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den Unterschied
Uri Avnery, 12.12.09
Ein kurzes Geschichts-Quiz. Welcher
Staat...
(1) ... entstand nach einem
Völkermord, der ein Drittel seiner Bevölkerung dahin raffte?
(2) ... zog aus dem Erleiden
dieses Völkermord die Schlussfolgerung, dass allein überlegene
militärische Schlagkraft sein Überleben sichern könne?
(3) ... sprach der Armee eine
derartig zentrale Rolle in seinem Leben zu, dass es sich
schließlich eher um "eine Armee, die einen Staat hat, denn um
einen Staat, der eine Armee hat" handelte?
(4) ... begann ursprünglich
Land durch Kauf zu erwerben, und setzte diese Landnahme dann
durch Eroberung und Annexion fort?
(5) ... bemühte sich mit
allen möglichen Mitteln neue Immigranten anzuziehen?
(6) ... betrieb in den
besetzten Gebieten eine gezielte Siedlungspolitik?
(7) ... versuchte die
nationale Minderheit durch schleichende ethnische Säuberung los
zu werden?
Wer die Antwort noch nicht gefunden
hat: gemeint ist der Preußenstaat.
Doch wenn einige Leser versucht
sein sollten, zu glauben, dies alles betreffe den Staat Israel
– dann haben auch sie Recht. Diese Beschreibung passt auch auf
unsern Staat. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Staaten ist
bemerkenswert. Die Länder sind zwar geographisch sehr
verschieden von einander und das gleiche gilt für die
historischen Epochen, aber gewisse Ähnlichkeiten können kaum
geleugnet werden.
DER STAAT, der 350 Jahre lang als
Preußen respektiert und gefürchtet wurde, begann seine Existenz
unter einem anderen Namen: Mark Brandenburg. (Mark=
Grenzgebiet). Dieses Gebiet im Nordosten Deutschlands wurde
seinen slawischen Bewohnern entrissen und lag in seinen frühen
Tagen außerhalb des deutschen Reiches. Bis zum heutigen Tag
tragen viele seiner Orte (einschließlich Berliner Stadtviertel
wie Pankow) eindeutig slawische Namen. Man könnte sagen, dass
Preußen auf den Ruinen eines anderen Volkes entstand (von denen
einige Nachkommen noch immer dort leben) .
Eine historische Kuriosität:
zunächst wurde das Land mit Geld gekauft. Das Haus Hohenzollern,
eine Adelsfamilie aus Süddeutschland, kaufte das Gebiet
Brandenburg dem deutschen Kaiser für 400 000 ungarische Gulden
ab. Ich weiß nicht, in welcher Relation diese Summe zu der
Geldmenge steht, die der jüdische Nationalfonds für Teile
Palästinas vor 1948 bezahlte.
Das Geschehen, das die Geschichte
Preußens weitgehend bis zum 2. Weltkrieg prägte, war ein
Völkermord: der 30-Jährige Krieg. Während dieser Jahre von 1618-
1648 kämpften praktisch alle Armeen Europas auf deutschem Boden
gegeneinander und zerstörten alles, was ihnen in den Weg kam.
Die Soldaten, viele von ihnen Söldner, der Abschaum der Erde,
mordeten und vergewaltigten, plünderten und raubten, brannten
ganze Städte nieder und vertrieben die bedauernswerten
Überlebenden von ihrem Land. In diesem Krieg wurde ein Drittel
der deutschen Bevölkerung umgebracht und zwei Drittel der
Dörfer zerstört. (Berthold Brecht setzte diesem Völkermord in
seinem Stück „Mutter Courage“ ein Denkmal.)
Norddeutschland ist eine große,
weite Ebene. Seine Grenzen werden nicht durch einen Ozean, eine
Gebirgskette oder eine Wüste geschützt. Die preußische Antwort
auf die Verheerung durch den Völkermord war eine eiserne Mauer:
eine mächtige reguläre Armee, die Meer und Gebirge ersetzen
sollte, und bereit sein würde, den Staat gegen alle möglichen
Verbindungen potentieller Feinde zu verteidigen.
Zu Anfang war die Armee ein
wesentliches Instrument zur Verteidigung der bloßen Existenz
des Staates. Im Laufe der Zeit wurde sie zum Mittelpunkt des
nationalen Lebens. Was als "preußische Verteidigungskräfte"
begann, wurde zu einer aggressiven Eroberungsarmee, die von
allen seinen Nachbarn gefürchtet wurde. Einigen preußischen
Königen galt das Hauptinteresse ihres Lebens der Armee. Eine
Zeit lang stellten die Soldaten und ihre Familien mehr als ein
Viertel der Berliner Bevölkerung dar. Eine alte preußische
Redensart lautet: „Der Soldate ist der beste Mann im Staate“.
Die Anbetung der Armee wurde zum Kult, ja, fast zur Religion.
PREUSSEN WAR nie ein „normaler“
Staat mit einer homogenen Bevölkerung, die Jahrhunderte lang
zusammen lebte. Durch eine raffinierte Kombination militärischer
Eroberung, Diplomatie und strategischer Heiraten gelang es ihren
Herren, dem Kernland mehr und mehr Gebiete anzuschließen. Diese
waren nicht einmal unter einander verbunden und einige waren
sogar ziemlich weit von einander entfernt.
Eines davon war das Gebiet, das dem
Staat seinen Namen gab: Preußen. Das ursprüngliche Preußen lag
an der Küste der Ostsee, und gehört jetzt zu Polen und
Russland. Zunächst waren sie vom Deutschritterorden, einem
deutschen religiös-militärischen Orden, erobert worden, der
während der Kreuzzüge in Akko gegründet wurde (die Ruinen seiner
Hauptburg Montfort – Starkenberg - stehen noch heute in
Galiläa). Statt die Ungläubigen in einem fernen Land zu
bekämpfen, entschieden sich die deutschen Kreuzfahrer, dass es
mehr Sinn mache, die benachbarten Heiden zu bekämpfen und ihnen
das Land zu rauben. Im Laufe der Zeit gelang es den Fürsten von
Brandenburg, dieses Land zu erobern, und seinen Namen für das
ganze Herrschaftsgebiet zu übernehmen. Es gelang ihnen auch, im
Rang aufzusteigen: aus Markgrafen wurden Kurfürsten und
schließlich Könige.
Der Mangel an Homogenität der
preußischen Lande – zusammengesetzt aus verschiedenen und nicht
zusammenhängenden Gebieten - ließ die wichtigste preußische
Schöpfung entstehen: den Staat. Dies war der Faktor, der die
verschiedensten Bevölkerungen einte, die alle weiter an ihrem
lokalen Patriotismus und ihren Traditionen hingen. Der „Staat“
wurde zu einer heiligen Sache, allen anderen Loyalitäten
übergeordnet. Preußische Philosophen sahen den Staat als eine
Inkarnation für alle sozialen Tugenden, als Triumph der
menschlichen Vernunft.
Der preußische Staat wurde so zu
einer sprichwörtlichen Institution. Obwohl er von seinen
Feinden dämonisiert wurde, war er in vielerlei Weise vorbildlich
: gut organisiert, ordentliche und gesetzestreue Strukturen,
seine Bürokratie ohne Korruption. Der preußische Beamte erhielt
ein armseliges Gehalt, lebte bescheiden und war stolz auf seinen
Status. Er verabscheute Großtuerei. Schon vor mehr als hundert
Jahren (1881) hatte Preußen (durch Bismarck) ein System der
Krankenversicherung erhalten - lange bevor andere wichtige
Länder davon nur träumten. Es war auch vorbildlich, was die
religiöse Toleranz betraf. Friedrich der Große erklärte, dass
„jeder nach seiner Facon selig werden solle“. Einmal soll er
geäußert haben, dass er Türken - sollten jemals welche nach
Preußen kommen und sich dort ansiedeln - Moscheen bauen würde (
250 Jahre später verabschiedeten die Schweizer ein Referendum ,
das den Bau von Minaretten in ihrem Land verbietet).
PREUSSEN WAR ein sehr armes Land,
dem natürliche Ressourcen wie Mineralien und fruchtbarer Boden
fehlte. (Deshalb wurden Kartoffeln eingeführt) Es verwendete
seine Armee, um reichere Gebiete zu erobern.
Auf Grund der Armut war es dünn
besiedelt. Die preußischen Könige bemühten sich sehr darum, neue
Immigranten ins Land zu bringen. Als 1731 Zehntausende von
Protestanten aus dem Salzburger Raum von ihren katholischen
Fürsten vertrieben wurden, lud der König von Preußen sie in sein
Land ein. Sie machten sich in großen Massen mit ihren Familien
und ihrem gesamten Besitz auf einen Fußmarsch nach Ostpreußen
und durchquerten dabei ganz Deutschland . Als die französischen
Hugenotten (Protestanten) von ihren katholischen Königen
abgeschlachtet wurden, wurden sie nach Preußen eingeladen und in
Berlin angesiedelt, wo sie viel zur Entwicklung des Landes
beitrugen. Auch Juden wurde es erlaubt, in Preußen zu siedeln,
um zu seinem Wohlstand beizutragen. Der Philosoph Moses
Mendelssohn war einer der hellsten Sterne der preußischen
Intelligenz
Als Polen 1771 zwischen Russland,
Österreich und Preußen aufgeteilt wurde, bekam der preußische
Staat ein nationales Minderheitenproblem . In dem neuen Gebiet
lebte eine große polnische Bevölkerung, die fest an ihrer
Nationalität und Sprache festhielt, wie die Sorben heute noch.
Die preußische Antwort war eine massive Siedlungskampagne, die
sehr gut organisiert und bis ins kleinste Detail geplant war.
Die Siedler bekamen ein Stück Land und viele Vergünstigungen.
Die polnische Minderheit dagegen wurde auf jede mögliche Weise
unterdrückt und diskriminiert. Die preußischen Könige wollten
ihr neu erworbenes Land „germanisieren“, so wie die israelische
Regierung die besetzten Gebieten „judaisieren“ will.
Diese preußische Bemühung hatte
direkten Einfluss auf die jüdische Kolonisierung Palästinas. Sie
diente als Vorbild für den Vater des zionistischen
Siedlungsunternehmens, Arthur Ruppin, und es kann nicht als
Zufall gelten, dass Ruppin ebenda, in den polnischen Gebieten
Preußens, geboren wurde und aufwuchs.
ES IST unmöglich, den Einfluss des
preußischen Modells auf die zionistische Bewegung in fast allen
Lebensgebieten zu übertreiben.
Theodor Herzl, der Gründer der
Bewegung, wurde in Budapest geboren und lebte in Wien. Er
bewunderte das neue Deutsche Reich, das 1871 gegründet wurde,
als er gerade 11 Jahre alt war. Der König von Preußen - dessen
Staatsgebiet mehr als die Hälfte des gesamten Reichsgebiets
stellte – wurde zum deutschen Kaiser gekrönt, und Preußen
bildete das neue Reich nach seinem Bilde. Herzls Tagebücher
sind voller Bewunderung für den deutschen Staat. Er hofierte
Wilhelm II., König von Preußen und Kaiser von Deutschland, der
so gnädig war, ihn in einem Zelt vor den Toren Jerusalems zu
empfangen. Er wollte, dass der Kaiser der Schutzherr des
zionistischen Unternehmens werde, aber Wilhelm merkte nur an,
dass der Zionismus zwar eine gute Idee sei, „er mit Juden aber
nicht realisiert werden könne“.
Herzl war nicht der einzige, der
dem zionistischen Unternehmen einen preußisch-germanischen
Stempel aufdrücken wollte. Darin wurde er von Ruppin in den
Schatten gestellt, der heute von israelischen Schulkindern vor
allem als Straßenname bekannt ist. Aber Ruppin hatte einen
enormen Einfluss auf das zionistische Unternehmen, mehr als jede
andere Einzelpersönlichkeit. In ihrer prägenden Periode, in den
Jahren der zweiten und dritten Einwanderungswelle (Aliya) - im
ersten Viertel des 20. Jahrhunderts - war er der wirkliche
Führer der zionistischen Einwanderer Palästinas. Er war der
geistige Vater von Berl Katznelson, David Ben Gurion und ihrer
Generation, den Gründern der zionistischen Arbeiterbewegung, die
zu einer dominanten Stellung nicht nur in der jüdischen
Gesellschaft Palästinas, sondern auch später in Israel gelangte.
Er war es, der praktisch den Kibbuz und den Moshav (kooperative
Siedlung) erfunden hat.
Wenn es so ist, warum ist er aus
dem offiziellen Gedächtnis fast verschwunden? Weil man einige
Seiten Ruppins besser vergessen sollte. Bevor er Zionist wurde,
war er ein extremer preußisch-deutscher Nationalist. Er war
einer der Väter des „wissenschaftlich“ rassistischen Glaubens
und war von der Überlegenheit der arischen Rasse überzeugt. Bis
zum Ende beschäftigte er sich mit dem Abmessen von Schädeln und
Nasen, um verschiedene rassistische Ideen zu bestätigen. Seine
deutschen Partner und Freunde pflegten die „Wissenschaft“, die
Adolf Hitler und seine Anhänger inspirierten.
Die zionistische Bewegung wäre
unmöglich gewesen, wenn ihr nicht ein Heinrich Grätz
vorausgegangen wäre, der Historiker, der das historische Bild
der Juden geschaffen hat, das wir alle in der Schule lernten.
Grätz, der auch im polnischen Gebiet Preußens geboren worden
war, war ein Schüler der preußisch-deutschen Historiker, die die
deutsche Nation „erfanden“, ganz so wie er später auch die
jüdische Nation „erfand“.
Das Wichtigste, das wir vielleicht
Preußen zu verdanken haben, ist die geheiligte Idee des
„Staates“ (Medina auf Hebräisch) – eine Idee, die unser ganzes
Leben beherrscht. Die meisten Länder werden offiziell „Republik“
(Frankreich z.B.) genannt, Königreich (Britannien) oder
Föderation (Russland). Der offizielle Name „Staat Israel“ ist im
Wesentlichen preußisch.
ALS ICH das erste Mal die
Ähnlichkeiten zwischen Preußen und Israel zur Sprache brachte
(ich widmete diesem Thema ein Kapitel in der hebräischen und
deutschen Ausgabe meines Buches von 1967 „Israel ohne
Zionisten“), sah es wie ein unbegründeter Vergleich aus. Heute
ist das Bild klarer. Nicht nur, dass das ranghohe Offizierkorps
einen zentralen Platz in allen Lebensbereichen einnimmt - das
riesige Militärbudget steht bei uns außerhalb jeder Diskussion
- sondern auch unsere täglichen Nachrichten sind voll typischer
„preußischer“ Beispiele. Zum Beispiel stellt es sich heraus,
dass das Gehalt des Generalstabschefs doppelt so hoch ist wie
das des Ministerpräsidenten. Der Minister für Erziehung und
Bildung hat angekündigt, dass die Schulen in Zukunft danach
bemessen werden würden, wie viele ihrer Schüler sich freiwillig
zu Kampfeinheiten melden würden. Das klingt irgendwie bekannt
- aber auf Deutsch …
Nach dem Zusammenbruch des Dritten
Reichs entschieden die vier Besatzungsmächte, Preußen aufzulösen
und sein Gebiet auf mehrere Bundesländer, Polen und die UDSSR,
aufzuteilen. Das geschah im Februar 1947 – nur 15 Monate vor der
Gründung des Staates Israel.
Jeder der an Seelenwanderung
glaubt, kann seine eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Es ist
sicherlich nachdenkenswert.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs
und Christoph Glanz vom Verfasser autorisiert)