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Traurig und glücklich
Uri Avnery, 17.September 2011
„WIRD DIES der glücklichste Tag in Ihrem Leben
sein?” fragte mich ein lokaler Interviewer in bezug auf die bald
kommende Anerkennung des Staates Palästina durch die UN.
Ich war überrascht. „Warum denken Sie so?“ fragte
ich.
„Warum, seit 62 Jahren haben Sie die Errichtung
eines palästinensischen Staates neben Israel befürwortet – und hier
kommt er!“
„Wenn ich ein Palästinenser wäre, wäre ich
wahrscheinlich glücklich ,“ sagte ich, „aber als Israeli bin ich
eher traurig.“
LASSEN SIE mich erklären.
Ich kam aus dem 1948er-Krieg mit vier festen
Überzeugungen:
1.)
Es existiert ein palästinensisches
Volk, obwohl der Name Palästina von der Landkarte
gelöscht wurde.
2.)
Mit diesem palästinensischen Volk
müssen wir Frieden schließen.
3.)
Frieden wird solange unmöglich
sein, solange den Palästinensern nicht ermöglicht werden wird, ihren
Staat neben Israel zu errichten.
4.)
Ohne Frieden wird Israel nicht der
Modellstaat sein, den wir uns in den
Schützengräben erträumt haben, sondern etwas
völlig anderes.
Während ich mich von meinen Verletzungen erholte
und noch immer Uniform trug, traf ich mich mit einigen jungen
Leuten, Arabern und Juden, um gemeinsam zu planen. Wir waren sehr
optimistisch. Alles schien jetzt möglich.
Wir dachten an einen großen Akt der Verbrüderung.
Juden und Araber hatten einander tapfer bekämpft. Jeder kämpfte für
das, was er für seine nationalen Rechte betrachtete. Jetzt ist es an
der Zeit, Frieden zu schließen.
Die Idee des Friedens zwischen zwei tapferen
Kämpfern nach der Schlacht ist so alt wie die semitische Kultur. In
dem vor 3000 Jahren geschriebenen Epos Gilgamesh kämpft der König
von Uruk (im heutigen Irak) gegen den wilden Engidu, der in Stärke
und Mut ihm ebenbürtig war. Nach dem gewaltigen Kampf sind sie
Blutsbrüder geworden.
Wir kämpften hart und hatten gewonnen, die
Palästinenser hatten alles verloren. Der Teil Palästinas, der von
den UN für ihren Staat vorgesehen worden war, war von Israel,
Jordanien und Ägypten verschlungen worden und ließ ihnen nichts
übrig. Die Hälfte des palästinensischen Volkes war aus ihren Heimen
vertrieben worden und wurde zu Flüchtlingen
Das war die Zeit für den Sieger, dachten wir, die
Welt durch einen Akt der Großmut und Weisheit in Erstaunen zu
setzen, indem wir den Palästinensern Frieden anbieten, beim Aufbau
ihre Staates helfen. So könnten wir eine Freundschaft schaffen, die
Generationen dauern würde.
18 Jahre später brachte ich diese Vision unter
ähnlichen Umständen wieder vor. Wir hatten einen fantastischen Sieg
gegen die arabischen Armeen im Sechs-Tage-Krieg errungen. Der Nahe
Osten war in einem Schockzustand; ein israelisches Angebot an die
Palästinenser ihren Staat zu errichten, hätte die Welt
elektrifiziert.
ICH ERZÄHLE diese Geschichte (noch einmal), um
einen Punkt zu unterstreichen: Als die „Zwei-Staaten-Lösung“ das
erste Mal nach 1948 vorgestellt wurde, war es eine Idee der
Versöhnung, der Verbrüderung und mit gegenseitigem Respekt.
Wir dachten an zwei Staaten, die eng
zusammenleben mit offenen Grenzen für freie Bewegung für Menschen
und Güter. Jerusalem, die gemeinsame Hauptstadt, würde den Geist des
historischen Wandels symbolisieren. Palästina würde die Brücke
zwischen dem neuen Israel und der arabischen Welt werden, vereinigt
für das allgemeine Wohl. Wir sprachen von einer „Semitischen Union“,
lange bevor die Europäische Union Realität wurde.
Als die Zwei-Staaten-Lösung ihren
außerordentlichen Marsch von der Vision einiger Außenseiter (oder
Verrückter) zu einem weltweiten Konsens machte, war es dieser
Kontext, in dem sie gesehen wurde. Es war keine Verschwörung gegen
Israel, sondern die einzige brauchbare Basis für einen realen
Frieden.
Diese Vision wurde entschieden von David
Ben-Gurion abgewiesen, dem damaligen unumstrittene Führer Israels.
Er war eifrig damit beschäftigt, die neuen jüdischen Immigranten
auf die weiten von Arabern enteigneten Ländereien zu verteilen; er
glaubte sowieso nicht an einen Frieden mit den Arabern. Er bestimmte
für die folgenden Regierungen – auch der jetzigen - den Kurs.
Auf arabischer Seite gab es für diese Vision
immer Unterstützung. Schon bei der Lausanner Konferenz 1949 erschien
eine inoffizielle palästinensische Delegation und bot im Geheimen
an, mit direkten Verhandlungen zu beginnen; sie wurden aber vom
israelischen Delegierten Elijahu Sasson auf direkten Befehl Ben
Gurions rau zurückgewiesen (Das hörte ich später von ihm).
Yasser Arafat sagte mir mehrmals - von 1982 bis
zu seinem Tod 2004– dass er eine „Benelux“- Lösung (nach dem Modell
der Union zwischen Belgien, den Niederlanden und Luxemburg)
unterstützen würde, die Israel, Palästina und Jordanien („und
vielleicht auch den Libanon, warum nicht?“) einschließen würde.
WÄHREND ALL der Jahre sprachen die Leute über
alle von Israel versäumten Gelegenheiten für Frieden. Das ist
Unsinn: man kann Möglichkeiten auf dem Weg zu einem gewünschten
Ziel versäumen, aber nicht zu etwas, das man verabscheut.
Ben Gurion sah in einem unabhängigen
palästinensischen Staat eine tödliche Gefahr für Israel. Deshalb
machte er mit König Abdallah I. einen Deal: sie teilten
untereinander das Gebiet, das durch den UN-Teilungsplan dem
arabisch-palästinensischen Staat zugedacht war.
Alle Nachfolger Ben-Gurions übernahmen dasselbe
Dogma, dass ein palästinensischer Staat eine schreckliche Gefahr
sein würde. Deshalb entschieden sie sich für die sog. „jordanische-Option“
und hielten den Rest Palästinas unter der Herrschaft des
jordanischen Königs, der kein Palästinenser (noch Jordanier ist –
seine Familie kam aus Mekka).
In dieser Woche wurde der gegenwärtige
jordanische Herrscher Abdullah II wirklich wütend, als ihm erzählt
wurde, dass ein anderer früherer General, Usi Dayan, wieder
vorgeschlagen hat, Jordanien in Palästina zu verwandeln mit der
Westbank und den Gazastreifen als „Provinzen“ des Hashemitischen
Königreichs. Dieser Dayan ist anders als sein verstorbener Cousin
Moshe, ein aufgeblasener Tor. Aber selbst eine Rede von solch einer
Person macht den König wütend, der sich vor einem Exodus der
Palästinenser aus der Westbank nach Jordanien zutiefst fürchtet.
Vor drei Tagen erzählte Binjamin Netanjahu Cathy
Ashton, der erbarmungswerten „Außenministerin“ der EU, dass er mit
allem einverstanden wäre, was weniger als ein palästinensischen
Staat sei. Das mag seltsam klingen hinsichtlich seiner „historischen
Rede“, die er vor weniger als zwei Jahren hielt, in der er seine
Unterstützung für die Zwei-Staaten-Lösung ausdrückte (Vielleicht
dachte er an den Staat Israel und den Staat der Siedler).
In den wenigen verbleibenden Tagen bis zur
UN-Abstimmung wird unsere Regierung mit Zähnen und Klauen gegen
einen palästinensischen Staat kämpfen, unterstützt von der Macht der
USA. Hillary Clinton übertrumpfte in dieser Woche sogar ihre eigenen
rhetorischen Rekorde, als sie verkündete, dass die US die
Zwei-Staatenlösung unterstützen und deshalb gegen jede UN-Resolution
sei, die einen palästinensischen Staat anerkennt.
ABGESEHEN VON den verheerenden Drohungen, die
geschehen würden, nachdem die UN für einen palästinensischen Staat
stimmt, versichern uns die israelischen und amerikanischen Führer,
dass solch eine Stimme keinerlei Veränderung mit sich bringt.
Wenn es so ist, warum ihn bekämpfen?
Natürlich wird es einen Unterschied geben. Die
Besatzung wird weitergehen, aber es wird die Besatzung eines
Staates durch einen anderen sein. In der Geschichte zählen Symbole.
Die Tatsache, dass die große Mehrheit der Staaten der Welt den Staat
Palästina anerkannt haben, wird für Palästina ein weiterer Schritt
in Richtung Freiheit sein.
Was wird am Tag danach geschehen? Unsere Armee
hat schon angekündigt, dass sie die Vorbereitungen für große
palästinensische Demonstrationen, die die Siedlungen angreifen
werden, beendet haben. Die Siedler werden aufgerufen, ihre „
Schnelleinsatztruppe“ zu mobilisieren, um den Demonstranten
entgegenzutreten, was die Prophezeiungen eines „Blutbades“ zu
erfüllen droht. Danach wird die Armee kommen, indem sie viele
Bataillone regulärer Truppen von anderen Aufgaben abzieht und auch
Reserve-Einheiten aufruft.
Vor ein paar Wochen wies ich auf ominöse Zeichen
hin, dass Scharfschützen gegen friedliche Demonstrationen
eingesetzt werden, um die Siedlungen zu verteidigen.
All dies kommt einem Kriegsplan für die
Siedlungen gleich. Um es einfach zu sagen: ein Krieg, um zu
entscheiden, ob die Westbank den Palästinensern oder den Siedlern
gehört.
In einem fast komischen Wandel der Ereignisse hat
die Armee den palästinensischen Sicherheitskräften, die von
Amerikanern trainiert wurden, auch Mittel zur Zerstreuung der Menge
geliefert. Die Besatzungsbehörden erwarten von diesen
palästinensischen Kräften, dass sie die Siedlungen gegen ihr eigenes
Volk schützen.
Da dies die zukünftigen bewaffneten Kräfte des
zukünftigen palästinensischen Staates sind, gegen den Israel ist,
scheint dies etwas verwirrend.
Nach Armeequellen werden die Palästinenser
gummi-ummantelte Kugeln bekommen und Tränengas, aber keinen „Skunk“.
(Stinktier)
Der „Skunk“ ist ein Gerät, der einen
unerträglichen Gestank produziert, der gegen gewaltlose
Demonstranten benützt wurde und der ihnen noch lange anhaftet. Ich
fürchte, wenn dieses Kapitel abgeschlossen ist, dass der Gestank
sich an uns heftet, und wir werden ihn lange Zeit tatsächlich nicht
loswerden.
LASSEN WIR unserer Phantasie nur eine Minute
freien Lauf.
Stellen wir uns vor, dass bei der kommenden
UN-Debatte sich etwas Unglaubliches ereignet : der israelische
Delegierte erklärt, dass nach reiflicher Überlegung Israel sich
entschieden hat, für die Anerkennung des Staates Palästina zu
stimmen.
Die Versammlung würde ungläubig den Mund auftun.
Nach einem Augenblick der Stille würde begeisterter Applaus
ausbrechen. Die Welt wäre elektrifiziert. Tagelang würden die Medien
der Welt über nichts anderes sprechen.
Die Minute der Phantasie ist vorbei. Zurück zur
Realität. Zurück zum Stinktier.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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