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Ohne Augen in Gaza
Uri Avnery, 16.
August 2014
DAS PROBLEM mit dem
Krieg ist, dass er zwei Seiten hat.
Alles würde so viel
leichter sein, wenn der Krieg nur eine Seite hätte. Natürlich die
unsrige.
Da bist du und heckst
einen wunderbaren Plan für den nächsten Krieg aus, bereitest ihn
vor, trainierst für ihn, bis alles perfekt ist.
Und dann beginnt der
Krieg, und zu deiner größten Überraschung scheint es auch eine
andere Seite zu geben, die auch einen wunderbaren Plan hat, sich
vorbereitet und trainiert hat.
Wenn sich die beiden
Pläne treffen, geht alles falsch. Beide Pläne brechen zusammen. Du
weißt nicht, was sich ereignet. Wie sollst du weitermachen? Du
machst Dinge, die nicht geplant waren. Und wenn du genug davon hast,
willst du hinaus und weißt nicht wie. Es ist um vieles schwieriger,
einen Krieg zu beenden, als ihn anzufangen, besonders, wenn beide
Seiten den Sieg erklären müssen.
Da sind wir jetzt.
WIE HAT er
angefangen? Das hängt davon ab, wo man anfangen will.
Wie alles andere ist
jedes Ereignis in Gaza eine Re-Aktion auf ein anderes Ereignis. Man
tut etwas, weil die andere Seite etwas getan hat. Und die tut
etwas, weil man etwas tat. Man kann dies entwirren bis zum Beginn
der Geschichte oder wenigsten bis Simson, dem Held.
Man erinnere sich an
Simson, der von den Philistern gefangen genommen, geblendet und nach
Gaza gebracht wurde. Dort beging er Selbstmord, indem er den Tempel
auf sich herunterriss, und rief: "Lasst meine Seele mit den
Philistern sterben!" (Richter 16,30)
Wenn das zu lange
zurück liegt, beginnen wir mit dem Anfang der gegenwärtigen
Besatzung 1967.
(Davor gab es noch
eine vergessene Besatzung. Als Israel den Gazastreifen und den
ganzen Sinai im Laufe des 1956er-Suez-Krieges eroberte, erklärte
David Ben Gurion die Gründung des „Dritten Israelischen
Königreiches“, um nur wenige Tage später mit gebrochener Stimme zu
verkünden, dass er Präsident Dwight Eisenhower versprochen hatte,
sich von der ganzen Sinai-Halbinsel zurückzuziehen. Einige
israelische Parteien drängten ihn, wenigstens den Gazastreifen zu
halten, aber er weigerte sich. Er wollte keine hundert Tausende
Araber mehr in Israel haben.)
Einer meiner Freunde
erinnerte mich an einen meiner Artikel, den ich zwei Jahre nach dem
Sechs-Tage-Krieg geschrieben hatte, in dem wir Gaza noch einmal
besetzten. Ich hatte grade herausgefunden, dass zwei arabische
Straßenbauer, einer von der Westbank und der andere vom Gazastreifen
genau dieselbe Arbeit machten, aber verschiedene Löhne bekamen. Der
Mann aus Gaza bekam weniger.
Als Mitglied der
Knesset forschte ich nach. Ein hochrangiger Beamter erklärte mir,
dass dies ein politischer Entschluss wäre. Der Zweck war, die Araber
dahin zu bringen, den Gazastreifen zu verlassen und in der Westbank
(oder sonst wo) zu siedeln, um die 400 000 im Gazastreifen lebenden
Araber, meistens Flüchtlinge aus Israel, zu zerstreuen.
Offensichtlich ging das nicht so gut – nun leben dort ungefähr 1.8
Millionen.
Im Februar 1969
warnte ich, "(dass wenn wir so weitermachen) wir vor einer
schrecklichen Wahl stehen werden - an einer Welle von Terror
leiden, die das ganze Land überzieht oder mit Aktionen von Rache
und Unterdrückung zu reagieren, die so brutal sein werden, dass sie
unsere Seelen korrumpieren und die ganze Welt dahin bringt, uns zu
verurteilen.“
Ich erwähne dies
nicht (nur), um mein eigenes Lob zu singen, sondern zu zeigen, dass
jede vernünftige Person hätte voraussehen könnem, was heute
geschieht.
ES BRAUCHTE für Gaza
eine lange Zeit, um diesen Punkt zu erreichen.
Ich erinnere mich an
einen Abend in Gaza Mitte der 90er-Jahre. Ich war zu einer
palästinensischen Konferenz (über Gefangene) eingeladen worden, die
mehrere Tage dauerte. Meine Gastgeber luden mich ein, mit Rachel in
einem Hotel an der Küste zu übernachten. Gaza war damals ein netter
Platz. Am späten Abend machten wir einen Spaziergang durch die
Hauptstraße. Wir hatten freundliche Gespräche mit Leuten, die uns
als Israelis erkannten. Wir waren glücklich.
Ich erinnere mich
auch an den Tag, als die israelische Armee sich aus dem größten Teil
des Streifens zurückzog. In der Nähe von Gazastadt stand ein
riesiger israelischer Wachturm, viele Stockwerke hoch, „so dass die
israelischen Soldaten in jedes Fenster in Gaza schauen konnten“. Als
die Soldaten gingen, kletterte ich bis in die Spitze, vorbei an
Hunderten glücklicher Jungs, die rauf und runter gingen wie die
Engel auf der Leiter in Jakobs Traum in der Bibel. Wieder waren wir
glücklich.
Das war die Zeit, als
Yasser Arafat, Sohn einer Familie aus dem Gazastreifen, nach
Palästina zurückkehrte und sein Hauptquartier in Gaza hatte. Ein
wunderschöner neuer Flughafen wurde (mit deutschen Geldern) gebaut.
Pläne für einen großen neuen Seehafen wurden herumgereicht.
(Ein großer
holländischer Hafenbaubetrieb wandte sich diskret an mich und bat
mich, meine guten Beziehungen zu Arafat zu nützen, damit er ihnen
den Job geben würde. Sie deuteten eine sehr große Gratifikation an.
Ich weigerte mich höflich. Während all der Jahre, die ich Arafat
kannte, bat ich ihn nie um eine Gunst. (Ich denke, dass dies die
Grundlage unserer ziemlich seltsamen Freundschaft war.)
Falls der Hafen
gebaut worden wäre, wäre Gaza ein blühender Handelsplatz geworden.
Der Lebensstandard wäre steil angestiegen, die Neigung der Leute für
eine radikal islamische Partei wäre geringer geworden.
WARUM GESCHAH das
nicht? Israel weigerte sich, den Hafenbau zu genehmigen. Im
Gegensatz zu einer klaren Verpflichtung im 1993er-Oslo-Abkommen,
schnitt Israel alle Verbindungen zwischen dem Gazastreifen und der
Westbank ab. Das Ziel war, jede Möglichkeit für den Aufbau eines
lebensfähigen palästinensischen Staates zu verhindern.
Ministerpräsident
Ariel Sharon evakuierte mehr als ein Dutzend Siedlungen entlang der
Gazaküste. Einer unserer Slogans vom rechten Flügel heißt: „Wir
evakuierten den ganzen Gazastreifen, und was bekamen wir dafür?
Qassam-Raketen!“ Also können wir die Westbank nicht aufgeben.
Aber Sharon gab den
Streifen nicht der Palästinensischen Behörde. Die Israelis sind
von der Idee besessen, „einseitig“ zu handeln. Die Armee zog sich
aus dem Streifen zurück und hinterließ ein Chaos ohne eine Regierung
– ohne ein Abkommen zwischen beiden Seiten.
Gaza versank im
Elend. Bei den palästinensischen 2006-Wahlen unter der Aufsicht von
Ex-Präsident Jimmy Carter gab die Bevölkerung von Gaza – wie die der
Westbank – der Hamas eine relative Mehrheit. Die Bevölkerung
applaudierte.
Die israelische
Regierung reagierte, indem sie eine Blockade errichtete. Nur
begrenzte Mengen von Waren, die von der Besatzungsbehörde genehmigt
wurden, wurden durchgelassen. Ein amerikanischer Senator machte
einen Höllenspektakel, als er herausfand, dass Nudeln als ein
Sicherheitsrisiko angesehen und nicht hineingelassen wurde.
Praktisch wurde auch nichts herausgelassen - was vom Standpunkt der
„Sicherheit“ und des Waffen-„Schmuggels“ unbegreiflich ist, aber vom
Standpunkt des Strangulierens des Gazastreifens klar ist.
Der Streifen ist,
grob gesagt, 40km lang und 10km breit. Im Norden und im Osten grenzt
er an Israel, im Westen grenzt er ans Meer, der von der israelischen
Flotte kontrolliert wird. Im Süden grenzt er an Ägypten, das jetzt
von einer brutalen anti-islamischen Diktatur beherrscht wird und mit
Israel liiert ist. Wie der Slogan aussagt: Es ist „das größte
Freiluftgefängnis der Welt“.
BEIDE SEITEN
behaupten jetzt, es sei ihr Ziel, dieser Situation ein Ende zu
machen. Aber sie meinen zwei sehr verschiedene Dinge.
Die israelische Seite
wünscht, dass die Blockade bleibt, aber in einer liberaleren Form.
Nudeln und vieles andere soll in den Streifen hineingelassen werden,
aber unter strenger Überwachung. Kein Flughafen. Kein Seehafen.
Hamas muss an der Wiederbewaffnung gehindert werden.
Die palästinensische
Seite wünscht, dass die Blockade ein für alle Mal verschwindet,
auch offiziell. Sie wünschen ihren Hafen und den Flughafen. Sie
verweigern nicht eine Überwachung entweder international oder durch
die palästinensische Einheitsregierung unter Mahmoud Abbas.
Wie diesen Kreis in
ein Quadrat verwandeln, besonders wenn der „Vermittler“ der
ägyptische Diktator ist, der praktisch als Agent Israels handelt? Es
ist ein Kennzeichen der Situation, dass die US als Vermittler
verschwunden ist. Nach den sinnlosen Friedensvermittlungsbemühungen
John Kerrys, wird die USA jetzt allgemein im ganzen Nahen Osten
verachtet.
Israel kann Hamas
nicht „zerstören“, wie unsere halbfaschistischen Politiker (auch in
der Regierung) laut fordern. Außerdem wünschen sie das gar nicht
wirklich. Wenn die Hamas „zerstört“ ist, würde der Gazastreifen der
palästinensischen Behörde (nämlich Fatah) übergeben werden. Das
würde die Wiedervereinigung der Westbank mit Gaza bedeuten – nach
all den lang andauernden und erfolgreichen israelischen Bemühungen,
sie zu teilen. Das ist nicht gut.
Falls Hamas bleibt,
kann Israel der „Terror-Organisation“ nicht erlauben, zu gedeihen.
Eine Entspannung der Blockade wird nur begrenzt möglich sein – wenn
überhaupt. Die Bevölkerung wird Hamas sogar noch mehr schätzen und
von Rache für die schreckliche Zerstörung träumen, die Israel
während des letzten Krieges anrichtete. Der nächste Krieg wird schon
um die nächste Ecke sein – wie fast alle Israelis sowieso denken.
Am Ende werden wir
dort sein, wo wir anfangs waren.
ES KANN keine
wirkliche Lösung für Gaza geben, ohne eine wirkliche Lösung für
Palästina.
Die Blockade muss
enden mit ernsthaften Sicherheitsbedenken auf beiden Seiten in
Rechnung gezogen.
Der Gazastreifen und
die Westbank (mit Ost-Jerusalem) müssen vereint werden.
Die vier „sicheren
Durchfahrtswege“ zwischen den beiden Gebieten – im Oslo-Abkommen
versprochen – müssen endlich geöffnet werden.
Dann muss es längst
fällige palästinensische Wahlen für die Präsidentschaft und das
Parlament geben, mit einer neuen Regierung, die von allen
palästinensischen Fraktionen und von der Weltgemeinschaft anerkannt
wird, einschließlich Israel und der USA.
Eine ernsthafte
Friedensverhandlung, die sich auf die zwei-Staaten-Lösung gründet,
muss beginnen und innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne zum Ziel
kommen.
Hamas muss
offiziell das Friedensabkommen akzeptieren, das bei dieser
Vierhandlung erreicht wird.
Israels legitime
Sicherheitsanliegen müssen berücksichtigt werden.
Der Gaza-Hafen muss
geöffnet werden, um den Gazastreifen und den ganzen Staat Palästina
in die Lage zu versetzen, Waren zu importieren und zu exportieren.
Es hat keinen Sinn,
eines dieser Probleme getrennt zu „lösen“. Sie müssen gemeinsam
gelöst werden. Sie können auch gemeinsam gelöst werden.
Es sei denn, wir
wollen von einer Runde zur nächsten gehen, ohne Hoffnung und
Erlösung.
„Wir“ - die Israelis
und Palästinenser – die von diesem Krieg gemeinsam umschlungen sind.
Oder tun, was Simson
tat: Selbstmord begehen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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