Meister des
Unfugs
Uri Avnery, 1.September 2012
AVIGDOR LIEBERMAN hat ein unruhiges Wesen.
Von Zeit zu Zeit muss er etwas tun, irgendetwas.
Als Minister für auswärtige Angelegenheiten sollte er
in den auswärtigen Angelegenheiten wirklich etwas tun. Das Problem
ist, dass die auswärtigen Angelegenheiten von andern geregelt
werden.
Der wichtigste Sektor unserer ausländischen
Angelegenheiten betrifft die Beziehung mit den USA. Dies ist
tatsächlich so wichtig, dass Benjamin Netanjahu diesen Sektor ganz
für sich behält. Unser Botschafter in Washington berichtet ihm
persönlich, nachdem dieser von Sheldon Adelson, dem
Casino-Milliardär, ausgewählt wurde.
Die Beziehungen mit den Palästinensern werden
meistens von Ehud Barak (miss-)gemanagt, der als
Verteidigungsminister offiziell die Verantwortung für die besetzten
Gebiete hat. Der Haupthandelnde dort ist der Shin Bet, der unter der
Amtsgewalt des Ministerpräsidenten steht.
Die Beziehungen zur arabischen Welt, so wie sie sind,
werden vom Mossad aufrecht erhalten, also auch unter der
Jurisdiktion des Ministerpräsidenten. Praktisch treffen Netanjahu
und Barak gemeinsam die Entscheidungen, natürlich einschließlich
der Entscheidung, die den Iran betrifft.
Was bleibt also für Lieberman übrig? Er kann sich,
so viel er will, mit Sambia und den Fidschi-Inseln beschäftigen. Er
kann Botschafter für Guatemala und Uganda ernennen. Und das ist es
dann schon.
Abgesehen davon, hat er ein persönliches Monopol für
die Beziehungen mit den Ländern der früheren Sowjetunion. Wie kommt
das? Nun, er wurde im sowjetischen Moldawien geboren und spricht
fließend russisch. Obwohl er schon vor 34 Jahren, nur wenige Tage
nach seinem 20. Geburtstag, nach Israel kam, wird er von den meisten
Israelis für einen „Russen“ gehalten, der mit einem schweren
russischen Akzent hebräisch spricht und so fremd wie möglich
aussieht. Aber seine Verbindungen mit jenem Teil der Welt geht weit
über kulturelle Faktoren hinaus – er ist ein leidenschaftlicher
Bewunderer von Vladimir Putin und seiner Doppelgänger Alexander
Lukaschenko in Minsk und Victor Yanukovych in Kiew. Er würde am
liebsten dieselbe Art von Regime in Israel einführen - mit sich
selbst als Doppelgänger von Putin.
Die meisten seiner Kollegen in Europa und in aller
Welt meiden ihn wegen seiner Ansichten, die viele von ihnen als
halb-faschistisch, wenn nicht als etwas Schlimmeres ansehen.
WIE KAM Netanjahu dazu, unter allen möglichen Jobs
ihm den Job des Außenministers zu geben ? Nun, als der Führer einer
Partei, die wesentlich zur Bildung einer rechten Koalition beiträgt,
hatte er ein Recht auf eines der drei großen Ministerien:
Verteidigung, Finanzen und auswärtige Beziehungen. Wer würde zu
leugnen wagen, dass die Verteidigung ein von Gott gegebenes Lehen
für Barak sei? Da Netanjahu sich selbst für ein ökonomisches Genie
hält, entschied er, das Finanzministerium praktisch auch selbst zu
übernehmen. Er fand einen Doktor der Philosophie, der den Vorteil
hat, auf dem Gebiet der Wirtschaft unwissend zu sein; er ernannte
ihn zu seinem Finanzminister. Da blieben nur noch die auswärtigen
Angelegenheiten, ein sehr ungeliebtes Ministerium, für Liebermann.
Da dieses Ministerium nicht viel Aktivitäten erzeugt
und so auch weniger Schlagzeilen macht, ist Lieberman gezwungen,
etwa alle paar Monate etwas zu schaffen, das Aufmerksamkeit erzeugt.
Er hat schon viele seiner Kollegen im Ausland beleidigt, von seinem
Vertreter Danny Ayalon gut unterstützt. Dieser rühmte sich gegenüber
Journalisten, er hätte den türkischen Botschafter gedemütigt, indem
er ihn auf einem niedrigen Sitz Platz nehmen ließ. Da zu jener Zeit
die türkische Armee noch der engste Partner der israelischen Armee
in der Region war, war Barak wütend.
Lieberman benötigt auch etwas, um die Aufmerksamkeit
von seiner berüchtigten Korruptions-affäre abzulenken. Seit 14
Jahren wird er über den Empfang von Millionen Dollar aus
mysteriösen Quellen im Ausland gerichtlich untersucht. Einiges von
diesem Geld ging über seine Tochter, die gerade über 20 war, zu
Strohgesellschaften im Ausland. Der Staatsanwalt muss noch
entscheiden, ob er unter öffentliche Anklage gestellt werden soll,
was ihn zwingen würde, sein Amt aufzugeben.
Jetzt hat Lieberman wieder Unfug gestiftet.
VOR ZWEI Wochen wunderten sich Netanjahu und Barak,
in den Zeitungen zu lesen, dass Lieberman Briefe an die
Außenminister des sog. Quartetts geschrieben habe – die USA, die
EU, die UN und Russland – die den nicht-existierenden
„Friedensprozess“ überwachen.
In dieser Botschaft verlangte Lieberman, dass die
vier den Präsidenten der Palästinensischen Autorität Mahmoud Abbas
entlassen und zu sofortigen Wahlen in der Westbank aufrufen
sollten.
Der Schwachsinn dieser Botschaft ist verrückt, selbst
nach Liebermans Standard.
Zunächst mal hat das Quartett absolut keine
Autorität, irgend jemanden in Palästina zu entlassen, auch Israel
nicht. Noch kann es irgendwo zu Wahlen aufrufen.
Es stimmt, die palästinensischen Wahlen sind längst
fällig. Sie hätten im Januar 2010 stattfinden sollen. Hamas hatte
schon verkündet, dass sie nicht daran teilnehmen werde, also würden
sie nur in der Westbank gehalten. Das würde die Spaltung zwischen
der PLO und der Hamas endgültig gemacht haben – eine Spaltung, die
kein Palästinenser auf beiden Seiten zu verschlimmern wünscht.
Zweitens: wenn die Hamas teilnehmen würde, wäre es
denkbar, dass der nächste palästinensische Präsident Khalid Meshal
wäre, der Mann, den Israel in Amman zu ermorden versuchte. Mit der
Muslimischen Bruderschaft, Hamas’ Mutterorganisation, jetzt in
Ägypten sicher an der Macht, wären die Chancen von Hamas bei
demokratischen Wahlen wahrscheinlich sogar noch größer als das
letzte Mal, als sie mit Leichtigkeit gewannen.
Drittens und am wichtigsten: Mahmoud Abbas ist bei
weitem der friedensorientierteste palästinensische Führer. Und das
ist der springende Punkt.
LIEBERMANN GRÜNDET seine Forderungen auf die
Behauptung, Abbas sei das Haupthindernis für den Frieden – eine
Behauptung, die nur wenige Experten auf der Welt teilen.
Liebermans wirklicher Grund für seine Initiative mag genau das
Gegenteil sein: Abbas Haltung bringt Israel in die unbequeme Lage,
der Friedenszerstörer zu sein.
Abbas Bedingungen für den Anfang von
Friedensverhandlungen sind wohl bekannt. Israel muss alle
Siedlungsaktivitäten stoppen. Die Welt ist im Großen und Ganzen
damit einverstanden.
Abbas Bedingungen für Frieden sind auch bestens
bekannt. Sie wurden vor langer Zeit von Yasser Arafat formuliert:
ein Staat Palästina neben Israel, mit Ostjerusalem als seiner
Hauptstadt und die Rückkehr zur Grünen Grenzlinie (mit
unwesentlichen und einander abgestimmtem Austausch von Land); für
das Flüchtlingsproblem eine „vereinbarte“ Lösung, was die
symbolische Rückkehr einer kleinen Anzahl Flüchtlinge bedeutet. Die
Welt ist auch damit im Großen und Ganzen einverstanden.
Wenn Israel Frieden mit den Palästinensern wollte,
könnte es nächste Woche Frieden haben, dem in der übernächsten
Woche Frieden mit der ganzen arabischen Welt folgen würde – unter
den Bedingungen, die die Arabische Friedensinitiative festgesetzt
hatte, die praktisch identisch mit den palästinensischen Bedingungen
sind.
Dies ist natürlich die Quelle von Liebermans Hass auf
Abbas. Wie Netanjahu denkt er nicht im Traum daran, „Großisrael“
aufzugeben. Deshalb bevorzugt er sehr eine palästinensische Führung,
die aus Hamasleuten zusammengesetzt ist - das heißt so lange, wie
Hamas den Frieden zurückweist.
IN DER Praxis arbeitet die von Präsident Abbas
geführte palästinensische Behörde aktiv mit Israelis auf dem einen
Gebiet zusammen, das für Israelis wirklich wichtig ist: die
Sicherheit.
Die meisten Israelis glauben, dass palästinensische
Gewalt (anderweitig als „Terrorismus“ bekannt) durch das
„Sicherheitshindernis“ gestoppt wurde: durch die Kombination von
Mauern und Zäunen, die tief in die besetzten palästinensischen
Gebiete hineinreichen. Doch eine Mauer kann überklettert, Tunnel
können unten durchgegraben werden und Militante können durch die
Checkpoints geschmuggelt werden. Wie eine amerikanische Politikerin
über die Mauer zwischen den USA und Mexiko sagte: „Zeige mir eine 15
m hohe Mauer, und ich zeige dir eine 16m hohe Leiter.“ Ich habe
palästinensische Jungen sogar ohne Leiter an der Mauer hochklettern
gesehen.
Der wirkliche Grund für das Ende der Gewaltakte, die
Israel von der Westbank bedrohten, ist die intime tägliche
Zusammenarbeit der palästinensischen Sicherheitskräfte mit den
israelischen Sicherheitskräften. Auf Befehl von Abbas verfolgt die
palästinensische Polizei, die tatsächlich eine Militärkraft ist und
von US-Offizieren ausgebildet wurde, gnadenlos die Militanten von
Hamas und anderen palästinensischen Fraktionen, die den „bewaffneten
Kampf“ vorziehen.
Indem Abbas diesem Kurs folgt, nimmt er sehr große
Risiken in Kauf. Hamas und andere klagen ihn der Kollaboration mit
der Besatzungsmacht an und vergleichen die Palästinensische
Autorität mit dem Vichy-Regime in Frankreich, das mit der
Nazi-Besatzung zusammenarbeitete. (Die Polizei des Marschalls Henri
Pétain, eines Helden des 1.Weltkrieges, arbeitete im 2. Weltkrieg
eng mit den Deutschen zusammen, u.a. half sie ihnen, die Juden
zusammenzutreiben und sie nach Auschwitz zu schicken.)
Abbas ist zu der Schlussfolgerung gekommen, dass der
von den Palästinensern geführte „bewaffnete Kampf“ nirgendwohin
führt. Er hoffte, dass die Abwesenheit von Gewaltakten der
Bevölkerung der Westbank erlauben würde, ihre eigene zivile
Gesellschaft aufzubauen, die palästinensischen Institutionen zu
stärken, den erbarmungswürdigen Lebensstandard zu verbessern (weit
weniger als ein Zehntel des israelischen) und die Palästinensische
Autorität mit ausländischer Hilfe und Legitimität abzusichern. Unter
der Verwaltung seines fähigen Ministerpräsidenten Salam Fayyad
funktioniert dies auch - vorläufig.
Das Risiko ist tatsächlich groß. Die Wirtschaft der
Westbank – so wie sie ist – mag jederzeit ins Schwimmen geraten. Die
schleichende Vergrößerung der Siedlungen erreicht einen Punkt, an
dem jedes palästinensische Dorf von ihnen umgeben ist und das Leben
der Palästinenser unerträglich macht – besonders seit junge Siedler
fast täglich terroristische Handlungen ausführen (s o von
israelischen Sicherheitsleuten benannt), physisch die Dorfbewohner
angreifen, Moscheen, Häuser und Autos anzünden und Olivenbäume
fällen.
Eines Tages wird der Geist des arabischen Frühlings
die Westbank erreichen, und nicht einmal die PLO-Führung wird in
der Lage sein, die Welle aufzuhalten.
Nahe der Verzweiflung sucht Abbas nach einer Frist,
indem er die UN um Anerkennung aufruft. Der Antrag auf Anerkennung
Palästinas als ein Mitgliedstaat wird vom US-Veto im Sicherheitsrat
blockiert. Jetzt erwägt Abbas die Vollversammlung, in der es kein
Veto gibt, zu bitten, Palästina als Mitglied, „das kein Staat ist“,
aufzunehmen. Lieberman nannte dies „politischen Terrorismus“.
Die israelische Regierung hat die palästinensische
Anerkennung als „einseitig“ verdammt. (Als ob die Anerkennung
Israels 1948 als Mitgliedstaat in der UN „vielseitig“ gewesen wäre.)
Doch sei es wie es sei, angesichts der verheerenden israelischen und
amerikanischen Drohungen muss Abbas vielleicht diese Bemühung auch
fallen lassen, dass seine Position nicht noch mehr gefährdet wird.
In dieser Woche ist Abbas vom iranischen Regime
eingeladen worden, bei der großen Versammlung der sog. Blockfreien
Staaten in Teheran teilzunehmen. Der palästinensische Führer musste
abwägen, ob er die Einladung annehmen und so einen internationalen
Status gewinnen oder ob er sie aus Angst vor amerikanischen
Repressalien zurückweisen solle. Er entschied teilzunehmen.
INZWISCHEN HAT Liebermann schon sein Ziel erreicht:
ein paar Tage lang war er in den Nachrichten und sein Gesicht mit
seinen bekannten verschlagenen Augen und seinem unheimlichen Lächeln
war auf allen Fernsehschirmen zu sehen.
Jetzt wird er wieder für ein paar Wochen oder Monate
von der Bildfläche verschwinden, bis er eine neue Art und Weise
gefunden hat, wie man Unfug anstiften könne.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)