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Was
zum Teufel
Uri
Avnery
2. Juli 2016
Was zum
Teufel ist mit ihnen geschehen? Sind sie durchgedreht? Ausgerechnet
von allen Völkern die Briten?
Ich war
immer ein Anglophiler. Auch als Jugendlicher, als ich Mitglied einer
Terroristen-Organisation war, die die Briten aus unserem Land
vertreiben wollte. Damals arbeitete ich in dem Büro eines
Rechtsanwaltes, der englische Kunden hatte. Die meisten von ihnen
mochte ich. (Für uns waren alle Briten “Engländer”)
Die
Briten beeindruckten mich, weil sie ein höchst rationales Volk
waren: diszipliniert, bescheiden, kontrolliert, abgeneigt, Emotionen
zu zeigen.
Und nun
sind ausgerechnet sie es, die in einer Angelegenheit von
historischer Bedeutung eine völlig irrationale Entscheidung treffen,
weil sie ihr Votum von ihrer Aversion gegen “Ausländer”
leiten liessen
Genau
dieser Vorgang war so unbritisch, wie er nur sein kann.
Die
Briten rühmen sich, die moderne Demokratie erfunden zu haben. Ihre
“Elite” hatte nie Illusionen über den Normalbürger (und viel später
dann die Normalbürgerin). Britische Wähler trafen keine
schicksalhaften Entscheidungen. Sie wählten Menschen, die
kompetenter sind als sie, um die schicksalhaften Entscheidungen zu
treffen, Menschen, die für diese Aufgabe geschult wurden. Eigentlich
sogar Menschen, die für diese Aufgabe geboren wurden.
Die
demokratisch gewählten Führer des britischen Volkes zeigten oft
verhohltene Verachtung denjenigen gegenüber, die sie gewählt hatten.
Winston Churchill, der Inbegriff eines britischen Führers, sagte
den berühmten Satz: "Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein
fünf minütiges Gespräch mit dem Durchschnittswähler.”
Deshalb
geht jede Art einer Volksabstimmung strikt gegen den Charakter der
britischen Demokratie. Ein Referendum ist eine Einladung zur
Verantwortungslosigkeit. Eine Person folgt ihren flüchtigen
Emotionen, am nächsten Tag könnten sie für das genaue Gegenteil
stimmen – wenn es zu spät ist. Eine spontane “Ja”- oder
“Nein”-Stimme kann bei vielen Menschen zufallsbedingt sein –
besonders, wenn das Ergebnis von 1% oder 2% abhängt. (Ein Referendum
sollte minimum eine 75% oder 60 % Mehrheit erfordern)
Das
Referendum der letzten Woche zeigte, weshalb Referenda
unverantwortlich sind. Eine Mehrheit – wenn auch nur eine dünne
Mehrheit – der Briten stimmte demokratisch für den Austritt aus der
Europäische Union.
(Aus Versehen einen Satz gestrichen)
Bis
heute wurden Tausende von Kommentaren ausgestrahlt und gedruckt.
Tausende von Erklärungen wurden veröffentlicht. Aber am Ende läuft
alles auf einen Punkt hinaus: Die Briten hatten von all diesen
Franzosen und Deutschen und anderen “Ausländern”, die ihnen sagen
wollen, was sie für ihr eigenes Wohlergehen tun sollen, die Nase
voll. Zum Teufel mit ihnen.
Ich
habe noch das wunderschöne britische Poster nach dem Fall
Frankreichs im Jahre 1940 vor Augen: "Also gut, alleine!" Briten
meiner Generation werden sich für immer an den Sinn dieses Mottos
erinnern.
Aber
jetzt ist nicht 1940. Die Welt hat sich weiter bewegt. Die Welt
bewegt sich immer weiter. Der "Brexit" kann ein schönes Spielzeug
sein. Aber er ist verhängnisvoll.
Von all
den vielen Erklärungen, die zu dieser Entscheidung vorgeschlagen
wurden, ist die überzeugendste, dass es in der gesamten
demokratischen Welt eine wachsende Abneigung, ja sogar Aversion,
gegen das vorhandendene politische Establishment gibt.
Viele
britische Wähler, so scheint es, stimmten nicht für oder gegen den
Brexit, sondern für oder gegen die etablierten Parteien.
Dieses
Empfinden beflügelt überall extreme faschistische - und in einigen
Ländern auch radikale linke Parteien. Donald Trump ist das misratene
Kind davon. In einer angenehmeren Form ist es Bernie Sanders auch.
In
Israel haben wir dasselbe Gefühl, nur noch stärker. Der
spontane Aufschrei, der am Tag nach dem Yom Kippur-Krieg von 1973
aufkam: "Genug!, wir haben die Nase voll von euch!" (oder "Genug!,
ihr widert uns an!"), der Golda Meir and Moshe Dayan zum Rücktritt
zwang, ist heute weiter verbreitet denn je zuvor.
Die
demokratische Welt hat die Nase voll von dem Establishment. Überall
werden Politiker als korrupte Diener der Ultra-Reichen oder
zumindest als “abgehoben” angesehen.
Die
Brexit-Abstimmung ist Teil dieses weltweiten Trends. Er ist ein
Protestvotum, das kaum etwas mit dem Thema des Referendum zu tun
hat. Die EU wird als Verkörperung der oberen Klasse, der elitären,
undemokratischen Bürokratie, eine Kopie der einheimischen “Elite”
angesehen. Also, weg mit ihr!
Das ist
ein kindisches Verhalten. Ein Hosenmatz, der seine Mutter tritt.
ABER ES ist mehr als das. Bedeutend mehr.
Es ist der letzte Widerstand des Nationalismus, ein Schritt zurück
für die Menschheit.
Ich bin
ein Nationalist. Ich glaube, dass die Menschheit immer noch im
Stadium nationaler Identität ist. Ich glaube, dass kein Glaube oder
“ism" Nationalismus im gegenwärtigen Stadium des menschlichen
Strebens besiegen kann.
Der
Kommunismus versuchte es und scheiterte nach einem Jahrhunderte
langen Kampf. Der Faschismus, der versuchte übernational zu werden,
versuchte es und scheiterte. Die christliche Religion hat es
versucht und scheiterte. Wo auch immer diese und andere
Überzeugungen versucht haben, sich gegen den Nationalismus zu
stellen, wurden sie niedergeschmettert.
Vielleicht war das eklatanteste Beispiel der Kommunismus. Als die
Sowjetunion von Deutschland angegriffen wurde, fiel sie zurück in
“Patriotismus”. Wo Kommunismus mit Nationalismus kombiniert ist,
wie in Vietnam, gedeiht er.
Der
Zionismus war siegreich, weil er die religiöse jüdische Gemeinschaft
in eine moderne israelische Nation verwandelte.
Warum
wurde der Nationalismus zum Zeitgeist vor einigen 250 Jahren? Weil
sein spiritueller Inhalt mit den materiellen Rahmenbedingungen
übereinstimmte. Wirtschaftliche, militärische und kommunikative
Entwicklungen verlangten nach größeren Entitäten. Kleine regionale
Entitäten – wie die Schotten, die Korsen, die Basken – könnten diese
Bedürfnisse nicht erfüllen, konnten sich selbst nicht mehr
verteidigen, noch mit größeren Wirtschaftseinheiten konkurrieren. So
schlossen sie sich den neuen Nationalstaaten an: Großbritannien,
Frankreich, Spanien. Das Deutsche Reich und die Republik Italien
entstanden.
Diese
Realität wird nun schnell hinfällig. Die Wirtschaft wurde
globalisiert. Die Atombombe ist die Waffe der Großmächte, die
globale Umwelt kann nur durch einen gewaltigen gemeinsamen Einsatz
der gesamten Menschheit gerettet werden, das Internet und die Medien
verbinden die Menschen völlig ungeachtet der Grenzen. Der
Nationalstaat kann in der Isolierung nicht konkurrieren.
Aber
menschliche Emotionen ändern sich nicht so schnell wie die
materielle Realität. Die Menschen halten an alten Ideen fest.
Nationen haben immer noch einen mächtigen Einfluss auf ihre
Staatsbürger. Jedes internationale Fußballmatch zeigt dies deutlich
und stark. Die Fußball-Hooligans sind eine wahre Widerspiegelung
ihrer Nationen.
Das ist
die tatsächliche Wurzel des Brexit. Nationalismus widersetzt sich
regionaler und globaler Logik. Er kämpft um seine Existenz, er hängt
an der Vergangenheit. Wie die Weber in dem Stück von Gerhart
Hauptmann von 1882, die die neuen Maschinen des industriellen
Zeitalters zerstörten, um die überholte Wirtschaftsordnung zu
bewahren, von der ihr Lebensunterhalt abhing.
Geschichte kann recht amüsierend sein. Eins der Ergebnisse dieser
Bewegung in Richtung größerer post-nationalistischen Entitäten ist
der Zusammenbruch der Nationen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Wenn
die wirkliche Souveränität von London, Paris und Madrid nach Brüssel
umzieht, gibt es für Schotten, Korsen oder Basken keine
Notwendigkeit, in ihrer größeren Nation zu bleiben. Sie können zu
ihrem früheren Mini-Nationalismus zurückkehren und in der EU
bleiben. Das Vereinigte Königin-Reich (nicht mein Ausdruck ) wird
wieder Klein-England werden.
Als
Teenager schloss ich mich dem terroristischen Untergrund an, weil
ich glaubte, dass wir unseren eigenen Nationalstaat haben sollten,
der Israel wurde. Im Krieg von 1948 wurde ich überzeugt, dass es
keinen Weg gab, die Palästinenser zu zwingen, ihr Verlangen nach
einem eigenen Nationalstaat aufzugeben. So wurde der Gedanke der
“Zwei-Staaten-Lösung” geboren. Aber nicht viel später plädierte ich
für die Gründung einer “Semitischen Union”, in der Israel, Palästina
und die anderen arabischen Länder auf regionaler Basis kooperieren
würden. (Kürzlich nahm eine israelische Gruppe, die sich “Zwei
Staaten, ein Mutterland” nannte, denselben Gedanken wieder auf.
Es gibt
nichts Pathetisches und Bewegendes in der britischen Entscheidung.
Sie erinnern an die “Also dann, alleine”- Stimmung, dem stolzesten
Augenblick in ihrer gesamten Geschichte. Sie erinnern daran, als
ihre kleine Insel-Nation über die Meere und ein Fünftel der
Kontinente, darunter auch mein Land, herrschte.
Aber es
ist immer noch Wahnsinn.
Der
menschliche Fortschritt verlangt nach immer größeren Entitäten.
Dieses Jahrhundert wird eine neue Weltordnung sehen. Leider werde
ich nicht mehr da sein, aber ich sehe sie bereits im Geiste. Sie ist
unvermeidbar.
Die
Frage ist, ob diese Weltordnung demokratisch sein wird oder nicht.
Es bleibt der Menschheit überlassen, sicherzustellen, dass sie es
ist. Dasselbe gilt für die Europäische Union jetzt. Diejenigen, die
ihr System nicht mögen, müssen für eine Wende kämpfen – für ihre
wahre Demokratisierung, für effektive Sozial- und Menschenrechte.
Dafür hätten die britischen Wähler stimmen müssen.
Stattdessen stimmten sie für: “Haltet die Welt an, wir wollen
aussteigen!”
(Vom
Englischen ins Deutsche übersetzt von Inga Gelsdorf)
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