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„Der Islam ist die Lösung“
Uri Avnery, 4. Dezember 2010
ZUNÄCHST EINE Entschuldigung: ich werde nicht über Wikileaks
schreiben.
Ich liebe Klatsch wie der nächste Mann und die nächste Frau. Die
Leaks liefern eine Menge davon,und dazwischen gibt es einige
echte Informationen.
Aber da gibt es wirklich nicht viel Neues. Die Information bestätigt
nur, was jede intelligente Person sich schon denken konnte. Wenn
es da irgendetwas Neues gibt, dann ist es genau diese Bestätigung:
die Welt wird wirklich so verwaltet, wie wir uns dies vorstellten.
Wie deprimierend!
Vor vierhundert Jahren beobachtete Sir Henry Wotton, ein britischer
Diplomat, dass „ein Botschafter ein ehrenhafter Mann ist, der ins
Ausland geschickt wurde, um dort zu Gunsten seines Landes zu lügen.“
Seitdem hat sich nichts verändert, außer dass es jetzt auch
Botschafterinnen gibt. Es ist also recht erfrischend, dem zu
lauschen, was sie in geheimen Botschaften nach Hause mitteilen, wenn
sie nicht lügen müssen.
Befassen wir uns also mit wichtigeren Dingen.
ZUM BEISPIEL die Wahlen dieser Woche in Ägypten .
Vor Jahren gab’s die Geschichte , dass ein Sowjetbürger am Wahltag
ins Wahllokal ging und ihm ein versiegelter Umschlag überreicht
wurde, damit er ihn in die Wahlurne stecke.
„Darf ich nicht sehen, wen ich wähle?“, fragte er.
„Natürlich nicht“! erwiderte der ernst drein schauende Wahlhelfer
empört, „in unserer Sowjet-Union sind die Wahlen geheim!“
So
etwas könnte in Ägypten nicht geschehen. Zunächst, weil die Ägypter
ein sehr humorvolles Volk sind. Falls ihnen gesagt würde, dass ihre
Wahlen geheim sind, würden sie in lautes Lachen ausbrechen.
Zweitens weil sie offensichtlich nicht geheim sind.
Bei einem meiner Besuche in Anwar Sadat’s Kairo hatte ich die
Chance, an einem Wahltag Zeuge zu sein. Es war eine fröhliche
Angelegenheit, die mehr einem mittelalterlichen Karneval glich, als
einer ernsten Erfüllung demokratischer Pflicht. Alle waren
lustig.
Während ich in einem Dorf in der Nähe der Giseh-Pyramiden ein
Wahllokal besuchte, war ich von dieser Atmosphäre von fröhlichem
Zynismus beeindruckt. Keiner tat so, als ob dies eine ernste
Angelegenheit wäre. Gut gelaunte Soldaten, die das Lokal bewachten,
halfen alten Frauen, den richtigen Wahlzettel zu finden, und
steckten ihn in den Umschlag.
Ich bin nicht sicher, ob dieser gute Humor vom Mubarak-Regime
beibehalten worden ist. Aber die Ergebnisse sind dieselben. Die
Redakteure der Medien, die alle von der Regierung ernannt werden,
verhindern jede Kritik an der Regierung, oppositionelle Aktivisten
werden lange vor dem Wahltag verhaftet (Wenn sie nicht schon im
Gefängnis sind), die Regierungspartei ist ein trauriger Witz. Keiner
gibt vor, dass das Land etwas anderes als eine Diktatur ist. Die
oberen Klassen mögen es so, nicht nur wegen ihrer Privilegien,
sondern auch aus echter Furcht, dass unter einer Demokratie ihr
Land ein fundamentalistisch religiöses Regime wählen würde mit
Burkas und Ähnlichem.
IN
DER ganzen arabischen Welt ist dies ein wirkliches Dilemma. Freie
Wahlen würden Fundamentalisten an die Macht bringen.
Während des letzten Jahrhunderts war säkularer Nationalismus in
Mode. In vielen arabischen Ländern entstanden nationale Bewegungen.
Ihr Vorbild war der große Atatürk – ein revolutionärer Erneuerer wie
kein anderer. Er unterdrückte den Islam, verbot den Männern den Fez
und den Frauen den Schleier, ersetzte die lateinische Schrift durch
die arabische, förderte den türkischen Nationalismus anstelle des
ottomanischen Islamismus’.
Dies war übrigens auch für viele von uns ein Vorbild, die wir
hofften, die jüdische Religion und den zionistischen
Pseudo-Nationalismus durch einen vernünftigen hebräischen
territorialen, säkularen Nationalismus zu ersetzen. Der Sohn des
Erneuerers der modernen hebräischen Sprache, Elieser Ben Yehuda,
schlug auch vor, die hebräische Schrift durch die lateinische zu
ersetzen.
In
der Türkei ist jetzt die Atatürk-Revolution durch das Auftauchen
eines verjüngten Islam bedroht. In Israel wird die neue hebräische
Nation von einer fundamentalistisch aggressiven Version der
jüdischen Religion belagert. In der ganzen arabischen Welt ist die
Situation noch schlimmer.
Klar gesagt: der säkulare Nationalismus hat die Araber nicht
befreit. Er hat keine wirkliche Unabhängigkeit, keine Freiheit,
keinen wirtschaftlichen und technischen Durchbruch gebracht.
Auf wirtschaftlichem Gebiet hat kein arabisches Land den Erfolg
gehabt wie es in Japan, Südkorea und sogar Malaysia und wie jetzt
in China und Indien der Fall ist. Das erfolgreiche israelische
Beispiel liegt in der Nähe und vergrößert die Frustration.
Der Traum einer säkularen pan-arabischen Union, wie ihn Gamal
Abd-al-Nasser und die ursprünglichen Baathisten sie sich
vorgestellt haben, liegt in Scherben. Genau so ist es mit dem Traum
der arabischen Unabhängigkeit. Fast alle arabischen Länder sind
rückständige amerikanische Klienten und tanzen nach der
amerikanischen Pfeife. Eine ganze Generation arabischer Führer hat
spektakulär versagt.
Das letzte Beispiel war Yasser Arafat. Er gründete eine
palästinensische nationale Bewegung, die stolz auf ihren
Multi-Religionismus war. Christliche Araber spielten eine bedeutende
Rolle in der Palästinensischen Befreiungsorganisation. George Habash
war ein christlicher Arzt aus Ramallah, die christliche Hanan
Ashrawi ist eine der besten palästinensischen Sprecher.
Arafat selbst war ein religiöser Muslim. Oft, selbst bei privaten
Gesprächen, entschuldigte er sich, verschwand für ein paar Minuten
und kehrte unauffällig zurück, während sein Assistent uns
zuflüsterte, dass der Ra’is bete. Doch versicherte er unermüdlich,
dass der zukünftige Staat Palästina von jeglicher religiösen
Vorherrschaft frei sein würde.
So
lange wie er lebte, hatte der politische Islam geringen Einfluss
und zwar nicht wegen unterdrückerischer Maßnahmen.
ALL DIES ist Geschichte. Die sunnitische Hamas („Islamische
Widerstandsbewegung“) und die schiitische Hisbollah („Partei
Gottes“) sind die Vorbilder für Massen junger Leute in der ganzen
arabischen Welt geworden.
Einer der Gründe dafür ist Palästina.
Falls es Arafat gelungen wäre, den freien und souveränen Staat
Palästina zu gründen, würde sich die arabische Politik völlig
geändert haben, nicht nur in Palästina selbst, sondern in allen
arabischen Ländern.
Das Aufkommen von Hamas in Palästina ist die direkte Folge dieses
Scheiterns. Säkularer palästinensischer Nationalismus ist ein
Versuch gewesen, der fehlgeschlagen ist. Die islamischen
Revolutionäre sind für ein Volk attraktiv, dem alle nationalen
Rechte und die Menschenrechte genommen worden sind – ohne dass eine
politische Alternative in Sicht ist.
Wie die Wikileaks zeigen (hier muss ich sie schließlich doch
erwähnen), schert sich kein einziger arabischer Staat um die
Palästinenser. Das ist nichts Neues – tatsächlich schuf Arafat
seine Bewegung Fatah („Palästinensische Befreiungsbewegung“), um
die Palästinenser zunächst von den zynischen arabischen Regimes zu
befreien, von denen jedes „ die palästinensische Sache“ für sich
selbst ausnützte.
Aber das Maß an Zynismus, das bei diesen Gesprächen zwischen den
arabischen Herrschern mit ihren amerikanischen Chefs enthüllt wurde,
grenzt rundweg an Verrat. Dies wird die sowieso schon massive
Frustration nicht nur in Palästina vermehren, sondern in allen
arabischen Ländern. Jeder junge Ägypter, Jordanier, Saudi-Araber
oder Bahrainer (um nur ein paar zu erwähnen) muss sich sehr bewusst
sein, dass sein Land von einer kleinen Gruppe angeführt wird, der
die Erhaltung ihrer persönlichen Macht und Privilegien weit
wichtiger ist als die heilige Sache der Palästinenser.
Dies ist ein sehr demütigender Einblick. Er wird keine unmittelbaren
Folgen haben. Aber wenn Hunderte von Millionen Menschen sich
gedemütigt fühlen, sind die Folgen vorhersehbar. Die ältere
Generation mag sich an diese Situation gewöhnt haben. Aber für junge
Leute, besonders für stolze Araber, ist dies unerträglich.
Ich kann diese Art von Gefühlen sehr gut verstehen, weil ich mit 15
Jahren dieselben Gefühle hatte und mich dem „terroristischen“ Irgun
( „Nationale Militärorganisation“) anschloss. Ich konnte die
Einstellung meiner Führer, die vor den britischen Herrschern meines
Landes katzbuckelten, nicht ertragen. Wenn ich mich in die Lage
eines jungen Arabers ähnlichen Alters in Djidda, Alexandria oder
Aleppo versetze, kann ich mir sehr gut vorstellen, was er empfindet.
Selbst Ehud Barak, der alte Araberkämpfer, sagte einmal, dass, wenn
er ein junger Palästinenser wäre, er sich einer terroristischen
Organisation anschließen würde.
Früher oder später wird die Situation explodieren – zunächst in
einem Land, dann in vielen. Das Schicksal des Schahs im Iran
sollte von jenen die - in geheimen Dokumenten - über den
„iranischen Hitler“ sprechen, der kurz davor ist, eine nukleare
Bombe zu haben, erinnert werden.
DIE FRUSTRATION in bezug auf Palästina ist die unmittelbare Ursache
dieser Demütigung, die für alle offenkundig sichtbar wird, aber das
Gefühl selbst geht über diese einzelne Ursache hinaus.
Säkularer Nationalismus hat bei den Arabern eindeutig versagt. Der
Kommunismus hat niemals in der islamischen Welt Wurzel fassen
können, da er allein durch seine Natur gegenüber den Grundsätzen
des Islam abträglich ist. Kapitalismus, für einige attraktiv,
scheiterte auch, die Grundprobleme der arabischen Welt zu lösen.
Die islamische revolutionäre Bewegung in ihren vielen Formen
verspricht eine lebensfähige Alternative. Es ist kein Dussel, der
die ägyptische Diktatur dahin führte, die Anwendung des Slogans „der
Islam ist die Lösung“ zu verbieten – der einfache und effektive
Slogan, der die islamische Opposition in allen Ländern vereinigt. Es
besteht ein klaffendes Vakuum in der arabischen Welt, und niemand
ist vorhanden, um dieses auszufüllen – außer dem Islamismus.
FÜR DIE USA ist dies eine große Herausforderung. Obama scheint dies
begriffen zu haben, bevor er - mit Leib und Seele - von der
amerikanisch politischen Routine verschlungen wurde.
Jeder scheint heutzutage über den Niedergang des amerikanischen
Empire zu reden. Es ist der letzte Schrei. Was in der arabischen
Welt geschieht, kann diesen Prozess beschleunigen oder bremsen. Die
Errichtung eines souveränen, freien und lebensfähigen Staates
Palästina – mit der tollen Wirkung, die sie in der ganzen
arabischen Region, ja in der ganzen islamischen Welt hervorrufen
würde, würde den Prozess beträchtlich verlangsamen.
Wenn man diese Leaks beurteilt, so scheinen diese die
Denkweise amerikanischer Staatsmänner und -frauen – so wie sie sind
– kaum zu berühren.
Was Israel betrifft, so sind die Aussichten sogar noch trostloser.
Die Aussicht auf eine fundamentalistische arabische Welt mit
vollkommen neuen und populären Führern, die uns von allen Seiten
umgibt, mit der stetig abnehmenden Power Amerikas ( und seiner
jüdischen Lobby), ist eine erschreckende Aussicht.
Wenn ich in diesem Augenblick für Israel verantwortlich wäre, würde
ich mir mehr Sorgen darüber machen als über die iranische Bombe.
Zum Glück ist dies keine unausweichliche Gefahr. Die israelische
Politik könnte eine Menge tun, diese abzuwenden. Leider tun wir
genau das Gegenteil.
Für jene, die „Islam ist die Lösung“ rufen, sollte unsere Antwort
sein: „Ein gerechter Frieden ist die Lösung“.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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