Vor der nächsten Katastrophe
Uri Avnery, 1.1. 05
Stellen wir uns einen Augenblick
vor, diese große Flutwelle hätte die westlichen Küsten Europas
getroffen und Hunderttausende von Engländern, Iren, Holländern,
Belgiern, Franzosen, Spaniern und Portugiesen wären Opfer des
Tsunami geworden, und die Ostküste der USA wäre auch betroffen
worden.
Wie würde die Welt wohl in Aktion
getreten sein! Wie wären die Regierungen schlagartig aktiv
geworden! Was für große Geldsummen wären innerhalb von Stunden
geflossen, um zu retten, was hätte gerettet werden können und um
Epidemien, die Millionen bedrohen, zu verhindern.
Doch es geschah nicht in Europa. Es
geschah weit weg – in den von Armut geschlagenen asiatischen
Ländern. Das ist der Unterschied.
Musste dies so geschehen?
Das Erdbeben konnte nicht verhindert
werden, und eine genügende Warnung konnte auch nicht gegeben
werden. Aber der Augenblick des Erdbebens mitten im Meer wurde
registriert, mit einem Tsunami musste gerechnet werden. Als er
seinen Amoklauf über den Ozean begann, war genug Zeit, um
entferntere Küsten zu warnen. Ein paar Minuten genügten, damit
Zehntausende auf höher gelegenes Land oder in obere Stockwerke
hätten fliehen können. Solch eine Warnung wurde nicht gegeben.
Die Menschen haben den Mond
erreicht. Raumschiffe erforschen die weit entfernte Sternenwelt.
Milliarden über Milliarden sind in diese Bemühungen gesteckt worden.
Aber das menschliche Genie ist nicht in der Lage, Hunderttausende
von Menschenleben vor solch einem Naturereignis zu schützen.
Man kann immer argumentieren, dass
man nach dem Schaden jeweils klüger ist. Aber wo sind die Experten,
deren Job es wäre, vor Gefahren zu warnen, bevor sie sich ereignen?
Die Medien sind voll mit Geschichten über Experten, die schliefen,
wenn sie hätten auf Wachposten sein sollen, über Frühwarnzentren,
die rechtzeitig eine Warnung erhielten und sie nicht dorthin
weitergaben, wo sie nötig gewesen wäre, über wissenschaftliche
Institute, die im Wochenendurlaub waren und so keine Warnung abgeben
konnten, über den Mangel an einem minimalen Not-Kommunikationssystem
für solche Eventualitäten.
Man sagte uns, dass an der
Pazifikküste die Situation weit besser sei, so weit es solch eine
Situation betrifft. Ist doch „Tsunami“ ein japanisches Wort ( eine
Verbindung von Hafen und Welle). Sind die Küstenbewohner anderer
Meere also weniger privilegiert?
Die Reaktion der westlichen Welt war
skandalös.
Der britische Ministerpräsident Tony
Blair erfreute sich weiter seines Urlaubs in Ägypten. Kofi Anan
brach seinen Urlaub erst am 4. Tag nach der Katastrophe ab und hielt
eine seiner aalglatten Reden. Der Präsident der Vereinigten Staaten
blieb auf seiner Farm in Texas und machte ein Statement, um dann vor
allem den UN- Hilfs-Koordinator Jan Egeland zu beschuldigen, weil
dieser die westlichen Regierungen wegen ihres Geizes angegriffen
hatte. Der unglückliche Bürokrat entschuldigte sich sofort. Colin
Powell, mittlerweile eine mitleiderregende Karikatur seiner selbst,
wies die Anklage zurück, dass die USA nicht ihre Pflicht getan
hätte, als es 15 Millionen Hilfsgelder spendete.
Die Spenden waren tatsächlich
absurd. Innerhalb weniger Stunden war klar, dass viele Milliarden
nötig waren, um zu retten, um Seuchen zu verhindern und um
wiederaufzubauen. Washington gab eine Million, dann 15 Millionen,
schließlich wurde die Summe auf 35 Millionen erweitert – weniger als
die Summe, die bei der festlichen 2. Amtseinsetzungspartie von Bush
verschwendet werden wird. (Später - unter Druck - wurde die Summe
verzehnfacht). Großbritannien bot eine ähnliche Summe an. Andere
Länder gaben verschiedene Beträge. Sogar die israelische Regierung
gab etwas Geld - begleitet von lautem Tamtam - dass man denken
könnte, es wolle die Welt retten.
All dies ist nicht mehr als ein
Tropfen im Ozean– vielleicht eine unglückliche Metapher in diesen
Tagen.
Man kann dies mit dem Schock zu
entschuldigen versuchen, der die Welt in den ersten Tagen überfallen
hatte. Es verging viel Zeit, bevor die politischen Systeme in den
Ländern der Welt die ganze Dimension der Katastrophe begriff. Das
Fernsehen, ein Medium, das für solche Situationen besonders gut
geeignet ist, brachte die Bilder in jedes Haus, aktivierte die
öffentliche Meinung und übte auf die Politiker Druck aus. Aber
sogar dies war nicht genug, um entsprechende Reaktionen
hervorzurufen. Besonders da die Medien sich auf die wenigen
zugänglichen Örtlichkeiten konzentrierte, aber nicht die Hunderte
anderer betroffenen Gegenden in entfernteren Regionen erreichte.
Dies schuf ein völlig falsches Bild der notwendigen umfangreichen
Unterstützung. Herz-zerreißende Geschichten wurden im TV gebracht,
statt Berichte über die reale Situation.
Man könnte behaupten, dass
es keinen Weg gibt, um eine Katastrophe von solch gewaltigen
Ausmaßen vorauszusehen und sich darauf vorzubereiten. Das könnte
wahr sein. Aber die Welt war auch nicht auf eine Katastrophe
kleineren Ausmaßes vorbereitet.
Vor ein paar Jahren veröffentlichte
die International Harald Tribune nach dem großen Erdbeben in der
Nähe Istanbuls einen Artikel von mir, in dem ich zu einer geistigen
Revolution auf diesem Gebiet aufrief. Ich schlug die Schaffung einer
internationalen Rettungstruppe vor.
Ich rief dazu auf, eine stehende
Truppe mit einem Generalstab und einer Befehlskette einzurichten,
die in der Lage wäre, innerhalb Stunden nach einer größeren
Katastrophe zu reagieren und innerhalb weniger Tage all das, was zur
Bewältigung einer solch großen internationalen Katastrophe nötig
ist, zu mobilisieren.
Was für solch einen Ziel nötig ist,
ist ein permanenter Krisenstab, der ständig bereit ist, 24 Stunden
am Tag und täglich während des ganzen Jahres. Dieser Krisenstab muss
unter seinem Kommando Rettungskräfte in vielen Ländern haben, die
innerhalb kurzer Zeit einsatzbereit sind. Er muss mittels der
logistischen Infrastruktur in der Lage sein, schnelle Hilfe auf dem
Luft-, Land- oder Meerweg leisten zu können, auch dann, wenn die
Katastrophe Landstraßen und Flughäfen zerstört haben sollte. Er muss
trainierte Rettungsexpertenteams und die Experten für Logistik als
auch medizinische Teams vorbereiten. Er muss Zugang zu speziellen
Ressourcen in vielen Ländern haben, die kurzfristig verwendet werden
können. Wenn all dies im voraus bereit steht, können massive
Rettungs- und Hilfsaktionen innerhalb weniger Stunden in Bewegung
gesetzt und an den folgenden Tagen je nach Notwendigkeit erweitert
werden.
Solch eine Körperschaft könnte auch
ein weltweites Warnsystem für Naturkatastrophen in verschiedenen
Formen koordinieren und dabei alle verfügbaren Mittel,
einschließlich Satelliten, verwenden und absichern, dass die
Warnungen die bedrohte Bevölkerung beizeiten erreichen.
Die Internationalen Kräfte sollen
nicht die freiwilligen Hilfsorganisationen , die eine wunderbare
Arbeit tun, ersetzen. Es muss als Befehls- und Einsatzzentrum
funktionieren und bereit sein, sofort zu handeln.
Solch eine Gruppe könnte zur Einheit
der Menschheit beitragen. Eine Katastrophe großen Ausmaßes bringt
die Nationen einander näher und mäßigt Konflikte, wie wir in der
vergangenen Woche tatsächlich gesehen haben. Ich glaube, dass die
Schaffung einer Internatonalen Rettungskraft ein weiterer Schritt in
Richtung weltweiter Zusammenarbeit und Solidarität sein könnte.
Mein Vorschlag erhielt einige
positive Antworten, prallte aber schnell am der reflexartigen
internationaler Bürokratie ab. Bei den UN erklärte jemand in
beleidigtem Ton, dass es schon eine Gruppe von Beauftragten für
diesen Bereich gebe etc. etc. Natürlich wurde nichts getan. In der
vergangenen Woche sahen wir die Konsequenzen – Tage vergingen, bis
die ersten bedeutenden Hilfsoperationen anliefen. Sie waren in
keinem Verhältnis zur Katastrophe.
Im Fernsehen aber erklärten
wohlgepflegte Bürokraten in Anzug und Krawatte, dass alles nach
abgesprochenem Verfahren ablaufe.
Die Internationale
Rettungskraft muss aufgebaut werden, damit man für die nächste
Katastrophe gewappnet ist. Um sie zu leiten, müsste eine mit
Autorität ausgestattete Persönlichkeit ernannt werden, jemand mit
Vorstellungskraft, geistiger Beweglichkeit, Organisationstalent und
dem Talent für Improvisation. Wir haben solche Leute in Israel. Ich
bin sicher, dass es solche Leute auch in anderen Ländern gibt. Was
fehlt, ist die internationale Bereitschaft.
Wie früher kann die Menschheit noch
einmal mit Zungen schnalzen und sich mit Aktionen begnügen, deren
Zweck es ist, ein Minimum des Notwendigen an Pflichterfüllung zu
tun.
Nach wenigen Tagen ist das Ganze
vergessen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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