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Die Blockbrecher
Uri Avnery, 21.Januar 2012
“ISRAEL HAT keine Außenpolitik, es hat nur eine
Innenpolitik,” bemerkte Henry Kissinger einmal.
Dies hat vielleicht für jedes Land mehr oder
weniger gegolten– seitdem es die Demokratie gibt. Doch in Israel
scheint dies noch mehr zuzutreffen. (Ironischerweise könnte fast
gesagt werden, dass die US keine Außenpolitik hat, nur eine
israelische Innenpolitik .)
Um unsere Außenpolitik zu verstehen, müssen wir
in den Spiegel schauen. Wer sind wir?
Wie sieht unsere Gesellschaft aus?
IN EINEM klassischen Sketch, der jedem Israeli
bekannt ist, standen zwei Araber am Ufer des Mittelmeers und sahen
ein Boot voll russisch-jüdischer Pioniere auf sie zurudern. „Mag
euer Haus zerstört werden!“ fluchten sie.
Als Nächstes standen wieder zwei Gestalten,
dieses Mal russisch-jüdische Pioniere, an derselben Stelle und
verfluchten auf russisch ein Boot voll jemenitischer Immigranten.
Als Nächstes standen zwei Jemeniten dort und
verfluchten die deutsch-jüdischen Flüchtlinge, die vor den Nazis
geflohen waren. Dann verfluchten die deutschen Juden die Ankunft
der Marokkaner. Das war dann nach dem ersten Erscheinen die letzte
Szene. Heute kann man noch zwei Marokkaner hinzufügen, die die
Immigranten aus der Sowjetrussland verfluchten, dann verfluchten die
Russen die letzten Ankömmlinge: die äthiopischen Juden.
Dies mag auch für jedes andere Einwandererland
gelten, für die USA bis Australien. Jede Einwanderungswelle wird mit
Verachtung, ja, sogar mit offener Feindseligkeit von denen, die
früher kamen, begrüßt. Als ich in den frühen 30er-Jahren noch ein
Kind war, hörte ich häufig, wie Leute meinen Eltern nachriefen:
„Geht zurück zu Hitler!“
Doch immer herrschte der Mythos vom
„Schmelztiegel“. Alle Immigranten würden in den selben Topf geworfen
und von ihren „fremden“ Zügen gereinigt und tauchten als
einheitliche neue Nation wieder auf – ohne die Spuren fremden
Ursprungs.
DIESER MYTHOS starb vor einigen Jahrzehnten.
Israel ist jetzt eine Art Föderation verschieden großer
demographisch-kultureller Blöcke, die unser soziales und politisches
Leben bestimmen.
Wer sind sie? Es gibt (1.) die alten Ashkenasim
(Juden europäischen Ursprungs); (2.) die orientalischen (oder
sephardischen) Juden; (3.) die religiösen ( teils ashkenasischen,
teils sephardischen) Juden; (4.) die russischen Emigranten aus all
den Ländern der früheren Sowjetunion; und (5.) die
palästinensischen arabischen Bürger, die schon immer hier waren..
Dies ist natürlich eine schematische Darstellung.
Keiner der Blöcke ist völlig homogen. Jeder Block besteht aus
mehreren Unterblöcken, einige Blöcke überlappen sich. Dann gibt es
Mischehen. Aber im Großen und Ganzen stimmt das Bild. Das Geschlecht
spielt bei dieser Teilung keine Rolle.
Die politische Szene reflektiert fast genau diese
Einteilung. Die Laborpartei war auf ihrem Höhepunkt das
Hauptinstrument der ashkenasischen Macht. Ihre Reste zusammen mit
Kadima und Meretz sind noch immer Ashkenasim. Avigdor Liebermans
Israel-Beitenu-Partei besteht hauptsächlich aus Russen. Es gibt drei
oder vier religiöse Parteien. Dann gibt es zwei exklusiv arabische
Parteien und die kommunistische Partei, die auch hauptsächlich
arabisch ist. Die Likudvertreter vertreten den Hauptteil der
Orientalen, auch wenn fast alle seine Führer Ashkenasim sind.
Die Beziehungen zwischen den Blöcken sind oft
strapaziös. Gerade jetzt ist das Land in einem Aufruhr, weil in
Kiryat Malachi eine südliche Stadt mit hauptsächlich orientalischen
Einwohnern, die Hausbesitzer eine Verpflichtung unterschrieben
haben, nach der sie keine Wohnung an Äthiopier verkaufen dürfen,
während der Rabbiner von Safed, einer nördlichen Stadt von
hauptsächlich orthodoxen Juden, seiner Gemeinde verboten hat,
Wohnungen an Araber zu vermieten.
Aber abgesehen von der Kluft zwischen Juden und
Arabern, besteht das Hauptproblem aus dem Groll zwischen den
Orientalen, den Russen und den Religiösen gegen das, was sie die „ashkenasische-Elite“
nennen.
DA SIE die ersten waren, die ankamen, lange vor
der Errichtung des Staates, kontrollierten die Ashkenasim den
größten Teil des Machtzentrums – den sozialen, den wirtschaftlichen
und den kulturellen Teil. Im Allgemeinen gehören sie zu dem
wohlhabenderen Teil der Gesellschaft, während die Orientalen, die
Orthodoxen, die Russen und die Araber gewöhnlich zur unteren Schicht
gehören.
Die Orientalen hegen einen tiefen Groll gegen
die Ashkenazim. Sie glauben – nicht ganz zu Unrecht – dass sie vom
ersten Tag an in diesem Land gedemütigt und diskriminiert worden
seien und noch werden, obwohl schon eine ganze Anzahl von ihnen die
Spitze wirtschaftlicher und politischer Positionen erreicht hat.
Neulich verursachte ein Topmanager von einem der führendsten
Finanzinstitute einen Skandal, als er die „Weißen“ (d.h. die
Ashkenazim) anklagte, alle Banken, Gerichte und die Medien zu
beherrschen. Er wurde prompt entlassen, was einen neuen Skandal
auslöste.
Der Likud kam 1977 an die Macht, indem er die
Laborpartei entthronte. Mit kurzen Unterbrechungen ist er seitdem an
der Macht. Doch glauben die meisten Likudmitglieder
noch immer, dass die Ashkenasim Israel
beherrschen und sie weit hinter sich ließen. Jetzt, 34 Jahre später,
wird die dunkle Woge der antidemokratischen neuen Gesetze von Likud-
Vertretern durch den Slogan gerechtfertigt: „Wir müssen anfangen zu
regieren!“
Die Szene erinnert mich an ein Baugelände, das
von einem Holzzaun umgeben ist. Der schlaue Bauherr ließ ein paar
Lücken im Zaun, so dass neugierige Passanten durchschauen können. In
unserer Gesellschaft fühlen sich alle anderen Blöcke wie Passanten,
die voller Neid durch die Lücken auf die ashkenasische„Elite“
schauen: den Obersten Gerichtshof, die Medien, die
Menschenrechtsorganisationen und besonders das Friedenslager. Diese
werden alle „Linke“ genannt, ein Wort, das seltsamer Weise mit der
„Elite“ identifiziert wird.
WIE IST das Wort „Frieden“ zu einem Synonym der
herrschenden und vorherrschenden Ashkenasim geworden?
Das ist eine der größten Tragödien in unserem
Land geworden.
Juden haben viele Jahrhunderte in der
muslimischen Welt gelebt. Sie machten dort nicht die schrecklichen
Erfahrungen des christlichen Antisemitismus’ in Europa durch.
Muslimisch-jüdische Feindseligkeit begann erst vor einem Jahrhundert
mit der Ankunft des Zionismus – aus offensichtlichen Gründen.
Als die Juden aus muslimischen Ländern begannen,
en masse in Israel einzuwandern, waren sie durchdrungen von
der arabischen Kultur. Aber hier wurden sie von einer Gesellschaft
empfangen, die alles Arabische total verachtete. Ihre arabische
Kultur war angeblich „primitiv“, während wirkliche Kultur europäisch
war. Außerdem wurden sie mit den „mörderischen“ Muslimen
identifiziert. Deshalb wurden die Immigranten gezwungen, ihre eigene
Kultur und ihre eigenen Traditionen, ihren Akzent, ihre
Erinnerungen, ihre Musik über Bord zu werfen. Um zu zeigen, dass sie
durch und durch israelisch geworden waren, mussten sie auch die
Araber hassen.
Es ist natürlich ein weltweites Phänomen, dass in
multinationalen Länden die unterdrückteste Klasse der dominanten
Nation auch der radikalste nationalistischste Feind der Minderheiten
ist. Zur oberen Bevölkerungsschicht zu gehören, ist oft die einzige
Quelle des Stolzes, die ihnen gelassen wurde. Die Folge davon ist
oft der unversöhnliche Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit.
Dies ist einer der Gründe, warum die Orientalen
vom Likud angezogen wurden, für den die Ablehnung des Friedens und
der Hass auf die Araber oberste Tugenden sind. Nachdem er auch Jahre
lang in der Opposition gewesen war, wurde der Likud als der
angesehen, der die „Außenstehenden“ vertrat und die bekämpfte, die
„drinnen“ waren. Dies ist noch immer der Fall.
Der Fall der „Russen“ ist anders. Sie wuchsen in
einer Gesellschaft auf, die die Demokratie verachtete und starke
Führer bewunderte. Die „Weißen“, Russen und Ukrainer, verachteten
und hassten die „dunklen“ Völker des Südens – die Armenier,
Georgier, Tataren, Usbeken und ähnliche. ( Ich erfand einmal die
Formel: Bolschewismus - Marxismus = Faschismus.)
Als die russischen Juden sich uns anschlossen,
brachten sie einen starken Nationalismus mit sich, ein völliges
Desinteresse für Demokratie und einen automatischen Hass gegen die
Araber. Sie können nicht verstehen, warum wir ihnen überhaupt zu
bleiben erlauben. Als in dieser Woche ein weibliches Mitglied der
Knesset aus Petersburg ein Glas Wasser auf den Kopf eines arabischen
Mitglieds von der Laborpartei schüttete, war niemand sehr
überrascht. (Irgend jemand witzelte: „Ein guter Araber ist ein
nasser Araber“) Für Liebermans Anhänger ist „Frieden“ ein
schmutziges Wort, ebenso das Wort „Demokratie“.
Für religiöse Leute aller Schattierungen – von
den Ultra-Orthodoxen bis zu den national-religiösen Siedlern gibt es
da überhaupt kein Problem. Von der Wiege an lernen sie, dass Juden
das auserwählte Volk sind; dass der Allmächtige uns persönlich
dieses Land versprochen hat; dass die Gojim – einschließlich den
Arabern - nur minderwertige Menschen seien.
Es mag ganz zu Recht gesagt werden, dass ich hier
verallgemeinere. Das tue ich, um die Sache zu vereinfachen. Es gibt
tatsächlich Orientalen, besonders in der jungen Generation, die von
dem Ultra-Nationalismus des Likud abgestoßen werden und noch mehr
vom Neo-Liberalismus des Binjamin Netanjahu (Shimon Peres nannte ihn
mal „schweinischen Kapitalismus“), da dieser im direkten Widerspruch
zu den Grundinteressen ihrer Gemeinschaft steht. Es gibt auch eine
Menge anständiger, liberaler, friedliebender religiöser Leute (Yeshayahu
Leibowitz kommt mir in den Sinn). Viele Russen verlassen nach und
nach ihr selbst geschaffenes Ghetto. Aber dies sind kleine
Minderheiten in ihren Gemeinden. Der Großteil dieser drei Blöcke –
orientalisch, russisch und religiös – sind in ihrer Gegnerschaft zum
Frieden vereinigt und bestenfalls gleichgültig gegenüber der
Demokratie.
All diese zusammen bilden den rechten Flügel,
eine Anti-Friedens-Koalition, die jetzt Israel regiert. Das Problem
ist nicht nur eine Frage der Politik. Es liegt viel tiefer und ist
entmutigender.
EINIGE LEUTE klagen uns, die demokratische
Friedenskoalition, an, das Problem nicht früh genug erkannt und
nicht genug getan zu haben, um Mitglieder der verschiedenen Blöcke
zu den Idealen von Frieden und Demokratie herangezogen zu haben.
Ich muss zugeben, dass dem so ist und dass ich
Anteil an der Schuld habe, obwohl ich darauf hinweisen möchte, dass
ich von Anfang an versuchte, die Verbindung herzustellen. Ich bat
meine Freunde, wir müssten uns besonders um die orientalische
Gemeinschaft bemühen und sie an das ruhmreiche muslimisch-jüdische
„goldene Zeitalter“ in Spanien erinnern und auch an den sehr großen
gegenseitigen Einfluss der jüdischen und muslimischen
Wissenschaftler, Dichter und religiösen Denker in allen
Jahrhunderten.
Vor ein paar Tagen wurde ich eingeladen, vor dem
Lehrkörper und den Studenten der Ben-Gurion-Universität in Beer
Sheva einen Vortrag zu halten. Ich beschrieb die Situation mehr oder
weniger in derselben Weise. Die erste Frage aus der großen
Zuhörerschaft, die aus Juden - Orientalen und Ashkenasim - und
Arabern, besonders aus Beduinen, bestand: „Welche Hoffnung gibt es
noch? Wie können die Friedenskräfte gewinnen?“
Ich sagte ihnen, ich setze mein Vertrauen in die
neue Generation. Die große soziale Protestbewegung im letzten
Sommer, die ganz plötzlich ausbrach und Hunderttausende erfasste,
zeigte, dass hier so etwas geschehen kann. Die Bewegung vereinte
Ashkenasim und Orientalen. Überall im Lande wuchsen Zeltstädte auf,
in Tel Aviv und in Beer Sheva.
Unser erster Job wäre, die Barrieren zwischen den
Blöcken zu brechen, die Realität zu ändern, eine neue israelische
Gesellschaft zu schaffen. Wir benötigen Blockbrecher.
Es stimmt, dies ist ein sehr, sehr schwerer Job.
Aber ich bin davon überzeugt, er könnte getan werden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs;
vom Verfasser autorisiert)
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