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Sohn des Todes
Uri Avnery,
23.8.14
DER
KRIEG war vorüber Die Familien kehrten in ihre Kibbuzim in der Nähe
des Gazastreifens zurück. Die Kindergärten öffneten wieder. Die
Feuerpause war in Kraft und wurde verlängert und noch einmal
verlängert. Offensichtlich waren beide Seiten erschöpft.
Und dann kam
plötzlich der Krieg zurück.
Was ist geschehen?
Nun, die Hamas hat mitten in der Feuerpause Raketen in Richtung
Bersheva abgeschossen.
Warum? Nicht warum?
Man weiß doch, wie die Terroristen sind. Blutrünstig. Sie können
nicht anders – genau wie Skorpione.
Doch so einfach ist
es nicht.
DIE KAIRO-Gespräche
waren fast ein Erfolg, oder so schien es. Aber Benjamin Netanjahu
war in Schwierigkeiten. Er verbarg den Entwurf eines ägyptischen
Abkommens für eine lange Feuerpause sogar vor seinen
Kabinett-Kollegen. Sie erfuhren davon erst durch die Medien, die es
aus palästinensischen Quellen mitteilten.
Anscheinend sagte
der Entwurf, dass die Blockade sehr gelockert werden würde, wenn
nicht gar offiziell beendet. Gespräche über den Bau eines Hafens
und eines Flughafens würden innerhalb eines Monats beginnen.
Was?
Wie kam Israel da heraus? Nach all dem Schießen und Töten: 64
israelische Soldaten waren tot ( über 2000 Pal. ) – nach all den
grandiosen Reden über unseren gewaltigen Sieg, war das alles? Kein
Wunder, Netanjahu versuchte, das Dokument zurückzuhalten.
Die israelische
Delegation wurde ohne Unterzeichnung nach Hause gerufen. Die
verzweifelten ägyptischen Vermittler bekamen weitere 24 Stunden
Verlängerung der Feuerpause. Sie sollte Dienstag um Mitternacht
ablaufen, aber auf beiden Seiten erwartete man, dass sie immer
wieder verlängert würde. Und dann geschah es.
Etwa um 16 Uhr
wurden drei Raketen nach Beer Sheba abgeschossen und fielen aufs
offene Feld. Keine Warnung durch Sirenen. Seltsam. Hamas leugnete,
sie abgeschossen zu haben, und keine andere palästinensische
Organisation übernahm die Verantwortung. Das war seltsam. Nach jedem
vorhergehenden Abfeuern von Gaza hat eine palästinensische
Organisation immer stolz ihren Anspruch behauptet.
Wie üblich starteten
israelische Flugzeuge sofort, um zur Vergeltung und Gebäude im
Gazastreifen zu bombardieren. Wie gewöhnlich regneten Raketen auf
Israel. (Ich hörte die Abfangjäger in Tel Aviv)
Geschäfte wie
gewöhnlich? Nicht ganz.
Zuerst wurde bekannt,
dass eine Stunde, bevor die Raketen hereinkamen, die israelische
Bevölkerung nahe Gaza durch die Armee gewarnt wurde, ihre
Schutzkeller und „sicheren Räume“ vorzubereiten.
Dann kam heraus, dass
das erste getroffene Gebäude in Gaza der Familie eines
Hamas-Militärkommandeurs gehörte. Drei Leute wurden getötet unter
ihnen ein Baby und seine Mutter.
Und dann verbreiteten
sich die Nachrichten. Es war die Familie von Mohammed Daif, dem
Kommandeur der Izz al-Din al Qassam- Brigaden, des Militärflügels
der Hamas. (Qassam war ein palästinensischer Held, der erste Rebell
gegen die britische Herrschaft in Palästina in den 30er-Jahren. Er
wurde gejagt und von den Briten getötet). Unter den Getöteten
dieser Woche waren Daifs Frau und sein Sohn der noch ein Baby war.
Es scheint, Daif selbst war nicht dort.
Das
war an sich kein Wunder. Daif hat ein Dutzend Mordversuche überlebt.
Er hat ein Auge verloren und verschiedene Gliedmaßen, kam aber immer
wieder lebendig davon.
Alle um ihn herum,
seine einander folgenden Kommandeure, politischen und militärischen
Kollegen und Untergeordneten, Dutzende von ihnen sind während der
Jahre ermordet worden. Er aber hat ein charmantes Leben geführt.
Jetzt steht er auf
Israels Mordliste an oberster Stelle, er war der gesuchteste und
gejagteste palästinensische Aktivist. Er ist die Nummer eins „der
Sohn des Todes“, eine ziemlich biblische Bezeichnung – in Israel
verwendet - für die, die ermordet werden sollten.
Wie die meisten
Bewohner des Gazastreifens ist Daif ein Kind von Flüchtlingen aus
Israel. Seine Familie kommt aus dem Dorf Kawkaba, jetzt in Israel,
nicht weit von Gaza. Ich kam im 48erKrieg dort durch, bevor es dem
Boden gleich gemacht wurde.
Für den israelischen
Sicherheitsdienst ist er ein Preis, für den es sich lohnt die
Feuerpause zu unterbrechen und den Krieg wieder aufflammen zu
lassen.
FÜR VIELE
Sicherheitsagenturen in aller Welt, einschließlich der
amerikanischen und der russischen, ist Mord wie Sport und eine Art
Kunst. Israel behauptet hier die Goldmedaille zu gewinnen.
Ein Mord ist eine
komplizierte Operation. Sie erfordert eine Menge Zeit, Übung, Geduld
und Glück. Die Operateure müssen Informanten in der Nähe des Opfers
rekrutiert haben, elektronische Geräte installiert, präzise
Information über jede seiner Bewegungen erlangen, ihren Plan
innerhalb von Minuten ausführen, wenn sich einmal die Gelegenheit
ergibt.
Deshalb gibt es keine
Zeit für Bestätigungen von oben. Vielleicht bekam der
Sicherheitsdienst (gewöhnlich Shin Bet genannt) von Netanjahu die
Erlaubnis, seinem einzigen politischen Chef, vielleicht auch nicht.
Sie waren
offensichtlich informiert, dass Daif seine Familie besucht hatte.
Das war eine goldene (sehr günstige) Gelegenheit. Seit Monaten,
tatsächlich seit Jahren hat Daif buchstäblich - im Untergrund
gelebt, irgendwo im Labyrinth der Tunnels, den seine Leute neben
dem Gazastreifen gruben. Er wurde nie gesichtet.
Seit Beginn dieses
Krieges haben alle anderen prominenten Hamasführer auch im
Untergrund gelebt. Von Ismail Hanieh nach unten ist keiner
gesehen worden. Das unbegrenzte Kommando aus der Luft durch
israelische Flugzeuge und Drohnen machen dies ratsam. Hamas hat
keine Waffen gegen Flugzeuge.
Es kommt mir höchst
unwahrscheinlich vor, dass Daif sein Leben durch einen Besuch seiner
Familie riskieren wollte. Aber der Shin Bet erhielt offensichtlich
einen falschen Hinweis und glaubte ihm. Die drei seltsamen nach
Beer Sheva abgeschossenen Raketen lieferten den Vorwand, die
Feuerpause zu unterbrechen und so begann der Krieg noch einmal.
Wirkliche Aficionados
der Kunst des Mordanschlags sind nicht an politischen oder
militärischen Konsequenzen ihrer Aktionen interessiert. Ars Artis
Gratias .
A propos: der
letzte Krieg begann vor zwei Jahren auf dieselbe Weise. Die
israelische Armee ermordete den de-facto al-Qassam-Führer, Ahmed
Jaabari. Der darauf folgende Krieg mit seinen vielen hunderten von
Toten hatte sonst nur Kollateralschäden.
Jaabari war in jener
Zeit Vertreter von Daif, der sich in Kairo erholte.
ALL DIES ist
natürlich viel zu kompliziert für amerikanische und europäische
Diplomaten. Sie mögen einfache Geschichten.
Das Weiße Haus
reagierte unmittelbar auf den Wiederbeginn der Feindseligkeiten
durch die Verurteilung der Hamas, die Raketen warfen, und die
erneute Bestätigung, dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung
habe. Die westlichen Medien plapperten dies nach.
Für Netanjahu war es
ein Weg aus einem Dilemma: wusste er im Voraus von dem Mordversuch
oder nicht? Er war in der unglücklichen Position vieler Führer in
der Geschichte, die einen Krieg begonnen hatten und nicht wussten,
wie man aus ihm herauskommen sollte.
In einem Krieg macht
ein Führer hochtrabende Reden, verspricht den Sieg und großzügige
Errungenschaften. Diese Versprechen wurden selten wahr. (wenn sie
wahr werden, wie beim Versailler Vertrag 1919 mag dies sogar noch
schlimmer sein)
Netanjahu versteht
sich gut auf Vermarktung, wenn auch sonst nichts. Er verspricht
eine Menge, und die Leute glaubten ihm und gaben ihm eine 77%
Kreditfähigkeit. . Der ägyptische Entwurf für eine anhaltende
Feuerpause schlug vor, wenn auch wesentlich pro-Israel enttäuschte
die Siegeserwartungen für Israel. Es bestätigte nur, dass der
Krieg in einem Unentschieden endete, Netanjahus eigenes Kabinett
war rebellisch, die öffentliche Meinung war spürbar sauer Die
Wiederaufnahme des Krieges holte ihn aus dieser Höhle/ diesem
Dilemma heraus. Aber was jetzt?
Die Bombardierung der
Gaza-Bevölkerung zieht immer mehr Kritik der Weltöffentlichkeit auf
sich. Es hat auch seine Anziehungskraft in Israel verloren. Die
Maxime: „Lasst sie uns bombardieren, bis sie aufhören, uns zu
hassen“ hat offensichtlich nicht ihren Zweck erfüllt.
Die Alternative ist,
den Gazastreifen zu betreten und vollständig zu besetzen, so dass
sogar Daif und seine Männer an die Oberfläche kommen müssen und
ermordet werden können. Aber das ist ein gefährlicher Vorschlag.
Als ich im 48er-Krieg
Soldat war, wurde uns gelehrt, niemals eine Situation zu schaffen,
die dem Feind keinen Ausweg lässt. In solch einem Fall wird er bis
zum Ende kämpfen und viele Todesfälle verursachen.
Es gibt keinen Weg
aus dem Gazastreifen. Wenn die israelische Armee loslegt, den
Streifen zu erobern, wird der Kampf heftig sein und Hunderte von
toten Israelis und Tausende von toten Palästinensern und Verletzten
und eine unbeschreibliche Zerstörung verursachen. Der
Ministerpräsident wird eines der politischen Opfer sein.Netanjahu
ist sich dessen voll bewusst. Er wünscht es nicht. Aber, was kann
er sonst tun?
Er kann der Armee
natürlich nicht den Befehl geben, nur Teile des Streifens zu
besetzen, ein Dorf hier und eine Stadt dort. Das wird eine Menge
Tod und Zerstörung verbreiten - zu keinem eindeutigen Vorteil. Am
Ende wird die öffentliche Unzufriedenheit dieselbe sein.
Hamas drohte in
dieser Woche, uns die Tore der Hölle“ zu öffnen. Dies hat die
Bewohner von Tel Aviv kaum berührt, aber für die Dörfer und Städte
in der Nähe Gazas ist dies wirklich die Hölle. Wenig Todesfälle,
aber die Angst ist verheerend. Familien mit Kindern gehen en masse
weg. Wenn die Ruhe wieder einkehrt, versuchen sie, wieder nach Hause
zu kommen, aber die nächsten Raketen treiben sie dann wieder weg.
Ihr Elend ruft im
ganzen Land eine starke emotionale Antwort hervor. Kein Politiker
kann dies ignorieren. Am wenigsten der Ministerpräsident. Er braucht
das Kriegsende. Er benötigt auch ein klares Bild vom Sieg. Aber wie
soll er dies erreichen?
Der ägyptische
Diktator versucht zu helfen. So auch Barack Obama, obwohl er auf
Netanjahu böse ist und ihn auf den Tod nicht ausstehen mag. Dasselbe
gilt für Mahmoud Abbas, der sich vor einem Sieg der Hamas fürchtet.
Aber was den Augenblick betrifft, so ist der Mann, der die letzte
Entscheidung trifft, der Sohn des Todes: Mohammed Daif in seinem
Tunnel, gesund und munter. Der Mord an seiner Frau und dem Söhnchen
hat ihn sicherlich nicht freundlicher und friedlicher gemacht.
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser ……)
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