trägt und der mit der
typischen, wichtigtuerischen Gangart eines Kabinettsministers
daherkommt. Jetzt unterstützt er sogar Ariel Sharons Abzugsplan –
sehr zum Missfallen seiner Mutter Geula Cohen, einer extrem rechten
Militanten, die sich nicht verändert hat.
Doch abgesehen vom
Ministeranzug und der Toga des Staatsmannes, ist Zachi Zachi
geblieben, was durch die totale Unmenschlichkeit seines Statements
über die Gefangenen deutlich wird, für deren Wohlergehen er
offiziell verantwortlich ist. Sein Einfluss beschränkt sich nicht
auf Worte: die augenblickliche Gefängniskrise wurde durch seine
Ernennung eines neuen Direktors der Gefängnisse ausgelöst, der
sofort daran ging, für die palästinensischen Gefangenen härtere
Bedingungen zu schaffen.
Doch wollen wir
nicht zu viele Gedanken über den ehrenwerten Minister verschwenden.
Viel wichtiger ist es, sich Gedanken über den Streik selbst zu
machen.
Das Grundübel liegt
in einer israelischen Erfindung: der einseitige Krieg.
Die Generäle der
israelischen Armee erklären immer wieder, wir befänden uns in einem
Krieg.. Der Kriegszustand erlaubt ihnen, Akte wie „gezielte
Tötungen“ zu verüben, die man sonst Mord nennen würde. Aber in einem
Krieg tötet man den Feind ohne Gerichtsverfahren. Und im Allgemeinen
sind das Töten und Verletzen von Menschen, das Zerstören von Häusern
und Plantagen und all die anderen Akte der Besatzung zu
alltäglichen Vorfällen geworden, die durch den Kriegszustand
gerechtfertigt werden.
Aber dies ist ein
sehr spezieller Krieg, weil er nur den Kämpfern der einen Seite
Rechte zugesteht. Auf der anderen Seite ist kein Krieg, gibt es
keine Kämpfer, kein Recht der Kämpfer – sondern nur Verbrecher,
Terroristen und Mörder.
Warum?
In früheren Zeiten
machte man einen klaren Unterschied: man war Soldat, wenn man eine
Uniform trug; wenn man keine Uniform trug, war man ein Verbrecher.
Soldaten einer angreifenden Armee war es erlaubt, lokale Bewohner,
die auf sie schossen, an Ort und Stelle zu exekutieren. Aber in der
Mitte des 20. Jahrhunderts änderte sich dies. Weltweit wurde man
sich darin einig, dass die Mitglieder des französischen
Widerstandes, die russischen, jugoslawischen u.a. Partisanen Kämpfer
waren und deshalb als legitime Kämpfer unter internationalem Schutz
standen. Internationale Konventionen und Kriegsregeln wurden
entsprechend abgeändert.
Was ist also der
Unterschied zwischen Soldaten und Terroristen? Nun, die Besatzer
sagen, da bestehe ein riesiger Unterschied: Soldaten bekämpfen
Soldaten, Terroristen verletzen unschuldige Zivilisten.
Wirklich? Der
Pilot, der über Hiroshima die Atombombe warf, tötete Zehntausende
von unschuldigen Zivilisten – war er ein Soldat oder ein
Krimineller, ein Terrorist? Und was waren die Piloten, die ganze
Städte wie Hamburg und Dresden zerstörten, als es dafür keine
triftige militärische Notwendigkeit mehr gab? Das erklärte Ziel war,
den Willen der deutschen Zivilbevölkerung zu brechen und sie zur
Kapitulation zu zwingen. Waren die Kommandeure der britischen und
amerikanischen Luftwaffe Terroristen ( wie die Nazis sie damals
tatsächlich nannten und so das Wort „Terrorflieger“ erfanden)?
Was ist der
Unterschied zwischen einem amerikanischen Piloten, der eine Bombe
auf einen Bagdader Markt fallen lässt und einem irakischen
Terroristen, der eine Bombe auf demselben Markt explodieren lässt?
Die Tatsache, dass der Pilot eine Uniform trägt? Oder dass er seine
Bombe aus größerer Entfernung fallen lässt und so die Kinder
natürlich nicht sieht, die er tötet?
Ich sage dies
nicht, um das Töten von Zivilisten zu rechtfertigen, Gott bewahre!
Im Gegenteil – ich verurteile dies absolut, egal, wer das tut: ob
Soldaten, Guerillas, Piloten hoch oben oder Terroristen hier unten.
Für alle gilt ein und dasselbe Gesetz.
Soldaten, die vom
Feind gefangen genommen werden, werden Kriegsgefangene, denen Rechte
zustehen, die von internationalen Konventionen garantiert werden.
Eine spezielle internationale Organisation – das Rote Kreuz –
überwacht dies. Kriegsgefangene werden nicht wegen Strafe oder aus
Rache festgehalten, sondern nur, um sie daran zu hindern, zum
Schlachtfeld zurückzukehren. Sie werden entlassen, sobald der
Frieden einkehrt.
Von ihren Feinden
gefangene Untergrundkämpfer werden oft wie Verbrecher vor Gericht
gestellt.. Ihnen werden in Israel nicht nur die Rechte der
Kriegsgefangenen (POW) entzogen, ihre Gefängnisbedingungen sind
schlimmer als die unmenschlichen Bedingungen, die israelischen
Kriminellen auferlegt werden. Die Amerikaner haben von uns gelernt
und Präsident George W. Bush hat afghanische Kämpfer in ein extra
für sie errichtetes, berüchtigtes Gefängnis in Guatanamo
geschickt, wo sie aller menschlichen Rechte beraubt sind, der Rechte
der Kriegsgefangenen und der Rechte gewöhnlicher kriminellen
Gefangenen.
Als vor sechzig
Jahren die jüdischen Untergrundorganisationen gegen das britische
Besatzungs- und Kolonialregime in Palästina kämpften, forderten wir,
dass unseren Gefangenen die Rechte der Kriegsgefangenen gewährt
werden. Die Briten waren nicht damit einverstanden; in der Praxis
aber wurden die Gefangenen so behandelt, als wären sie POWs. Die
gefangenen Untergrundkämpfer konnten sich an einem Fernstudium
beteiligen. Viele von ihnen konnten ihr Jura- oder andere Studien in
britischen Gefängnislagern abschließen.
Eine der damaligen
Gefangenen war Geula Cohen, Zachi Hanegbis Mutter. Man würde wohl
gerne wissen wollen, wie sie und ihre Kameraden der
Stern-Untergrundgruppe reagiert hätten, wenn ein britischer
Polizeikommandeur erklärt hätte: „Es kümmerte mich einen Dreck, wenn
sie im Gefängnis gestorben wäre.“ Wahrscheinlich hätten sie
versucht, ihn zu ermorden. Glücklicherweise handelten die Briten
anders. Sie brachten sie sogar zur Behandlung in ein Krankenhaus, (
aus dem sie mit Hilfe von arabischen Dorfbewohnern fliehen konnte).
Gegenüber den
irischen Untergrundkämpfern verfolgten die Briten eine andere Linie.
Als diese einen Hungerstreik erklärten, ließ Margaret Thatcher sie
Hungers sterben. Diese Episode brachte ihr zusätzlich zu ihrer
Haltung gegenüber Arbeitern und Bedürftigen den Ruf als
unmenschliche Person ein.
Menschliche
Behandlung von politischen Gefangenen ist auch aus rein
pragmatischen Gründen richtig. Ex-Gefangene besetzen nun die oberen
Ränge der palästinensischen Behörde. Männer, die 10, 15 oder gar 20
Jahre in israelischen Gefängnissen saßen, sind politische Führer,
Minister, Bürgermeister geworden. Sie sprechen fließend hebräisch
und kennen die Israelis gut. Fast alle von ihnen gehören jetzt dem
gemäßigten Lager an und stimmen für Koexistenz zwischen Israel und
einem palästinensischen Staat. Sie sind es auch, die die
Gruppierungen leiten, die Demokratie und Reformen in der
palästinensischen Behörde fordern. Die faire Behandlung, die sie
damals vom Gefängnispersonal erhielten, muss wohl dazu beigetragen
haben.
Die Hauptsache für
mich aber ist, der Staat Israel sollte nicht wie Zachi Hanegbi und
seinesgleichen aussehen. Wichtig für mich ist, dass Menschen –
Palästinenser genau so wie Israelis – in Israels Gefängnissen nicht
vor Hunger sterben sollten. Wichtig für mich ist auch, dass
Gefangenen – egal ob Israelis oder Palästinensern – menschliche
Bedingungen gewährt werden sollen.
Wenn Zachi Hanegbi
im Gefängnis einsäße, würde ich auch für ihn genau dies fordern.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
|