Hilfe, ein Waffenstillstand!
Uri Avnery, 22.12.07
VERGESST DIE Qassams! Vergesst die Granaten! Sie sind nichts
im Vergleich zu dem, was Hamas in dieser Woche abgefeuert
hat.
Der
Chef der Hamasregierung im Gazastreifen, Ismail Haniyeh ,
hat mit einer israelischen Zeitung Kontakt aufgenommen und
schlug einen Waffenstillstand vor: keine Qassams mehr, keine
Granaten mehr, keine Selbstmordanschläge, keine israelischen
Überfälle auf den Gazastreifen mehr, keine „gezielten
Tötungen“ von Führern. Ein vollständiger Waffenstillstand -
nicht nur im Gazastreifen, sondern auch auf der Westbank.
Die
militärische Führung explodierte vor Wut. Was denkt der nur,
dieser Schuft? Dass er uns mit solch schmutzigen Tricks
überlisten kann?
DIES
IST NUN schon das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass
ein Versuch unternommen wurde, unsere Kriegspläne zu
vereiteln.
Vor
zwei Wochen erklärte der amerikanische Geheimdienst in einem
zuverlässigen Bericht, dass der Iran schon vor vier Jahren
seine Versuche, eine Atombombe zu produzieren, eingestellt
habe.
Statt einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen, reagierte
unsere Führung mit unverhüllter Wut. Seitdem haben sowohl
alle Kommentatoren in Israel als auch unser großes Netzwerk
gedungener Schreiber rund um die Welt versucht, dieses
Dokument zu unterwandern: es sei verlogen, ohne Grundlage,
durch eine versteckte, böswillige Agenda motiviert.
Wunderbarerweise überlebte der Bericht aber unbeschadet . Er
hat nicht einmal eine Delle davongetragen.
Der
Bericht hat anscheinend jede Möglichkeit eines
amerikanischen und/oder israelischen Militärangriffes auf
den Iran vom Tisch gefegt. Jetzt kommt die
Friedensinitiative von Haniyeh und gefährdet die Strategie
unserer militärischen Führung gegenüber dem Gazastreifen.
Noch
einmal legt der Armeechor los. Generäle in und ohne Uniform,
Militärkorrespondenten, politische Korrespondenten,
Kommentatoren aller Sorten und Geschlechter , Politiker von
links und rechts – alle greifen das Angebot von Haniyeh an.
Die
Botschaft lautet: es darf unter keinen Umständen angenommen
werden. Es sollte gar nicht in Erwägung gezogen werden. Im
Gegenteil: das Angebot zeigt, dass die Hamas im Begriff ist,
sich zu beugen, und deshalb muss der Krieg gegen sie nur
intensiviert werden, die Blockade des Gazastreifens muss
verstärkt werden, noch mehr Führer müssen getötet werden –
warum nicht Haniyeh selbst umbringen? Worauf warten wir
eigentlich noch?
Seit
Beginn des Konfliktes ist hier ein Paradox am Werk: wenn die
Palästinenser stark sind, darf man mit ihnen keinen Frieden
machen. Wenn sie schwach sind, ist es nicht nötig, mit ihnen
Frieden zu machen. So oder so – sie müssen gebrochen werden.
„Es
gibt nichts, worüber zu reden wäre!“ erklärte Ehud Olmert
sofort. Alles ist in Ordnung – das Blutvergießen kann also
weitergehen.
UND
ES geht weiter. Im Gazastreifen und drum herum wird ein
kleiner grausamer Krieg geführt. Wie gewöhnlich behauptet
jede Seite, dass sie nur auf die Gräueltaten der andern
Seite reagiere.
Die
israelische Seite behauptet, dass sie nur auf die Qassams
und Granaten reagiert. Welch souveräner Staat kann es denn
tolerieren, mit tödlichen Raketen von der andern Seite der
Grenze bombardiert zu werden?
Es
stimmt zwar, dass Tausende von Raketen nur eine winzige Zahl
an Menschen getötet hat. Mehr als das 100fache wurde bei
Verkehrsunfällen in Israel getötet und verletzt. Aber die
Qassams verbreiten Angst und Schrecken. Die Bewohner von
Sderot und Umgebung verlangen Rache und wirksamen Schutz
für ihre Häuser, was ein Vermögen kosten würde.
Wenn
die Qassams unsere politischen und militärischen Führer
wirklich stören würden, dann hätten sie das Angebot des
Waffenstillstands sofort aufgegriffen. Aber die politische
Führung kümmert sich um die Bevölkerung von Sderot nicht
ernsthaft; sie gehört zur geographischen und politischen
„Peripherie“ - sie ist weit vom Landeszentrum entfernt. Sie
trägt kein politisches und kein wirtschaftliches Gewicht.
In den Augen der Führung ist ihr Leiden alles in allem
erträglich. Die Qassams haben nämlich auch eine bedeutsame
positive Seite: sie liefern einen idealen Vorwand für die
Aktivitäten der Armee.
DAS
ISRAELISCHE strategische Ziel im Gazastreifen ist nicht, den
Qassams ein Ende zu bereiten. Es wäre nicht anders, wenn
keine einzige Qassam nach Israel fiele.
Das
wirkliche Ziel ist, die Palästinenser, d.h. die Hamas zu
brechen.
Die
Methode ist einfach, wenn nicht sogar primitiv: die Blockade
auf dem Land, zur See und in der Luft noch mehr verstärken,
bis die Situation im Gazastreifen vollkommen unerträglich
wird.
Der
totale Lieferungsstop von Vorräten, außer dem reinen Minimum
des Nötigsten, um den Hungertod zu verhindern, hat das Leben
auf eine unmenschliche Ebene reduziert. Es gibt faktisch
keine Importe und keine Exporte; das wirtschaftliche Leben
ist zum Stillstand gekommen, die Lebenskosten sind
himmelhoch gestiegen. Die Brenn- und Treibstoffe wurden auf
die Hälfte reduziert und sollen noch weiter verringert
werden. Die Wasserversorgung kann nach Belieben
abgeschnitten werden.
Die
militärische Aktivität nimmt immer mehr zu. Die israelische
Armee führt täglich Überfälle mit Panzern und gepanzerten
Bulldozern durch, um an den Rändern der bewohnten Gebiete zu
knabbern, um die palästinensischen Kämpfer zu einen
Frontalangriff herauszufordern. Jeden Tag werden fünf bis
zehn palästinensische Kämpfer getötet - zusammen mit einigen
Zivilisten. Jeden Tag werden Bewohner abgeführt, um aus
ihnen Informationen herauszupressen. Der erklärte Zweck ist
die Zermürbung und vielleicht auch die Vorbereitung einer
Wieder-Eroberung des Gazastreifens – auch wenn die
Armeechefs dies um jedem Preis zu vermeiden wünschen.
Einer nach dem anderen der palästinensischen Führer und
Kommandeure wird aus der Luft getötet. Jeder Punkt des
Gazastreifens ist den israelischen Flugzeugen, Helikoptern
und Drohnen ausgesetzt. Allerneueste Technologie macht es
möglich, die „Kinder des Todes“ , die zum Töten
Gekennzeichneten, aufzuspüren, auch mit der Hilfe eines
weiten im voraus aufgebauten Netzes von Informanten und
Agenten, die teilweise zu ihren „Leistungen“ genötigt
werden, rundet das Bild ab.
Die
Armeechefs hoffen, dass sie durch das Anziehen aller
Schrauben die lokale Bevölkerung dahin bringen können, dass
sie sich gegen die Hamas und die anderen kämpfenden
Organisationen erheben wird. Die ganze palästinensische
Opposition gegen die Besatzung werde zusammenbrechen. Das
ganze palästinensische Volk werde die Hände heben und sich
auf Gedeih und Verderb der Besatzung ergeben, die dann tun
und lassen kann, was ihr beliebt: Land enteignen, die
Siedlungen vergrößern, Mauern und Straßensperren bauen und
die Westbank in eine Reihe halb autonomer Enklaven
aufteilen.
In
diesem israelischen Plan wird für die palästinensische
Behörde ein Job reserviert: als Subunternehmer für die
israelische Sicherheit zu sorgen – als Gegengabe für eine
Menge Geld, das ihr ermöglichen soll, die Enklaven unter
Kontrolle zu halten.
Am
Ende dieser Phase des israelisch-palästinensischen
Konfliktes soll das palästinensische Volk in Stücke
geschnitten und hilflos der israelischen Expansion
ausgesetzt sein. Der historische Zusammenstoß zwischen der
unaufhaltsamen Kraft (dem zionistischen Unternehmen) und
dem unbeweglichen Objekt (der palästinensischen
Bevölkerung) wird mit dem Zusammenbruch der
palästinensischen Opposition enden.
DAMIT DIES gelingt, muss ein raffiniertes diplomatisches
Spiel durchgespielt werden. Unter keinen Umständen darf die
Unterstützung der internationalen Gemeinschaft verloren
gehen. Im Gegenteil, die ganze Welt, von der USA und der EU
angeführt, muss Israel unterstützen und seine Handlungen
als gerechten Kampf gegen den palästinensischen Terrorismus
verstehen, der ja angeblich ein integraler Teil des
„internationalen Terrorismus“ ist.
Die
Annapolis-Konferenz und danach das Treffen in Paris waren
wichtige Schritte in diese Richtung. Fast die ganze Welt,
einschließlich der fast ganzen arabischen Welt, wurden so zu
einem Teil des israelischen Planes – vielleicht unschuldig,
vielleicht aber auch zynisch.
Das
Geschehen nach Annapolis entwickelte sich wie erwartet:
keine neuen Verhandlungen begannen, beide Seiten spielen nur
mit dem Anschein. Schon einen Tag nach Annapolis verkündigte
die Regierung große Bauprojekte jenseits der Grünen Linie.
Als Condoleezza Rice etwas dagegen brummelte, wurde
angekündigt, dass die Pläne erst noch mal zurück- gestellt
würden. Tatsächlich wird aber mit hoher Geschwindigkeit
weitergebaut.
Wie
halten Olmert und seine Kollegen doch die ganze Welt zum
Narren! Benjamin Disraeli sagte einmal über einen gewissen
britischen Politiker: „Der ehrenwerte Gentleman überraschte
seine Gegner beim Baden im Meer und nahm ihnen ihre Kleidung
weg.“ Wir, die Pioniere der Zwei-Staatenlösung, können
dies über unsere Regierung sagen. Sie hat unsere Flagge
gestohlen und wickelt sich damit ein, um ihre Absichten zu
verbergen.
Endlich besteht jetzt ein weltweiter Konsens, dass Frieden
in unserer Region sich auf der Koexistenz des Staates Israel
und des Staates Palästina gründen muss. Unsere Regierung
schlüpfte da hinein und nützt diese Idee aus, um etwas
völlig anderes auszuführen: die Herrschaft Israels über das
ganze Land auszudehnen und die palästinensischen
Bevölkerungszentren in eine Reihe von Bantustans zu
verwandeln. Dies ist in der Tat eine Ein-Staat-Lösung
(Groß-Israel) in der Verkleidung der Zwei-Staaten-Lösung.
KANN
DIESER Plan gelingen?
Die
Schlacht im Gazastreifen ist in vollem Gange. Trotz der
großen militärischen Überlegenheit der israelischen Armee
ist sie nicht mehr ganz einseitig. Selbst die israelischen
Kommandeure weisen darauf hin, dass die Hamaskräfte stärker
geworden sind. Sie trainieren hart, ihre Waffen sind
effektiver geworden, und sie zeigen eine Menge Mut und
Entschiedenheit. Es scheint, dass die Tötung ihrer
Kommandeure und Kämpfer in einem stetigen Aderlass ihre
Kampfmoral nicht beeinträchtigt. Das ist einer der Gründe,
warum die israelische Armee davon zurückschreckt, den
Gazastreifen zurückzuerobern.
Innerhalb des Gazastreifens erfreuen sich beide
Organisationen einer breiten öffentlichen Unterstützung : an
der von der Fatah organisierten Demonstration zur Erinnerung
an Yassir Arafat und an der Gegendemonstration der Hamas
nahmen Hunderttausende teil. Aber es scheint, dass der
größte Teil der palästinensischen Öffentlichkeit nationale
Einheit will, um gemeinsam gegen die Besatzung zu kämpfen.
Sie wollen keinen religiösen Druck, aber sie werden auch
keine Führung dulden, die mit der Besatzung kollaboriert.
Die
Regierung mag sich täuschen, wenn sie mit dem Gehorsam der
Fatah rechnet. Im Wettbewerb mit der Hamas könnte die Fatah
überraschen und wieder eine kämpfende Organisation werden.
Der Geldstrom, der zur palästinensischen Behörde fließt,
wird das nicht verhindern können. Zeev Jabotinsky war weiser
als Tony Blair, als er vor 85 Jahren sagte, dass man ein
ganzes Volk nicht kaufen könne.
Wenn
die israelische Armee in den Gazastreifen einfällt, um ihn
zurückzuerobern, wird die Bevölkerung hinter ihren Kämpfern
stehen. Keiner weiß, wie sie sich verhalten wird, wenn die
wirtschaftliche Misere noch schlimmer wird. Die Folgen mögen
unerwartet sein. Aus Erfahrungen mit anderen
Befreiungsbewegungen weiß man, dass Not und Elend eine
Bevölkerung brechen kann, aber auch, dass sie gestärkt
hervorgehen kann.
Um
es einfach auszudrücken: das palästinensische Volk wird auf
eine geradezu existentielle Probe gestellt – vielleicht die
schwerste seit 1948. Zugleich ist es auch ein Test für die
raffinierte Politik Ehud Olmerts, Ehud Baraks, Zipi Livnis
und der Armeechefs.
So
wird ein Waffenstillstand wohl nicht in Funktion treten.
Olmert verwarf die Idee sofort. Dann wurde dies geleugnet,
dann wurde die Leugnung geleugnet.
Die
Bewohner von Sderot wären wahrscheinlich über eine
Waffenpause froh gewesen – aber wer macht sich schon die
Mühe, sie zu fragen ?
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert ) |