Der Boss ist verrückt geworden
Uri Avnery, 11.12. 2004
Wenn die Obstverkäufer am Tel Aviver
Markt schreien: „Der Boss ist verrückt geworden!“ dann bedeutet
dies, dass sie ihre Waren zu lächerlichen Preisen verkaufen. In den
Hauptstädten der Welt wird jetzt ein ähnlicher Ruf laut: „Der Boss
ist verrückt geworden!“ – aber es geht nicht um den Preis von
Tomaten. Er weist auf die neue Situation nach der Wiederwahl von
George Bush um weitere vier Jahre hin.
An vielen Orten
wird Bush wie ein verrückter Cowboy angesehen, der in die Stadt
reitet und dort um sich schießt. Er hat Afghanistan angegriffen. Er
hat den Irak angegriffen. Seine Neo-Konservativen Betreuer wollen
als nächstes Syrien und den Iran angreifen. Sie wollen überall
unterwürfige Regierungen einrichten (die „die Demokratie im Nahen
Osten fördern“), auf Dauer amerikanische Garnisonen stationieren
und den Weltmarkt des Erdöls beherrschen und last but not least
Ariel Sharons Pläne unterstützen.
Jetzt in seiner 2.Amtsperiode kann Bush
ziemlich alles tun, was ihm gefällt.
Die Führer im Nahen Osten haben mit
erstaunlicher Geschwindigkeit die Schlussfolgerung gezogen. Jeder
eilte zu seiner nächsten politischen Höhle in Deckung, bis die
Gefahr vorüber ist.
Der syrische Bashar Assad begann beim
Klang von 100 Engelsfanfaren eine Friedensoffensive.
Der ägyptische Präsident Husni Mubarak
hat plötzlich seinen längst verloren geglaubten Bruder Sharon, einen
Friedensmann, wieder gefunden. Er stellt sich selbst als Bushs
Vizekönig im Nahen Osten dar.
Der jordanische Regent König Abdullah II
gibt ähnliche Töne von sich (nachdem er die Gelegenheit wahr nahm,
die Flügel seines jüngeren Bruders zu beschneiden).
Die Herrscher des Iran, die hartnäckigen
Ayatollahs, führten einen eiligen Rückzug aus und stimmten zu, das
nukleare Programms aufzugeben.
Und die Palästinenser einigten sich
hinter Abu Mazen, der von Präsident Bush bevorzugt wird.
Der Optimismus feierte einen großen Tag.
Die Winde der Hoffnung blasen durch die Region . Diplomaten aus
aller Welt stellen sich plötzlich ein, sie hoffen, sie könnten zu
erwartende Erfolge sich zu nutze machen, wie Bienen, die sich auf
sich öffnende Blüten setzen. Internationale Kommentatoren, die eine
unheimliche Gabe haben, die Vergangenheit vorauszusehen, reden über
den nahöstlichen Frühling.
(Dies ist übrigens eine falsche
geographische Auffassung. Der Frühling ist in Europa ein Symbol für
Hoffnung, wo die Natur nach Kälte und einem harten Winter
aufwacht. In unserer Region ist der Herbst das Symbol der Hoffnung,
wenn die Natur nach dem heißen und trockenen Sommer wieder erwacht.)
Haben all diese Hoffnungen irgend eine
Substanz?
Man kann z.B. die syrische Hoffnung
überprüfen. Assad jun. schlägt Verhandlungen ohne Vorbedingungen
vor, ein verführerisches Angebot. Wird Sharon es annehmen?
Einmal wandte ich mich in einer
politischen Debatte in der Knesset an die Ministerpräsidentin Golda
Meir: „Mir scheint, dass Sie sich vor einer schicksalhaften
Entscheidung befinden, ob man die Westbank König Hussein nicht
zurückgeben oder den Palästinensern nicht zurückgeben sollte.“
Sharon ist heute mit einem ähnlichen Dilemma konfrontiert: Was solle
zuerst getan werden: den Golan nicht an die Syrer oder die Westbank
nicht an die Palästinenser zurückzugeben?
Wie sein Vorgänger Ehud Barak, denkt
Sharon nicht im Traum daran, den Golan zurückzugeben. Selbst wenn er
dazu bereitgewesen wäre (und er ist es nicht), würde er es nicht
wagen, eine Evakuierung von Dutzenden von Siedlungen vorzuschlagen.
In seiner Autobiographie erzählt Bill
Clinton, was beim letzten Mal geschah, als der syrisch-israelische
Frieden auf der Agenda stand. Ehud Barak, der damalige
Ministerpräsident, forderte Clinton auf, eine syrisch-israelische
Konferenz einzuberufen. Clinton, der eifrig darum bemüht war,
internationale Erfolge zu sammeln, stimmte dem bereitwillig zu. Er
war angenehm überrascht, als Assad sen. alle früheren Forderungen
aufgab, (zum Beispiel. „seine Füße im See Genezareth baumeln zu
lassen“) und allen israelischen Forderungen zustimmte. Im
allerletzten Augenblick, als alles zum Unterzeichnen fertig war,
sagte Barak zu Clinton, er habe sich nun entschieden, die ganze
Sache rückgängig zu machen.
Jetzt gibt es keinen Clinton, und Sharon
braucht keinen Vorwand.
Voller Verachtung bemerkte er, Assads
Rede über Frieden sei nur unter dem Druck der USA zustande gekommen.
( Na und? Wäre das nicht die perfekte Gelegenheit gewesen, einen
Frieden zu erreichen?)
Sharon wies das syrische Angebot
kurzerhand zurück. Assad bot Frieden ohne Vorbedingungen an. Gut,
aber wir stellen Bedingungen: zunächst muss er alle Führer der
palästinensischen Organisationen aus Damaskus werfen und die
Hisbollah im Libanon entwaffnen. D.h., er müsse jede der ihm noch
verbliebenen Karten vor Beginn der Verhandlungen aus der Hand
geben. Man muss schon ziemlich naiv sein, um zu glauben, Sharon
werde dann auch nur eine einzige Siedlung aufgeben. Um so mehr,
seitdem Bush eine klare Order gegeben hat: rede nicht mit den
Syrern, mach es mir nicht zu schwierig, sie anzugreifen, wenn ich
mich dafür entschieden habe.
Deshalb konzentrieren sich alle
Hoffnungen jetzt auf die palästinensische Front. Wenn im nächsten
Monat Abu Mazen als Präsident der Palästinenser gewählt worden ist,
werden dann die wirklichen Verhandlungen beginnen?
Es sieht nicht so aus. Sharon war damit
einverstanden, am Wahltag die Armee aus den (palästinensischen)
Städten zurückzuziehen – aber nicht vorher. Inzwischen geht Sharons
Offensive unbarmherzig weiter: in dieser Woche wurde noch ein
gezielter Mord versucht – er verfehlte sein Ziel. Praktisch werden
täglich Palästinenser – einschließlich Kinder – getötet, die
systematische Demütigung an den Kontrollpunkten geht weiter, der Bau
der infamen Mauer wird fortgesetzt, Siedler reißen palästinensische
Olivenbäume aus, ohne daran gehindert zu werden. Einer der
Präsidentschaftskandidaten, der linke Dr. Mustafa Barghouti ( ein
entfernter Verwandter von Marwan B.) wurde an einem Checkpoint von
Soldaten aufgehalten und schwer geschlagen.
Es geht also ernsthaft nicht darum, ob
es eine vorübergehende Lockerung von Einschränkungen geben wird –
als freundliche Geste gegenüber Abu Mazen ( und was noch wichtiger
wäre gegenüber Bush ), sondern ob Sharon bereit ist, über das
Errichten eines wirklichen palästinensischen Staates mit
Ost-Jerusalem als Hauptstadt und über eine Rückkehr in etwa zur
Grenze von vor 1967 aufrichtig zu verhandeln. Dafür gibt es
keinerlei Anzeichen.
Es stimmt, Shimon Peres erklärt, er sei
im Begriff, sich der Regierung anzuschließen, um den „Abzug“ aus dem
Gazastreifen zu erleichtern und um unmittelbar danach, eine Lösung
für die Westbank voranzubringen. Aber das sind alles leere Worte, um
seine Gegner in der eigenen Partei zum Schweigen zu bringen.
Schließlich hat er, als er in der vorherigen Regierung von Sharon
als Minister diente, praktisch nichts für den Frieden getan. Wenn er
jetzt zur Regierung zurückkriecht, weiß jeder, dass er dort bleiben
will, egal was passiert – und dass er noch weniger erreichen wird.
In der neuen Regierung kann Sharon tun,
was er will. Wenn er es wünscht, kann er den „Abzugsplan“ erfüllen,
wenn er will, kann er den größten Teil der Westbank annektieren.
Ist der Boss verrückt geworden? Das
Letzte, was er tun würde, wäre, Druck auf Sharon auszuüben.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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