Am
vergangenen Dienstag veranstaltete Gush Shalom eine öffentliche
Debatte zwischen Uri Avnery und Ilan Pappe zu dem Thema „zwei
Staaten oder ein Staat“. Die Veranstaltung fand in einer Halle
in Tel Aviv statt und stieß auf großes Interesse. Der
vollständige Text der zweistündigen Debatte wird so bald als
möglich veröffentlicht werden. Nachfolgend der Text von Uri
Avnerys einleitenden Bemerkungen.
Uri Avnery
Ein Staat – Lösung oder Utopie
Dies ist kein Duell zweier Gladiatoren in einer römischen Arena
um Leben und Tod.
Ilan Pappe und ich kämpfen gemeinsam gegen die Besatzung. Ich
schätze seinen Mut. Wir stehen Seite an Seite in einem
gemeinsamen Kampf, aber wir verfolgen scharf gegensätzliche
Ziele.
WORÜBER geht es bei der Meinungsverschiedenheit ?
Wir sind nicht unterschiedlicher Meinung über die Vergangenheit.
Wir stimmen darin überein, dass der Zionismus historisches
vollbracht hat und den Staat Israel schuf, aber auch eine
historische Ungerechtigkeit am palästinensischen Volk beging.
Die Besatzung ist abscheulich, , und sie muss beendet werden.
Keine Debatte darüber!
Vielleicht haben wir auch keine Meinungsverschiedenheit über die
ferne Zukunft. Darüber, was in 100 Jahren geschehen soll. Das
werden wir später an diesem Abend noch ansprechen.
Aber wir haben eine scharfe Meinungsverschiedenheit bezüglich
der absehbaren Zukunft – die Lösung des blutigen Konflikts
während der nächsten 20, 30, 50 Jahre.
Dieses ist keine theoretische Debatte. Wir können nicht sagen,
wie der hebräische Ausdruck lautet: „Möge jeder in seinem
eigenen Glauben leben“, und Friede sei mit der Friedensbewegung.
Zwischen diesen beiden Alternativen kann es keinen Kompromiss
geben – wir müssen entscheiden, wir haben zu wählen, weil sie
ganz unterschiedliche Strategien und Taktiken diktieren – nicht
morgen sondern heute, hier und jetzt. Der Unterschied ist
schicksalshaft.
Zum Beispiel: Sollten wir unsere Anstrengungen auf den Kampf um
die öffentliche Meinung in Israel konzentrieren, oder sollten
wir im Kampf in Israel aufgeben und uns auf den Kampf im Ausland
konzentrieren.
ICH BIN ein Israeli, ich stehe mit beiden Füßen auf dem Grund
der israelischen Wirklichkeit. Ich möchte diese Wirklichkeit
radikal verändern. Aber ich will, dass der Staat Israel besteht.
Wer immer sich der Existenz Israels als Staat entgegenstellte,
die unsere israelische Identität ausdrückt, nähme sich selbst
jede Möglichkeit , hier zu agieren. Alle seine Aktivitäten in
Israel wären von vorne herein zum Fehlschlag verdammt.
Man kann verzweifeln und sagen: Da kann man nichts machen. Alles
ist verloren. Wir sind über den ‚Punkt ohne Wiederkehr’
hinausgegangen. Die Situation ist „unumkehrbar“. Wir können
nichts mehr tun in diesem Land.
Jedermann kann zuweilen für einen Moment verzweifeln. Vielleicht
verzweifeln wir alle hie und da. Aber die Verzweiflung sollte
nicht zur Ideologie erhoben werden. Verzweiflung zerstört die
Fähigkeit zu agieren.
Ich sage: Es gibt überhaupt keinen Grund zu verzweifeln. Nichts
ist verloren. Nichts im Leben ist „unumkehrbar“, außer das Leben
selbst. Etwas wie einen „Punkt ohne Wiederkehr“ gibt es nicht.
Ich bin 83 Jahre alt. Ich habe im Laufe meines Lebens den
Aufstieg der Nazis gesehen und ihren Fall. Ich habe die
Sowjetunion auf ihrem Höhepunkt beobachtet und ihren
Zusammenbruch verfolgt. Einen Tag vor dem Fall der Berliner
Mauer hat kein Deutscher geglaubt, dass er diesen Augenblick
noch erleben würde. Die gescheitesten Experten haben das nicht
vorausgesehen. Denn in der Geschichte gibt es unterirdische
Strömungen, die niemand so wahrnimmt wie sie tatsächlich
fließen. Deswegen bestätigen sich theoretische Analysen so
selten.
Nichts ist verloren, solange die Kämpfer nicht aufgeben und
sagen, alles ist verloren. Aufgeben ist keine Lösung. Und es ist
auch nicht moralisch.
In unserer Situation hat ein Mensch, der verzweifelt, drei
Möglichkeiten: 1. Emigration, 2. innere Emigration, das heißt,
zu Hause bleiben und nichts tun, oder 3. entweichen in die Welt
der idealen Lösungen in den Tagen des Messias.
Die dritte Lösung ist die gefährlichste, denn die Situation ist
kritisch, vor allem für die Palästinenser. Wir haben keine Zeit
für eine Lösung in 100 Jahren. Wir brauchen dringend eine
Lösung, eine Lösung, die innerhalb weniger Jahre realisiert
werden kann.
Man hat gesagt, der Avnery ist alt, er hält fest an alten Ideen
, er ist nicht fähig, eine neue Idee aufzunehmen. Und ich frage
mich: eine neue Idee ?
Die Idee „Eines Gemeinsamen Staates“ war alt, als ich noch ein
Junge war. Sie florierte in den 30erjahren des vergangenen
Jahrhunderts. Aber sie schlug fehl. Die Idee der
Zwei-Staaten-Lösung wuchs auf dem Boden der neuen Realität.
Wenn man mir erlaubt, eine persönliche Bemerkung zu machen: Ich
bin kein Historiker. Ich habe diese Ereignisse gelebt. Ich bin
Augenzeuge, Ohrenzeuge, ein Zeuge, der es am eigenen Leibe
mitbekommen hat. Als Soldat im 1948-Krieg, 40 Jahre lang als der
Herausgeber eines Nachrichtenmagazins, 10 Jahre lang als
Angehöriger der Knesset, als Aktivist in Gush Shalom – befinde
ich mich inmitten des Geschehens und sehe es aus verschiedenen
Blickwinkeln. Mein Finger ist am Puls der Öffentlichkeit.
ES GIBT drei Fragen, die Idee von Einem Staat betreffend:
A. Ist dieser überhaupt möglich ?
B. Und wenn er möglich ist – ist er gut ?
C. Wird er einen gerechten Frieden bringen ?
BEZÜGLICH der ersten Frage ist meine Antwort eindeutig: Nein, er
ist nicht möglich.
Jeder, der mit der israelisch-jüdischen Öffentlichkeit irgendwie
zusammenhängt, weiß, dass ihr innerster Wunsch die Existenz
eines Staates mit einer jüdischen Mehrheit ist. Eines Staates,
in dem die Juden Meister ihres Schicksals sind. Dieser Wunsch
übertrumpft alle anderen Ziele, sogar den Wunsch nach einem
Staat im ganzen Eretz Israel.
Man kann reden über den „Einen Staat“ vom Mittelmeer bis zum
Jordan, einen bi-nationalen oder einen nicht nationalen Staat –
in der Praxis bedeutet dieses die Demontierung des Staates
Israel. Die Negierung des ganzen Aufbaus einer Nation, der durch
fünf Generationen geleistet wurde. Das muss klar gesagt werden,
ohne Gemauschel und ohne Zweideutigkeiten, und das ist was die
Öffentlichkeit – die Juden und gewiss auch die Palästinenser –
ganz richtig denkt, dass es so ist. Wovon wir sprechen, ist die
Demontage des Staates Israel.
Wir wollen viele Dinge in diesem Staat verändern, seine
historischen Narrative, seine akzeptierte Definition als ein
„jüdischer und demokratischer“ Staat. Wir wollen die Besatzung
draußen und die Diskriminierung drinnen beenden. Wir wollen eine
neue Basis für die Beziehung zwischen dem Staat und seinen
arabisch-palästinensischen Bürgern herstellen. Aber es ist
unmöglich, das Grundethos der überwiegenden Mehrheit der
Staatsbürger zu ignorieren.
99,99 Prozent der jüdischen Bevölkerung wollen den Staat nicht
demontieren. Und das ist ganz natürlich.
Es ist eine Illusion, dass das durch Druck von außen geändert
werden kann. Will dieser Druck von außen dieses Volk zwingen,
seinen Staat aufzugeben ?
Ich schlage Ihnen einen einfachen Test vor: Denken Sie einen
Augenblick an Ihre Nachbarn zu Hause, in der Arbeit oder in der
Universität. Würde irgendjemand von diesen seinen Staat
aufgeben, weil jemand im Ausland das von ihm wünscht ? Wegen des
Drucks aus Europa ?
Sogar wegen des Drucks vom Weißen Haus ? Nein, nur eine
vernichtende militärische Niederlage auf dem Schlachtfeld wird
die Israelis zwingen, ihren Staat aufzugeben. Und wenn das der
Fall ist, wäre unsere Debatte sowieso irrelevant.
Die Mehrheit des palästinensischen Volkes will auch einen
eigenen Staat. Er wird gebraucht, um ihre grundlegensden
Bestrebungen zufrieden zu stellen, ihren Nationalstolz wieder
herzustellen und ihr Trauma zu heilen. Das wollen auch die
Führer der Hamas, mit denen wir gesprochen haben. Jeder, der
anders denkt, leidet unter einer Illusion. Es gibt
Palästinenser, die von „Einem Staat“ reden, aber für die meisten
darunter ist das nur ein Codewort für die Demontage des Staates
Israel. Auch sie wissen, dass das utopisch ist.
Es gibt auch Palästinenser, die sich vormachen, sie könnten die
Israelis so ängstigen, wenn sie über „Einen Staat“ reden, dass
diese der Errichtung eines palästinensischen Staates neben
Israel zustimmen. Aber das Ergebnis dieser Methode nach
Machiavelli führt genau zum Gegenteil: Sie ängstigt die Israelis
und treibt sie in die Arme der Rechten. Es weckt den
fürchterlichen Hund der ethnischen Säuberung, der in der Ecke
schläft. Diesen Hund darf man nicht einen Augenblick vergessen !
AUF DER GANZEN WELT geht die Tendenz in die andere Richtung:
Nicht die Schaffung neuer Vielvölkerstaaten sondern im Gegenteil
das Aufbrechen der Staaten in nationale Komponenten. In
Schottland hat in dieser Woche eine Partei den Sieg
davongetragen, die sich von England abspalten möchte. Die
frankophone Minorität in Kanada balanciert immer an der Grenze
zur Sezession. Kosovo ist dabei, die Unabhängigkeit von Serbien
zu erlangen. Die Sowjetunion ist zerbrochen in ihre Teile,
Tschetschenien möchte sich von Russland trennen, Jugoslawien ist
auseinandergebrochen, Zypern ist auseinandergebrochen, die
Basken wollen unabhängig werden, Korsen wollen ihre
Unabhängigkeit, in Sri Lanka wütet der Bürgerkrieg, ebenso wie
im Sudan. In Indonesien lockern sich die Verbindungsnähte an
einem Dutzend verschiedener Orte. Belgien hat endlose Probleme.
Auf der ganzen Welt gibt es kein Beispiel, wo zwei verschiedene
Nationen sich aus ihrem eigenen freien Willen heraus
entscheiden, in einem Staat zusammen zu leben. Es gibt kein
Beispiel – außer der Schweiz – für einen bi-nationalen oder
Vielvölker- Staat, der wirklich funktioniert. (Und die Schweiz,
die in einem einmaligen Prozess über die Jahrhunderte
zusammengewachsen ist, ist die sprichwörtliche Ausnahme von der
Regel.)
Zu hoffen, dass nach 120 Jahren Konflikt, in den inzwischen eine
fünfte Generation hinein geboren wurde, ein Übergang vom totalen
Krieg zum totalen Frieden in einem gemeinsamen Staat unter
Aufgabe aller Sehnsüchte nach Unabhängigkeit möglich sein
könnte, ist eine vollständige Illusion.
WIE SOLL diese Idee realisiert werden? Die Befürworter des
„Einen Staates“ erklären dies niemals im Detail.
Anscheinend soll es so vor sich gehen: Die Palästinenser geben
ihren Unabhängigkeits-Kampf auf, verzichten auf alle Bemühungen
nach einem eigenen Nationalstaat. Sie werden verkünden, dass sie
in einem gemeinsamen Staat mit den Israelis leben wollen. Nach
der Errichtung dieses Staates werden sie um ihre Bürgerrechte zu
kämpfen haben. Menschen guten Willens rund um die Erde werden
ihren Kampf unterstützen, wie sie es einst in Südafrika getan
haben. Sie werden einen Boykott auferlegen. Sie werden den Staat
isolieren. Millionen Flüchtlinge werden in das Land
zurückkehren. Bis das Blatt sich wendet und eine
palästinensische Mehrheit die Regierung stellt. Wie lange wird
das dauern? Zwei Generationen ? Drei Generationen ? Vier
Generationen ?
Kann sich irgendjemand vorstellen, wie solch ein Staat in der
Praxis funktionieren soll ? Ein Mann in Bil'in zahlt die
gleichen Steuern wie eienr in Kfar Sava? Bürger aus Jenin und
Bürger aus Netanya setzen gemeinsam eine Verfassung auf? Die
Einwohner aus Hebron und die Siedler dienen in einer Armee,
Seite an Seite, und sind den selben Gesetzen unterworfen?
Ist das realistisch ?
Manche sagen: Aber diese Situation gibt es ja schon. Israel
beherrscht bereits einen Staat vom Meer bis zum Jordan- Fluss.
Man muss nur das Regime ändern. Dazu erstmal: Nichts dergleichen
gibt es. Es gibt einen Staat, der Land besetzt, und es gibt
besetztes Gebiet.
Es ist viel, viel leichter, Siedlungen zu demontieren als sechs
Millionen jüdische Israelis zu zwingen, den Staat zu
demontieren.
NEIN, DER EINE STAAT wird nicht entstehen. Aber fragen wir uns
selbst – wenn er entstünde, wäre das gut ?
Meine Antwort ist: Bestimmt nicht.
Lassen Sie uns diesen Staat ausmalen, nicht als eine imaginäre
Schöpfung, als eine perfekte Utopie, sondern wie er Wirklichkeit
sein würde.
In diesem Staat werden die Israelis dominieren. Sie verfügen
über eine totale Überlegenheit in praktisch allen Bereichen:
Lebensqualität, militärische Macht, technologische Kapazitäten.
Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Israeli ist 25 Mal (fünfundzwanzigmal!)
höher als das eines Durchschnitts-Palästinensers. $ 20.000
gegenüber $ 800. Die Israelis werden dafür sorgen, dass die
Palästinenser für eine lange, lange Zeit Holzhauer und
Wasserschöpfer bleiben.
Es wird eine Besatzung anderer Art sein. Eine verdeckte
Besatzung. Das wird den Konflikt nicht beenden, er wird nur in
eine neue Phase treten.
WIRD DIESE Lösung einen gerechten Frieden bringen ? Kaum.
Dieser Staat wird ein Schlachtfeld sein. Jede Seite wird
versuchen, so viel Land als möglich zu ergattern und so viele
Menschen als möglich herein zu bringen. Die Juden werden mit
allen Mitteln kämpfen, um die Araber daran zu hindern, zur
Mehrheit zu werden und Macht zu gewinnen. In der Praxis wird
dieses ein Apartheidstaat sein. Wenn die Araber zur Mehrheit
werden und auf demokratischem Wege an die Regierung zu kommen
versuchen, wird ein Kampf entbrennen, der zu einem Bürgerkrieg
zu werden droht. Eine Neuauflage von 1948.
Selbst ein Verfechter der Ein-Staat-Lösung muss zugeben, dass
der Kampf einige Generationen lang weitergehen wird. Viel Blut
wird wahrscheinlich fließen, und wer weiß, was dabei heraus
kommt.
Es ist eine Utopie. Um sie zu relisieren, muss man das Volk
auswechseln, vielleicht beide Völker. Man müsste einen neuen
Menschen schaffen. Das war es, was die Kommunisten am Anfang der
Sowjetunion zu tun versuchten. Das war es, was die Gründer der
Kibbutzim zu tun versuchten. Zu unserem Leidewesen ist der
Mensch der selbe geblieben.
Gerade schöne Utopien können schlimme Konsequenzen mit sich
bringen. In der Vision vom „Wolf, der beim Lamm wohnt“ braucht
man jeden Tag ein neues Lamm.
Es gibt Leute, die zitieren das Modell Südafrika. Ein
wunderschönes und ermutigendes Beispiel. Unglücklicherweise gibt
es kaum eine Ähnlichkeit zwischen dem Problem dort und dem
Problem hier.
In Südafrika gab es keine zwei Nationen, jede mit einer
Tradition, einer Sprache und einer Religion, die mehr als
tausend Jahre zurück reicht. Weder die Weißen noch die Schwarzen
wollten einen getrennten Staat für sich, noch haben sie je in
zwei getrennten Staaten gelebt. Der eine Staat hatte schon lange
existiert, und bei dem Kampf ging es um die Macht in diesem
einen Staat.
Die Herren von Südafrika waren Rassisten, die die Nazis
bewunderten und deswegen während den Zweiten Weltkrieges
eingekerkert waren. Es war nicht schwer, diesen Staat in allen
möglichen Bereichen zu boykottieren. Israel dagegen wird von der
Welt akzeptiert als der Staat der Holocaust-Überlebenden, und
abgesehen von kleinen Gruppierungen wird niemand über Israel
Boykott verhängen. Es wird genügen, wenn die Juden an den
Nazi-Slogan erinnern, der am Anfang des Weges nach Auschwitz
stand: "Kauft nicht bei Juden".
Darüber hinaus wird ein weltweiter Boykott in den Herzen vieler
Juden in der ganzen Welt die tiefsten Ängste vor dem
Antisemitismus schüren und wird sie in die Arme der extremen
Rechten treiben.
Ein ganz anderes Ding ist ein gezielter Boykott gegen
spezifische Erscheinungen der Besatzung. Wir waren Pioniere
dieser Auffassung, als wir vor mehr als zehn Jahren zum Boykott
der Produkte der Siedlungen aufriefen und die Europäische Union
mit zogen.
Nebenbei: Experten für Südafrika erzählen mir, dass die
Auswirkungen des Boykott stark überbewertet werden. Nicht der
Boykott war der Hauptauslöser, der das Apartheidregime zu Fall
brachte, sondern die internationale Situation. Die Vereinigten
Staaten unterstützten das Regime als Bollwerk im Kampf gegen den
Kommunismus. Als die Sowjetunion zusammengebrochen war, ließen
die Amerikaner Südafrika einfach fallen.
Die Beziehungen zwischen den USA und Israel sind sehr viel
tiefer und komplexer. Es gibt hier tiefe ideologische Schichten
- ein ähnliches nationales Narrativ, die christlich evangelikale
Theologie, und anderes mehr.
DIE ZWEI-STAATEN-LÖSUNG ist die einzige praktische Lösung im
realisierbaren Bereich.
Es ist lächerlich, zu behaupten, sie wäre fehlgeschlagen. Genau
das Gegenteil passiert: auf dem wichtigsten Gebiet, dem
kollektiven Bewusstsein, gwinnt sie an Boden.
Kurz nach dem Krieg 1948, als wir die Fahne dieser Idee hissten,
waren wir eine Hand voll Leute. Man konnte uns an den Fingern
zweier Hände aufzählen. Jedermann behauptete damals, ein
palästinensisches Volk existiere gar nicht. Noch in den
sechziger Jahren lief ich in Washington herum und sprach mit
Leuten im Weißen Haus, im Außenministerium, dem National
Security Council und mit der US-Delegation an der UNO – keiner
dort wollte von solch einer Idee hören.
Jetzt gibt es einen weltweiten Konsens, dass dies die einzige
Lösung darstellt. Die USA, Russland, Europa, die öffentliche
Meinung in Israel, die öffentliche Meinung in Palästina, die
Arabische Liga. Man begreife, was das bedeutet: Die gesamte
arabische Welt befürwortet jetzt diese Lösung. Das ist für die
Zukunft von enormer Wichtigkeit.
Wie ist das geschehen? Wohl nicht, weil wir so begabt sind, die
ganze Welt zu überzeugen. Nein, die innere Logik dieser Lösung
hat die Welt erobert. Obwohl ein Teil ihrer neuen Befürworter
ihr nur ein Lippenbekenntnis ablegen. Es kann gut sein, dass
diese damit nur von ihren wirklichen Absichten ablenken wollen.
Gestalten wie Arie Sharon und Ehud Olmert treten als Befürworter
dieser Idee auf, während sie in Wirklichkeit die Aufhebung der
Besatzung verhindern wollen. Gerade das weist darauf hin, dass
auch sie begriffen haben, dass sie nicht mehr offen gegen die
Zwei-Staaten-Lösung antreten können. Wenn die ganze Welt diese
Lösung als die einzig machbare anerkannt hat – wird sie am Ende
realisiert werden.
DIE PARAMETER sind bekannt, und auch sie genießen weltweit
Zustimmung:
1. Ein palästinensischer Staat wird neben Israel entstehen.
2. Die Grenze zwischen den beiden wird auf der Grünen Linie (der
Demarkationslinie von 1967) basieren, evtl. mit
übereingekommenem Tausch gleichwertiger Gebiete.
3. Jerusalem wird Hauptstadt beider Staaten.
4. Es wird eine Übereinkunft zum Flüchtlingsproblem geben, das
heißt, in der Praxis wird eine übereingekommene Anzahl nach
Israel zurückkehren, alle anderen werden sich entweder im Staat
Palästina ansiedeln, oder sie werden in ihren jetzigen Domizilen
bleiben, wobei großzügige Entschädigung ihnen helfen wird,
willkommene Gäste zu sein. Wenn es ein Übereinkomme gibt, das
jedem Flüchtling die Möglichkeiten aufzeigt, die sich ihm
bieten, muss es ihm vorgelegt werden, wo auch immer er sich
befindet; die entgültige Entscheidung muss von ihm mitgetragen
werden.
5. Es wird eine Wirtschafts-Partnerschaft geben, die es der
palästinensischen Regierung ermöglicht, die Interesse des
palästinensischen Volkes wahrzunehmen und zu verteidigen, im
deutlichen Gegensatz zur jetzigen Situation. Die bloße Existenz
beider Staaten wird den gewaltigen Unterschied der Macht der
beiden Staaten, zumindest in bescheidenem Ausmaß, verringern.
6. In der ferneren Zukunft – eine Nahost-Union nach europäischem
Modell , die vielleicht auch die Türkei und Iran miteinschließt.
Die Hindernisse sind bekannt, und sie sind groß genug. Man kann
sie nicht mit Hilfe eines Wunder-Dopingmittels überspringen. Man
muss sich mit ihnen auseinandersetzen und sie überwinden. Bei
uns in Israel müssen wir die Befürchtungen und Ängste bekämpfen
und die Vorteile und den Gewinn hervorkehren, die uns die
Bildung eines Staates Palästina an unserer Seite bieten.
Wir müssen an der Änderung des Bewusstseins arbeiten. Einen
guten Teil des Weges haben wir schon zurückgelegt, seit den
Tagen, als die Öffentlichkeit insgesamt die bloße Existenz des
palästinensischen Volkes leugnete, die Idee von der Bildung
eines Staates Palästina, von der Teilung Jerusalems zurückwies,
Gespräche mit der PLO und Verträge mit Arafat verweigerte. Bei
all diesen Themen hat sich unsere Haltung langsam aber sicher
durchgesetzt und ist, in unterschiedlichem Maß, doch akzeptiert
worden.
Natürlich sind wir noch weit von dem entfernt was Not tut. Aber
die Richtung stimmt. – Es gibt hunderte von Meinungsumfragen,
die das beweisen.
REALE HINDERNISSE für die Zwei-Staaten-Lösung können überwunden
werden. Gegenüber den Hindernissen auf dem Weg zu "einem Staat"
sind sie verschwindend klein. Ich würde sagen 1:1000. Etwa wie
ein Boxer, der den Opponenten im Fliegengewicht nicht überwinden
kann und dann einen Gegner im Schwergewicht besiegen will. Oder
ein Leichtathlet, der im 100-Meter-Lauf versagt und sich deshalb
zum Marathon anmeldet. Oder ein Bergsteiger, der den Mont Blanc
nicht bezwingt und beschließt, den Gipfel des Mount Everest zu
stürmen.
Zweifellos gewährt die Idee vom einen Staat denen, die sie
hegen, moralische Befriedigung. Jemand hat mir gesagt: O.K., es
ist vielleicht nicht ganz realistisch, aber es ist moralisch,
und das ist der Standpunkt, auf dem ich stehen will. Ich sage:
Das ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Wenn das
Schicksal so vieler Menschen auf dem Spiel steht, ist ein
unrealistischer moralischer Standpunkt unmoralisch. Ich
wiederhole: Ein unrealistischer moralischer Standpunkt ist
unmoralisch.
Es gibt Menschen, die verzweifeln, weil es den Friedenskräften
nicht gelungen ist, die Besatzung zu beenden. Wir sind ja eine
kleine Minderheit geblieben. Die Regierung und die Medien
ignorieren uns. Stimmt. Wir sind aber auch mit verantwortlich
dafür. Wir haben nicht genügend nachgedacht, die Gründe für
dieses Scheitern nicht erforscht. Wann hat zum letzten Mal eine
gründliche Besprechung der Strategie und Taktik im Kampf für den
Frieden stattgefunden?
Es ist uns nicht gelungen, die orientalisch-jüdische Gemeinde zu
erreichen. Wir sind den russischen Neueinwanderern fremd
geblieben. Sogar mit der arabisch-palästinensischen Gemeinde in
Israel haben wir keine wirkliche Partnerschaft aufgebaut. Wir
haben noch keinen Zugang zum Herzen der allgemeinen
Öffentlichkeit gefunden. Wir haben es nicht geschafft, eine
vereinte effiziente politische Kraft auf die Beine zu stellen,
die in der Lage wäre, Einfluss auf Knesseth und Regierung
auszuüben. Wir müssen uns gründlich prüfen.
NICHT GENUG, dass die Ein-Staat-Lösung nicht umsetzbar ist. Sie
birgt auch große Gefahren.
1. Sie lenkt die Bemühungen in eine falsche Richtung. Wir können
das in der Realität schon sehen. Sie ist das Ergebnis von
Verzweiflung und wird mehr Verzweiflung mit sich bringen. Sie
bewegt Friedenskämpfer, ihren Einsatzort im Land zu verlassen,
in der Illusion, der wahre Kampf fände im Ausland statt. Das ist
Eskapismus.
2. Sie lässt uns unwiederbringlich Zeit verlieren. Jahrzehnte,
in denen den Palästinensern wie uns Schreckliches passieren
kann. Gerade wer (mit Recht!) ethnische Säuberungen befürchtet,
muss sich dieser Gefahr in ihrer Dringlichkeit bewusst sein.
3. Sie teilt das Friedens-Lager und trennt es endgültig von der
Öffentlichkeit.Damit werden die Rechten gestärkt, da die
Normalbürger mit gesundem Menschenverstand verängstigt werden
und eine annehmbare Lösung aus dem Auge verlieren.
4. Sie zieht dem Kampf gegen die Besatzung und gegen die
Siedlungen den Boden unter den Füßen weg. Wenn das ganze Land
vom Meer bis zum Jordan ein Staat wird, werden die Siedler sich
überall breit machen.
5. Sie bestärkt das Argument, es gäbe für diesen Konflikt "keine
Lösung". Wenn die Zwei-Staaten-Lösung verkehrt ist, die
Ein-Staat-Lösung sich als nicht praktikabel herausstellt, dann
haben die Rechten recht mit ihrer Behauptung: Es gibt gar keine
Lösung – eine Behauptung, mit der jedwede Bosheit, jede
Abscheulichkeit gerechtfertigt werden kann, von der unendlichen
Besatzung bis zur ethnischen Säuberung. "Keine Lösung" bedeutet:
ewige Besatzung.
Das muss klar sein: Die Besatzung wird kein Ende finden solange
es keinen Friedensvertrag gibt.
WAS DIE FERNE ZUKUNFT BETRIFFT, werden wir uns wahrscheinlich an
vielen Punkten unerwartet treffen.
Wenn wir den Punkt erreichen, der Friede zwischen zwei Staaten
heißt, wird jeder in der Lage sein, den Punkt zu wählen, den er
als nächstes erreichen will.
Einer will die Vereinigung beider Staaten in einen betreiben?
Bitte schön. Einer hält die Zwei-Staaten-Lösung für gut für alle
Zeiten? Warum nicht. Ein anderer meint, wie ich, die beiden
Staaten werden sich langsam aber sicher, in beiderseitigem
Einverständnis Schritt für Schritt, auf eine Föderation oder
Konföderation zu bewegen? Herzlich willkommen und haltet Euch
ran. (Auf unserem ersten Treffen 1982 sprach Arafat mit mir über
eine Benelux-Lösung, ähnlich der für Belgien, die Niederlande
und Luxemburg für Israel, Palästina und Jordanien, vielleicht
sogar Libanon. Er sprach darüber bis zum Ende.)
Die Erfahrung lehrt, dass der klassische Nationalstaat weiterhin
formell existiert, während in der Praxis viele seiner Funktionen
wie in der europäischen Union an über-nationale Strukturen
übertragen werden. Dabei lebt jeder unter seinem Dach , jeder
unter seiner Flagge.
(Übrigens, als zum ersten Mal von der Vereinigung Europas die
Rede war, wollten viele die Nationalstaaten auflösen und die
Vereinigten Staaten von Europa gründen, nach dem Vorbild der
USA. Charles De Gaulle warnte davor, die nationalen Gefühle zu
ignorieren. Er rief auf zum Europa der Vaterländer, "L'Europe
des Patries". Glücklicherweise wurde sein Rat befolgt, und nun
tut das Leben, was es immer tut.)
Solch eine Entwicklung, nehme ich an, wird schließlich auch hier
zustande kommen. Im Moment müssen wir jedoch die unmittelbar
anstehenden Probleme behandeln. Vor uns liegt ein Verletzter,
der zu verbluten droht. Wir müssen die Blutung stillen und die
Wunden versorgen, bevor wir die Krankheitsursachen in Angriff
nehmen.
ZUSAMMENGEFASST ist dies meine Meinung:
Trotzdem die Situation (wie immer) abscheulich aussieht, machen
wir Fortschritte.
Richtig, auf dem Boden der Tatsachen ist die Lage deprimierend
und erschütternd: Die Siedlungen werden mehr und größer, die
Mauer wird länger und länger, die Besatzung verursacht jeden Tag
ungezählte unvorstellbare Abscheulichkeiten.
Vielleicht ist es ein Vorteil, der mit dem Alter kommt: Heute,
im Alter von 83 Jahren, kann ich vieles in der Perspektive sehr
viel längerer Zeitspannen sehen.
Denn unter der Oberfläche gibt es Strömungen in umgekehrter
Richtung. Alle Meinungsumfragen belegen, dass die eindeutige
Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit sich mit der Existenz
des palästinensischen Volkes abgefunden hat, auch mit der
Notwendigkeit der Bildung eines palästinensischen Staates. Die
Regierung hat gestern die PLO anerkannt und wird morgen die
Hamas anerkennen. Die Mehrheit hat sich mit Jerusalem als
zukünftiger Hauptstadt beider Staaten abgefunden. In weiter
werdenden Kreisen der Gesellschaft hat eine Entwicklung der
Anerkennung des Narrativs des anderen Volkes begonnen.
Es gibt einen weltweiten Konsensus zur Zwei-Staaten-Lösung. Er
entstand auf dem Wege der Eliminierung: In der Realität gibt es
keine andere Lösung. Damit sie Wirklichkeit werden kann, muss
sie von innen unterstützt werden, von der israelischen
Öffentlichkeit. Diese Unterstützung müssen wir erreichen. Das
ist unsere Aufgabe.
Hier noch eine Warnung: Wir müssen uns vor Utopien hüten. Eine
Utopie sieht aus wie der Lichtschein in der Ferne am Ende des
dunklen Tunnels. Einer, der die Herzen wärmt. Es sind aber
Irrlichter, die uns in falsche Abzweigungen führen, aus denen
wir keinen Ausweg mehr finden werden.
Auf die zwei entscheidenden Fragen bezüglich des Einen Staates
haben wir nie eine Antwort gehört: Wie wird er entstehen, und
wie wird er in der Praxis funktionieren? Wenn die Antworten auf
diese Fragen ausbleiben, dann ist es kein Plan sondern
bestenfalls eine Vision.
Es ist wahr, 120 Jahre Konflikt haben in unserem Volk gewaltige
Ausmaße an Hass, Vorurteilen, unterdrückten Schuldgefühlen,
Stereotypen, Angst (hauptsächlich Angst!) und absolutem
Misstrauen den Arabern gegenüber geschaffen. Dagegen müssen wir
kämpfen, die Öffentlichkeit überzeugen, dass sich der Friede
lohnt für die Zukunft Israels. Zusammen mit einer Änderung der
internationalen Situation und einer Partnerschaft mit dem
palästinensischen Volk haben wir so gute Chancen auf einen
Frieden.
Ich habe jedenfalls beschlossen, am Leben zu bleiben, bis das
geschieht.
(dt.G.Merz, Weichenhan-Mer G., vom Verfasser autorisiert)