Marie
und das Phantom
( oder Antisemitismus in
Frankreich?)
Uri
Avnery, 17.7.04
Zuweilen ist nur eine triviale
Episode nötig, um wie mit einem Scheinwerfer auf eine ernste,
öffentliche Malaise aufmerksam zu machen.
Ein klassisches Beispiel: Der
Hauptmann von Köpenick. Oberflächlich betrachtet, war es ein kleiner
krimineller Vorfall: 1906 wurde ein Schuster mit Namen Wilhelm
Voigt, nachdem er seine Strafe wegen Fälschung abgesessen hatte,
aus dem Gefängnis entlassen. Um Arbeit zu erhalten, benötigte er
einen Pass; aber als früherer Strafgefangener konnte er keinen
bekommen.
Also ging er in einen Trödelladen
und kaufte die Uniform eines Hauptmanns, schnappte sich ein paar
Soldaten von der Straße weg, nahm sie mit nach Köpenick, einem
Berliner Vorort, verhaftete den Bürgermeister und konfiszierte
Blanco-Pässe. Da er der Polizei wohl bekannt war, wurde er bald
verhaftet.
Ganz Europa lachte über die protzige
Zur-Schaustellung der Machtsituation in Deutschland, wo jeder, der
eine Uniform trug, ein König und jeder Armeeoffizier ein Halbgott
war.
In dem klassischen Film über diese
Episode wurde dem Kaiser - derselbe Kaiser Wilhelm II. , der einige
Jahre zuvor Theodor Herzl in Jerusalem getroffen hatte - diese
Nachricht überbracht. Einen langen Augenblick hielten die Höflinge
den Atem an. Dann brach der Kaiser in lautes Gelächter aus, und die
erleichterten Höflinge stimmten mit ein.
Eigentlich war es keine lächerliche
Angelegenheit; denn acht Jahre später war der ungezügelte deutsche
Militarismus eine der Ursachen des 1.Weltkriegs.
Vor einer Woche verursachte eine
junge Französin mit Namen Marie Leonie einen Aufruhr. Nach ihrer
Behauptung hätten sechs Jugendliche „mit nordafrikanischem
Aussehen“ sie in einem Pariser Vorortzug angegriffen, ihre Tasche
weggenommen, und da sie (fälschlicherweise) geglaubt haben, sie sei
Jüdin, weil sie im wohlhabenden 16. Stadtviertel wohnte, hätten sie
ihr das Kleid zerrissen und Hakenkreuze auf den Bauch gemalt. Dann
hätten sie den Kinderwagen umgeworfen – und all dies im Beisein von
20 anderen Fahrgästen, und keiner hätte einen Finger gerührt, um
ihr zu helfen.
Frankreich reagierte hysterisch
voller Wut und Schuldgefühle. Die Führer der Republik beginnend beim
Präsidenten Jacques Chirac beschuldigten sich selbst und
versprachen, den Kampf gegen den Antisemitismus ganz oben an auf die
nationale Agenda zu setzen. Alle Zeitungen veröffentlichten in
riesigen Schlagzeilen, zusammen mit tief schürfenden Artikeln über
das Anwachsen des Antisemitismus, über die Schande der Nation.
Jüdische Organisationen in Frankreich und der ganzen Welt klagten
die europäische Gesellschaft einer erschreckenden Wiedererweckung
des Antisemitismus an und holten Erinnerungen an den Holocaust
zurück.
Die israelischen Medien hatten einen
großen Tag. Sie sagten allen Juden, sie fänden nur in Israel
Sicherheit.
Ich hatte vom ersten Augenblick an
meine Zweifel. Wenn man 40 Jahre lang als Redakteur einer
Zeitschrift gearbeitet hat, die sich auf investigativen
Journalismus spezialisiert hatte, entwickelt man eine feine Nase für
Falschmeldungen. Dies hier war offensichtlich nicht plausibel. Ich
bin davon überzeugt, dass die französischen Polizeibeamten von
Anfang an auch ihre Zweifel hatten. Aber wer würde angesichts der
durchgehenden öffentlichen Hysterie es wagen, seine Bedenken
vorzubringen?
Und dann fiel die ganze Geschichte
in sich zusammen. Kein einziger Augenzeuge meldete sich. Die
Überwachungskameras am Bahnhof zeigten keine Spur eines besonderen
Vorfalls. Es wurde bekannt, dass diese junge Frau gegenüber der
Polizei schon früher falsche Behauptungen gemacht hatte. Zwei Tage
nach dem Aufruhr brach die Frau zusammen und gab die Wahrheit zu:
alles war erfunden.
Wie der Hauptmann von Köpenick, der
das Scheinwerferlicht auf den preußischen Militarismus warf, so hat
Marie Leonie das Licht auf die anti- antisemitische Hysterie in
Europa gelenkt, ein irrationales Phänomen, das erfahrene Politiker
in Dummköpfe verwandelt und ernst zu nehmende Zeitungen verrückt
macht und so alle Arten hässlicher Manipulationen zulässt.
Um wieder Logik und Vernunft in die
Sache zu bringen, sollte man damit beginnen, zwischen verschiedenen
Phänomenen zu differenzieren.
Da gibt es tatsächlich einen realen
Antisemitismus. Er ist tief in der europäisch-christlichen
Zivilisation verwurzelt. Er existiert auch heute, wie immer. Es ist
ein Hass gegen Juden, weil sie Juden sind, unabhängig davon, wer
oder was sonst sie sind – reich oder arm, Kapitalisten oder
Kommunisten, Unterstützer oder Kritiker von Israel, korrupt oder
anständig. Eine seiner Ausdrucksformen ist zum Beispiel das Malen
von Hakenkreuzen auf Grabsteine, ein idiotischer Akt, den jeder
psychisch gestörte Jugendliche für sich allein vollbringen kann.
Ich glaube nicht, dass diese Art
Antisemitismus in den letzten Jahren angewachsen ist. Vielleicht hat
er im Lauf der Jahre seit dem Holocaust seine Scham verloren. Im
Augenblick bildet er keine Gefahr.
Ein ganz anderes Phänomen ist der
nord-afrikanische Krieg, der nun auf europäischem Boden weiter
ausgefochten wird. Junge Muslime aus Nordafrika schlagen sich mit
jungen Juden aus Nordafrika. Das begann zu Hause, als die Juden das
französische Regime gegen die algerischen Freiheitskämpfer
unterstützten. In der letzten Phase war die jüdische
Untergrundorganisation die Hauptstütze der Opposition zur Befreiung
Algeriens. (Die Organisation war von israelischen Agenten
aufgestellt worden, um Juden zu verteidigen, aber die Führer
wanderten allmählich nach Israel aus und die Organisation wurde in
den Händen der fanatischsten Araberhasser gelassen.)
Jetzt ist diese Konfrontation ein
Nebenschauplatz des israelisch-palästinensischen Konflikts geworden.
Die Muslime werden aufgeputscht durch TV-Bilder aus den besetzten
Gebieten, in denen unsere Soldaten die palästinensische
Bevölkerung unterdrücken und demütigen, während jüdische
Organisationen die Sharon-Regierung unterstützen. Die meisten Juden
Frankreichs sind Emigranten aus Nordafrika. So kommt es zu vielen
unerfreulichen Vorfällen und erweckt den Eindruck, dass
Antisemitismus zunimmt.
Unsere Regierung gießt noch Öl ins
Feuer, indem sie ihre Vertreter rund um den Globus auffordert, alle
Kritik an ihren Aktionen als Antisemitismus zu stigmatisieren. Auf
diese Weise wird der ganzen Welt - von der UN-Vollversammlung und
dem Internationalen Gerichtshof bis zu humanitären Organisationen -
das Etikett „Antisemitismus“ angehängt.
Es ist leicht, diese Konfusion zu
schaffen, wenn man nicht zwischen „jüdisch“ und „israelisch“
unterscheidet. Alles wird in einen Topf geworfen: Antisemitismus,
Anti-Zionismus, Kritik an Israel, Kritik an Sharon. Solch ein
Durcheinander passt genau denen ins Konzept, die an Manipulationen
interessiert sind – es ist aber nicht gut für die Juden. „Jude“ und
„Israeli“ sind nicht dasselbe.
Israel ist ein Staat wie jeder
andere auch. Er wurde tatsächlich von Juden geschaffen, und die
Mehrheit seiner Bürger sind Juden. Aber Israel ist eine unabhängige
und separate Entität. Es ist zulässig ( und meiner Meinung nach auch
wünschenswert), die Politik unserer Regierung zu kritisieren, so wie
es für uns zulässig ist, die Handlungen von irgend einem anderen
Staat zu kritisieren. Es besteht keine notwendige Verbindung
zwischen solcher Kritik und Antisemitismus.
Es stimmt, die Juden in Israel haben
starke Bindungen zu den Juden in aller Welt, und jene haben eine
starke Verbindung mit Israel. Das ist ganz natürlich, so wie die
Bindung vieler Menschen in Australien und Kanada mit England. Das
heißt aber nicht, dass Juden in aller Welt automatisch jeden Akt der
israelischen Regierung in einer Art Pawlowschen Reflexes
unterstützen müssten. Der israelischen Regierung kommt das nur
zupass – ist aber nicht notwendigerweise gut für Israel. Es ist
sicher schlimm für Juden.
Wir sind Israelis. Wir haben diesen
Staat aufgebaut, um endlich selbst über unser Schicksal bestimmen zu
können. Wir wollen wie jedes andere Volk sein, tatsächlich wie eines
der besten unter ihnen. Wir sind verantwortlich für unsere Taten,
und keiner, der nicht ein Bürger Israels ist, trägt für diese
Verantwortung.
Die jüdischen Bürger Frankreichs
sind für die Handlungen der französischen Regierung, für die sie
stimmen, verantwortlich und vielleicht für die Aktionen der
jüdischen Gemeinde, zu der sie gehören. Sie sind nicht für unsere
Taten verantwortlich. Sie müssen nicht um jeden Preis unsere
Aktionen verteidigen. Wenn sie kritisieren wollen, dann bitte!
Wenn man klar und sauber
differenziert, dann wird der Antisemitismus eine Randerscheinung
bleiben, wie es nach dem Holocaust gewesen ist. Und wenn es uns
Israelis gelingt, wieder auf den Pfad des Friedens zu gelangen, wird
die Haltung gegenüber Israel zu der zurückkehren, wie sie nach Oslo
war, als die ganze Welt vor uns salutierte.
Wenn der Streich der psychisch
gestörten Französin uns hilft, die Hysterie zu überwinden, damit man
sich wieder vernünftig mit dem Problem befasst, dann mag sie dafür
sogar gelobt werden.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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