Das
Beilin-Syndrom
Uri Avnery, 29.12.07
MEPHISTO, der Dämon aus Goethes monumentalem Drama, der
Faust seine Seele abkaufte, bezeichnete sich selbst
als„ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und
stets das Gute schafft.“
Yossi Beilin, der diese Woche als Vorsitzender der
Merez-Partei zurücktrat, ist genau das Gegenteil von
Mephisto: er will immer das Gute und schafft all zu oft das
Böse.
DIE
„SIEDLUNGSBLÖCKE“ sind dafür ein eklatantes Beispiel. Es war
Beilin, der diesen Terminus vor zwölf Jahren erfunden hat.
Er wurde in jene Abmachung mit aufgenommen, das als „Beilin-Abu-Mazen-Abkommen“
bekannt wurde.
Die
Absicht war gut. Beilin glaubte, wenn die meisten Siedler
auf einige begrenzte Gebiete in der Nähe der Grünen Linie
beschränkt blieben, dann würden sie in ihrer Gesamtheit mit
einem Rückzug vom Rest der Westbank einverstanden sein .
Das
tatsächliche Ergebnis war verheerend. Die Regierung und die
Siedler nutzten die Gelegenheit aus. Die Genehmigung der
„zionistischen Friedensbewegung“ wurde zur Schau gestellt
wie das Kosher-Zertifikat an der Wand eines Metzgers, der
Schweineschnitzel verkauft. Die Siedlungsblöcke wurden in
unglaublicher Geschwindigkeit vergrößert und wurden
richtige Städte (wie z.B. Maale Adumin, der Etzion-Block und
Modiin Illit).
Seit
Dutzenden von Jahren hatten die USA darauf bestanden, dass
alle Siedlungen das Völkerrecht verletzen. Aber die gewährte
Anerkennung der „Siedlungsblöcke“ ermöglichte es Präsident
George W. Bush, seinen Standpunkt zu verändern und
„israelische Bevölkerungszentren“ in der Westbank
anzuerkennen. Haim Ramon, der in der Vergangenheit Beilins
Partner in der Gruppe der „acht Tauben“ innerhalb der
Laborpartei gewesen war, ging sogar noch weiter: er
initiierte die Trennungsmauer, die praktisch die
„Siedlungsblöcke“ für Israel annektiert.
Aber
Beilins brillante Idee verringerte nicht im Geringsten die
Opposition der Siedler zu einem Rückzug aus der restlichen
Westbank. Im Gegenteil: sie verhindern weiterhin die
Auflösung von auch noch so kleinen Siedlungsaußenposten.
Nichts Gutes ist aus dieser Idee erwachsen. Die Folgen
waren nur schlecht.
MAN
KANN nun fortfahren, Beilins brillante Ideen aufzuzählen.
Wie in dem Lied des früheren Meisterkomödianten (und
gegenwärtigem orthodoxen Rabbiner) Uri Zohar: „Der jüdische
Kopf erfindet Patente für uns.“ In Israels politischer und
diplomatischer Arena gibt es keinen Kopf, der produktiver
wäre als Beilins.
Ich
weiß nicht, welche Rolle Beilin bei der Erfindung der
Patente genau spielte, die bei der Camp-David-Konferenz
2000 vorgeführt wurden. Z.B. bei der Idee, dass Israel
die Herrschaft über den Tempelberg fordern solle – aber nur
unter der Oberfläche. Dies befriedigte die israelische
Rechte nicht, erschreckte aber die Palästinenser, die
fürchteten, dass Israel beabsichtige, die islamischen
heiligen Stätten zu untergraben, bis sie zusammenstürzen
würden, um sie schließlich durch den dritten jüdischen
Tempel zu ersetzen. Der nächste Schritt war Ariel Sharons
„Besuch“ an dieser sensiblen Stelle, der die 2. Intifada
auslöste.
Nach
den Wahlen von 2006 hatte Beilin eine andere brillante Idee:
Avigdor Liberman zu einem freundschaftlichen Frühstück
einzuladen, über das dann in aller Breite öffentlich
berichtet wurde. Die Absicht war zweifellos gut (Selbst wenn
ich sie nicht ergründen kann), aber das Ergebnis war
katastrophal: es gab Liberman ein „linkes“
Kosher-Zertifikat, das es Ehud Olmert ermöglichte, ihn in
seine Regierung aufzunehmen.
Danach verkündete die Meretz-Partei, dass sie unter keinen
Umständen mit in einer Regierung sitzen würde, die Liberman
einschließe. Aber man kann Rosemary’s Baby nicht wieder in
den Mutterleib zurückbringen. Liberman bleibt in der
Regierung , Meretz bleibt draußen. Jetzt erklärt Olmert den
Amerikanern, er könne weder einen einzigen
Siedlungsaußenposten auflösen noch über „Kernprobleme“ des
Konfliktes reden, weil dann Liberman die Koalition zum
Einsturz brächte
Tatsächlich ist Beilin sehr großzügig dabei,
Kosher-Zertifikate an Mitglieder der extremen Rechten zu
verteilen. Am Vorabend von einer der jährlichen Massendemos
der zionistischen Linken in Erinnerung an Yitzhak Rabin
verkündete er, dass er bereit sei, zusammen mit General Effi
Eitan, einem der Führer der extremsten Rechten, dorthin zu
kommen. Er hatte Glück – es wurde nichts daraus.
Es
muss irgendwelche Verbindungen zwischen diesen Ideen und
seinem Standpunkt an entscheidenden Stellen geben. Zum
Beispiel: seine Unterstützung für Ariel Sharons
Trennungsplan, ohne die Bedingung zu stellen, mit den
Palästinensern ein Abkommen zu schließen. Die Folge davon:
der Gazastreifen wurde in das „größte Gefängnis der Welt“
verwandelt .
Und
noch schlimmer: die entschiedene Unterstützung Beilins für
den 2. Libanonkrieg während seiner ersten und kritischsten
Phase. Während des Krieges schlug er sogar noch einen
Angriff auf Syrien vor. Erst in der vierten Woche nach
stürmischen Antikriegs-Demonstrationen begann Beilin Kritik
zu äußern und ließ Meretz eine eigene Demonstration
organisieren.
AUF
DER andern Waagschale liegen zwei von Beilins großen und
positiven politischen Beiträgen: die Prinzipien-Erklärung
von Oslo und die Genfer Initiative.
Sein
Anteil an Oslo war sicher bedeutsam. Aber er verhinderte
nicht, dass es zwei schwarze Löcher in diesem Abkommen gab:
man ließ die entscheidenden Wörter „Palästinensischer Staat“
aus, und man vermied das eindeutige Verbot einer
Fortsetzung der Siedlungsaktivitäten.
Diese beiden Fehler haben das Abkommen begraben. Die
Verhandlungen für ein dauerhaftes Friedensabkommen, die 1999
hätten abgeschlossen sein sollen, hatten nicht einmal
begonnen. Die Siedlungen wurden schnell vergrößert, während
alle über Frieden sprachen.
Die
Genfer Initiative war andrerseits vollständig ein Produkt
Beilins. Sie hätte seine Karriere krönen können. Ihre
öffentliche Bekanntgabe wurde zu einem internationalen
Ereignis. Die Mächtigen der Erde gaben ihren Segen dazu. Es
schien, als ob sie dem Friedensprozess einen
entscheidenden Anstoß geben würden.
Dazu
kam es nicht. Ariel Sharon wischte sie mit dem Handrücken
vom Tisch. Er kündigte den „Trennungsplan“ an und zog so die
nationale und internationale Aufmerksamkeit von der Genfer
Initiative ab.
Das
hätte nicht das Ende der Initiative sein müssen. Es hätte
eine große Kampagne in Israel und in aller Welt geben
müssen. Von jeder Kanzel hätte davon gepredigt, immer und
immer wieder hätte sie auf die Agenda gesetzt werden müssen.
Doch dann beging Beilin den größten Fehler seines Lebens: er
wollte den Vorsitz von Meretz übernehmen --- und gewann.
DER
IRRTUM war von ersten Augenblick klar: es gibt einen
grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Funktion eines
Parteiführers und der Aufgabe des Propheten von Genf, einer
Person, die total mit der Initiative gleichgesetzt wird und
zu Hause und im Ausland ihr Hauptanwalt ist.
Wenn
der Initiator der Genfer Initiative der führende Kopf von
Meretz wird, dann verkrüppelt er die Initiative und macht
sie zur Plattform einer kleinen Partei. Andrerseits macht er
Meretz zu einer „one-issue“- Partei. Beide - die
Initiative und die Partei - verlieren dabei.
Eine
so intelligente Person wie Beilin hätte dies eigentlich
verstehen sollen. Ich hege jedoch den Verdacht, dass zwei
Seelen in ihm kämpfen: die Seele eines Mannes, der Ideen
produziert und die Seele eines Parteifunktionärs. Er ist
nicht damit zufrieden, nur das eine zu sein.
Dieser Fehler hat einen hohen Preis. In dieser Woche war
Beilin gezwungen, seinen Rücktritt aus der
Meretz-Parteiführung zu verkünden.
Diese Partei hat eine mysteriöse Eigenschaft. Sie
verschlingt ihre Parteivorsitzenden. Als erstes ihre
Gründerin, Shulamit Aloni – sie wurde praktisch
rausgeschmissen. Derjenige, der das tat, war Yossi Sarid.
Auch er wurde gezwungen, zurück zu treten, als die Partei
von 12 auf 6 Sitze schmolz und so von einer mittelgroßen zu
einer kleinen Partei wurde. Nach den letzten Wahlen – unter
Beilin – waren es dann nur noch 5 Sitze.
Unter seiner Führung war Meretz ein seltsamer Vogel: weder
eine richtige Oppositionspartei, noch gehörte sie zur
Koalition. Beilin wuchs im Establishment auf und selbst
dann, wenn er offiziell in der Opposition ist, denkt und
benimmt er sich wie ein Mitglied des Establishments. Unter
seiner Führung hat die Meretz-Partei nicht nur Sharons
„Trennungsplan“ und Olmerts Libanonkrieg unterstützt,
sondern seitdem flirtet Beilin sogar offen mit dem
Ministerpräsidenten. Selbst als die große Mehrheit im Land
zu der Schlussfolgerung gelangte, dass Olmert für seinen Job
ungeeignet sei, gab ihm Beilin ein Kosher-Zertifikat.
Er
sagt, er glaube, Olmert wünsche ernsthaft Frieden . Unter
Beifall zitiert er Aussprüche des „neuen Olmert“: „Mein
Vater hatte Unrecht und Ben Gurion hatte Recht“ (Olmerts
Vater war ein unerschütterliches Irgun-Mitglied.) und
„Israel ist verloren“, wenn es nicht die Zwei-Staatenlösung
erfüllt. Das sind schön klingende Sätze – doch bewegt sich
Olmert genau in die Gegenrichtung, vermeidet ernsthafte
Friedensverhandlungen und führt im Gazastreifen Krieg.
Jetzt scheinen die Meretz-Leute genug zu haben.
Wenn
eine Partei seine Führer rauswirft, so ist das immer
traurig. Aber dies ist nicht das erste Mal; es geschah
Beilin nun zum zweiten Mal. Das lässt Fragen aufkommen.
Von
früher Jugend an wuchs er in der Laborpartei auf und war
einer der viel versprechenden Pflegekinder von Shimon Peres.
Als stellvertretender Außenminister hatte er die
Möglichkeit, seine unermüdliche Kreativität voll entfalten
zu können. Aber dann kam Ehud Barak zur Macht, jemand der
die unheimliche Fähigkeit hat, die falsche Person auf den
falschen Platz zu setzen. Beilin wurde zum Justizminister
ernannt, ein Job, der seine besonderen Talente lähmte. .
Am
Vorabend der nächsten Wahlen verbannte die Labor-Partei
Beilin an einen hoffnungslosen Platz auf ihrer Knessetliste.
Aus Wut und Frustration verließ er die Partei, schlug die
Tür hinter sich zu und schloss sich Meretz an. Nun ist er
dort praktisch auch rausgeworfen worden.
Beilin hat nicht wie Shulamit Aloni und Yossi Sarid vor,
„nach Hause zu gehen“. Sein unermüdlicher Geist ist schon
wieder dabei, neue Pläne auszuhecken. In Interviews, die er
in letzter Zeit gegeben hat, prophezeit er eine
grundlegende Wende in der politischen Landschaft und die
Schaffung einer neuen politischen Kraft, die Mitglieder von
Kadima, Labor und Meretz einschließen wird. Vermutlich
stellt er sich vor, dass diese Partei von Olmert angeführt
und dass Beilin in ihr eine zentrale Rolle spielen werde.
Diese neu zu gründende Partei würde dann Benjamin Netanyahu
und Ehud Barak den Kampf ansagen.
Das
ist zwar eine interessante Idee, aber die Chancen für ihre
Realisierung sind gleich null.
BEILINS PROBLEME gehen über seine persönliche Geschichte
hinaus. Sie symbolisieren die Tragödie des Lagers, das sich.
„Zionistische Linke“ nennt. Wahrscheinlich steckt allein
schon im Namen das Problem.
Dieses Lager wurde vor hundert Jahren geboren, und es
scheint, dass es sich nie mit Selbstkritik befasst hat. In
seinem letzten Interview verwendet Beilin die ganze
Terminologie des zionistischen Establishments. Wie jeder
dort nennt er die palästinensischen Kämpfer im Gazastreifen
„Terroristen“. In seiner Werteordnung „ist es wichtig, dass
ein Junge den Rang eines ausgezeichneten Soldaten erreicht“
und natürlich, „wenn Israel aufhört, ein jüdischer Staat zu
sein, dann habe ich kein Interesse mehr an ihm.“
Mit
solchen Ansichten kann das zionistische Friedenslager keine
kämpfende politische Kraft werden, keinen wirklichen Kampf
der Opposition führen, keine Veränderung im Land
verursachen. Und das ist mehr als nur ein persönliches
Problem Yossi Beilins.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)
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