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Tsunami
in Ägypten
Uri
Avnery, 12. Februar 2011
BIS
ZUM letzten Augenblick versuchte die israelische Führung, Hosni
Mubarak an der Macht zu halten.
Es
war hoffnungslos. Sogar die mächtigen Vereinigten Staaten waren
machtlos, als sie sich diesem Tsunami, einer Volksempörung,
gegenübersahen.
Am
Ende kam es zum zweitbesten Ergebnis für Amerika: eine pro-westliche
Militärdiktatur. Aber wird dies wirklich das Endresultat sein?
WENN OBAMA einer neuen Situation gegenüber steht, ist seine erste
Reaktion gewöhnlich wunderbar.
Dann hat er es sich anscheinend anders überlegt. Und drittens. Und
viertens. Das Endergebnis ist eine Wendung um 180 Grad.
Als
sich die Massen auf dem Tahrir-Platz versammelten, reagierte er
genau wie jeder anständige Mensch in den USA und in der ganzen
Welt. Da gab es grenzenlose Bewunderung für diese tapferen jungen
Männer und Frauen, die der gefürchteten „Muhabarat“ (Geheimpolizei)
gegenüber standen und Demokratie und Menschenrechte forderten.
Wie
sollte man sie nicht bewundern? Sie waren nicht gewalttätig; ihre
Forderungen waren vernünftig; ihre Aktionen waren spontan;
offensichtlich drückten sie die Gefühle der großen Mehrheit der
Menschen aus. Ohne eine nennenswerte Organisation, ohne Führung. Sie
sagten und taten genau das Richtige.
Solch ein Anblick ist selten in der Geschichte. Keine Sansculottes
(wie in der Französischen Revolution), die nach Blut schreien, keine
gefühlskalten Bolschewiken, die im Schatten lauern, die keine
Ayatollahs diktieren Taten im Namen Gottes.
Obama liebte es. Er versteckte seine Gefühle nicht. Er rief
praktisch den Diktator dazu auf, aufzugeben und zu verschwinden.
Wenn Obama bei diesem Kurs geblieben wäre, könnte das Ergebnis
historisch gewesen sein. Die USA, die in der arabischen Welt am
meisten gehasste Macht, hätten die arabischen Massen, den
muslimischen Raum, ja, tatsächlich einen großen Teil der
sogenannten 3. Welt elektrisiert. Es hätte der Anfang eines
vollkommen neuen Zeitalters sein können.
Ich
glaube, dass Obama genau dies fühlte. Seine ersten Instinkte sind
immer richtig. In solch einer Situation zeigt sich, wer ein
wirklicher Führer ist.
ABER DANN kamen andere Überlegungen. Kleine Leute begannen ihn zu
bearbeiten. Politiker, Generäle, ‚Sicherheitsexperten’, Diplomaten,
Pundits, (Besserwisser), Lobbyisten, Geschäftsführer, all die
‚erfahrenen’ Leute – erfahren in Routineangelegenheiten – begannen,
sich einzuschalten. Und natürlich die unglaublich mächtige
Israel-Lobby.
„Bist Du verrückt?“ – sagten sie ihm. Einen Diktator aufgeben, der
unser Hurensohn ist? All unseren Diktatoren in aller Welt zu
sagen, dass wir sie in ihrer Stunde der Not im Stich lassen?
Wie
naiv kann man sein? Demokratie in einem arabischen Land? Dass wir
nicht lachen! Wir kennen die Araber. Man zeigt ihnen Demokratie auf
einem Silberteller, und sie sind nicht in der Lage, diese von
gebackenen Bohnen zu unterscheiden. Sie brauchen immer einen
Diktator. Speziell diese Ägypter! Frag die Engländer!
Die
ganze Sache ist wirklich eine Verschwörung der Muslimbruderschaft.
Schau sie dir bei Google an! Sie sind die einzige alternative Kraft.
Entweder Mubarak oder sie. Sie sind die ägyptischen Taliban, noch
schlimmer: die ägyptischen el-Qaida. Hilf den wohlmeinenden
Demokraten, das Regime zu stürzen, und man hat einen zweiten Iran
mit einem ägyptischen Ahmadinejad an Israels Südgrenze, dem sich
dann Hisbollah und Hamas anschließen. Die Dominosteine werden
anfangen, zu fallen und mit Jordanien und Saudi Arabien beginnen
Während Obama sich all diesen Experten gegenüber sah, knickte er
ein.
NATÜRLICH KANN jeder einzelne Punkt dieser Argumente leicht
widerlegt werden.
Beginnen wir mit dem Iran. Die naiven Amerikaner – heißt es – gaben
den Schah und seine in Israel trainierte Geheimpolizei auf, um
Demokratie einzuführen, aber die Revolution wurde von den Ayatollahs
übernommen. Eine grausame Diktatur wurde von einer noch grausameren
abgelöst. Dies ist es, was Binyamin Netanyahu in dieser Woche sagte,
um davor zu warnen, dass dasselbe jetzt in Ägypten geschehen würde.
Aber die wahre iranische Geschichte ist völlig anders.
1951 wurde ein patriotischer Politiker mit Namen Mohammad Mossadegh
in demokratischen Wahlen gewählt – die erste ihrer Art im Iran.
Mossadegh, weder ein Kommunist noch ein Sozialist, führte drastische
soziale Reformen ein, befreite die Bauern und arbeitete kräftig
daran, den rückständigen Iran in einen modernen, demokratischen,
säkularen Staat zu verwandeln. Um dies zu ermöglichen,
verstaatlichte er die Erdölindustrie, die einer habgierigen
britischen Gesellschaft gehörte, die dem Iran lächerliche Tantiemen
zahlte. Riesige Demonstrationen in Teheran unterstützten Mossadegh.
Die
britische Reaktion war schnell und entschlossen. Winston Churchill
überzeugte Präsident Dwight Eisenhower, dass Mossadeghs Kurs zum
Kommunismus führen würde. 1953 organisierte der CIA einen
Staatsstreich, Mossadegh wurde verhaftet und bis zu seinem Tod 14
Jahre später in Isolationshaft gehalten; die Briten bekamen das Öl
zurück. Der Schah, der geflohen war, wurde wieder auf seinen Thron
gesetzt. Sein Terrorregime dauerte bis zur Khomeini-Revolution 26
Jahre später.
Ohne diese amerikanische Intervention hätte der Iran sich
wahrscheinlich in eine säkulare, liberale Demokratie entwickelt.
Kein Khomeini. Kein Achmadinejad. Kein Gerede über Atombomben.
NETAYAHUS WARNUNGEN vor der unvermeidlichen Übernahme Ägyptens durch
die fanatische Muslim-Bruderschaft, falls demokratische Wahlen
abgehalten würden, klingen logisch, aber sie gründen sich ebenfalls
auf Ignoranz.
Würden die Muslim-Bruderschaft an die Macht kommen? Sind sie
talibanartige Fanatiker?
Die
Bruderschaft wurde vor 80 Jahren gegründet, lange bevor Obama und
Netanyahu geboren wurden. Sie sind im Laufe der Zeit reifer
geworden – mit einem moderaten Flügel, sehr ähnlich der moderaten,
demokratisch islamischen Partei, die die Türkei so gut regiert und
die ihr Vorbild ist. In einem demokratischen Ägypten würden sie eine
legitime Partei darstellen und am demokratischen Prozess teilnehmen.
(Dies wäre übrigens auch in Palästina geschehen, als die Hamas
gewählt wurde – wenn die Amerikaner unter israelischer Führung die
Einheitsregierung, die sie errichtet hatte, nicht gestürzt und die
Hamas auf einen anderen Kurs gebracht hätte.)
Die Mehrheit der Ägypter ist religiös, aber ihr Islam ist weit
entfernt von der radikalen Art. Es gibt keine Anzeichen, dass die
Mehrheit des Volkes, die durch die jungen Leute auf dem Tahrir-Platz
vertreten wird, ein radikales Regime tolerieren würde. Der
islamische „schwarze Mann“ ist gerade das – ein „schwarzer Mann“.
WAS
hat Obama nun tatsächlich getan ? Seine Schritte waren
erbärmlich – um es milde auszudrücken.
Nachdem er sich am Anfang gegen Mubarak gewandt hatte, meinte er
plötzlich, er müsse doch an der Macht bleiben, um demokratische
Reformen einzuleiten. Da sein Vertreter, den er nach Ägypten sandte,
ein Diplomat i.R. ist, dessen augenblicklicher Arbeitgeber eine
Anwaltsfirma ist, die die Mubarakfamilie vertritt – so wie Bill
Clinton einen engagierten jüdischen Zionisten zu senden pflegte, um
zwischen engagierten jüdischen Zionisten und den Palästinensern zu
„vermitteln“.
Der
verabscheute Diktator soll also die Demokratie einführen, eine neue
liberale Verfassung erlassen, genau mit den Leuten zusammen
arbeiten, die er ins Gefängnis geworfen hat und die systematisch
gefoltert wurden.
Mubaraks erbärmliche Rede am Donnerstagabend war der Strohhalm,
der dem ägyptischen Kamel den Rücken brach. Sie zeigte, dass er
jeden Kontakt mit der Realität verloren hatte oder noch schlimmer,
geistig gestört ist. Aber selbst ein verwirrter Diktator würde nicht
solch eine blöde Rede gehalten haben, wenn er nicht geglaubt hätte,
dass Amerika noch auf seiner Seite ist. Die Schreie der Empörung
auf dem Platz, während Mubaraks aufgezeichnete Rede noch
ausgestrahlt wurde, waren Ägyptens Antwort. Dazu waren keine
Interpreten nötig.
Aber Amerika hatte sich schon bewegt. Sein Hauptinstrument in
Ägypten ist die Armee. Es ist die Armee, die jetzt den Schlüssel für
die nächste Zukunft hält. Als der „Oberste Militärrat“ am Donnerstag
zusammen kam - kurz vor jener skandalösen Rede - ein „Kommunique
Nr.1“ veröffentlichte, war Hoffnung mit einem unguten Gefühl
verbunden.
„Kommunique
Nr.1“ ist in der Geschichte ein wohlbekannter Begriff. Er bedeutet,
dass eine Militärjunta die Macht übernommen hat, die gewöhnlich
Demokratie, baldige Wahlen, Wohlstand und den Himmel auf Erden
verspricht. In sehr seltenen Fällen erfüllen die Offiziere diese
Versprechen. Aber im Allgemeinen folgt eine Militärdiktatur der
schlimmsten Sorte.
Dieses Mal sagte die Erklärung gar nichts aus. Es zeigte im
Fernsehen nur, dass sie da waren – alle leitenden Generäle minus
Mubarak und seinen Handlanger Omar Suleiman.
Jetzt haben sie die Macht übernommen. Ruhig, ohne Blutvergießen. Das
2. Mal innerhalb von 60 Jahren.
ES
LOHNT sich, sich an das erste Mal zu erinnern. Nach einer Periode
voller Unruhen gegen die britischen Besatzer führte eine Gruppe
junger Offiziere, (Veteranen des 1948er Israel-Arabischen Krieges),
die sich hinter einem älteren General verbargen, einen Staatsstreich
aus. Der verachtete Herrscher, König Faruk, wurde vertrieben. Er
verließ mit seiner Jacht Alexandria. Nicht ein Tropfen Blut wurde
vergossen.
Die
Menschen jubelten. Sie liebten die Armee und den Staatsstreich. Aber
es war eine Revolution von oben. Keine Menschenmengen befanden sich
auf dem Tahrir-Platz.
Die
Armee versuchte zuerst, durch zivile Politiker zu regieren. Sie
verloren bald die Geduld mit ihnen. Ein charismatischer junger
Oberstleutnant, Gamal Abd-al-Nasser, tauchte als Führer auf, führte
umfassende Reformen ein, stellte die Ehre Ägyptens und der ganzen
arabischen Welt wieder her – und gründete die Diktatur, die gestern
ihr Leben aushauchte.
Wird die Armee diesem Beispiel folgen oder wird sie das tun, was
die türkische Armee mehrfach getan hat: die Macht ergreifen und
diese in eine gewählte zivile Regierung übergeben ?
Vieles hängt von Obama ab. Wird er den Schritt zur Demokratie
unterstützen, wie es seiner Neigung zweifellos entspricht, oder
wird er auf die „Experten“ – einschließlich der Israelis - hören,
die ihn drängen, sich auf eine Militärdiktatur zu verlassen, wie es
amerikanische Präsidenten bis jetzt getan haben.
Aber die Chance der USA und Barack Obamas persönlich, die Welt vor
19 Tagen in einem historischen Augenblick durch eine großartige
Führung zu leiten, ist versäumt worden. Die schönen Worte
verpufften.
Für
Israel ist es eine andere Lektion. Als die „freien Offiziere“ 1952
ihre Revolution in Ägypten durchführten, erhob sich in ganz Israel
nur eine einzige Stimme (und zwar die von Haolam Hazeh, des
Nachrichtenmagazins, das ich damals herausgab), die die israelische
Regierung dazu aufrief, sie zu unterstützen. Die Regierung tat das
Gegenteil, und eine historische Chance, Solidarität mit dem
ägyptischen Volk zu zeigen, war vertan.
Jetzt fürchte ich, dass dieser Fehler wiederholt wird. Der Tsunami
wird in Israel als eine erschreckende Naturkatastrophe gesehen,
nicht als eine wunderbare große Gelegenheit.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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