10 Methoden, Fatah umzubringen
Uri Avnery
979 TAGE sind vergangen, seit der Soldat Gil'ad Shalit gefangen
genommen wurde. An jedem dieser Tage hätte man ihn um den Preis, den
die Hamas von Anfang an forderte, befreien können: Um 450
„bedeutende“ palästinensische Gefängnisinsassen, zusätzlich zu
hunderten von anderen, sowie aller Frauen und Minderjährigen.
Nach der Auffassung unserer Regierung handelt es sich hierbei um die
Rückgabe des "gekidnappten" Soldaten gegen die Freilassung von
"abscheulichen Mördern" mit "Blut an den Händen".
Nach Auffassung der Hamas handelt es sich hier um die Rückgabe des
jüdischen "Kriegsgefangenen", gegen die Freilassung hunderter
"Widerstandskämpfer", die "mutige Angriffe im Gebiet des
zionistischen Feindes" ausgeführt haben.
Viele hatten gehofft, Ehud Olmert würde die Sache noch vor dem Ende
seiner Amtszeit in wenigen Wochen zu Ende bringen. Aber Olmert hat
Angst. In den letzten Wochen hat er in dieser Angelegenheit einige
Kehrtwendungen vorgenommen, einmal so und dann wieder anders herum.
Er befindet sich in einem schweren Dilemma: Was ist populärer? Tun
oder nicht tun?
Wenn er den Gefangenenaustausch durchführt und der Soldat nach Hause
zurückkehrt, wird die Öffentlichkeit vor Freude ganz aus dem
Häuschen sein. Olmert wird zum Helden des Tages. Aber wie lange wird
es anhalten? Zwei Tage? Drei? Eine Woche? Dann wird man fragen: Wie
ist es gekommen, dass diese schrecklichen Mörder frei gelassen
wurden? Morgen werden sie neue Anschläge verüben, jüdisches Blut
wird vergossen, Kinder werden umgebracht. Und Olmert wird zum Unhold
vom Dienst.
Ein Mann von Charakter trifft solch eine Entscheidung und pfeift auf
die Folgen. Olmert aber ist ein reiner Politiker, und nur ein
Politiker, er ist nie mehr gewesen. Er ist mehr zynisch als
moralisch, mehr schlau als klug. Er hofft noch immer, unbeschadet
aus den Korruptions-Untersuchungen zu entkommen, um dann, nachdem
Binyamin Netanyahu und Zipi Livni gescheitert sind, zurück an die
Macht geholt zu werden. Es lohnt sich also vielleicht, die
Shalit-Affaire dem nächsten Premierminister zu überlassen.
HINTER DER persönlichen Erwägung verbirgt sich aber auch ein
politisches Problem. Wie würde sich ein Gefangenenaustausch auf das
Kräfteverhältnis Fatah-Hamas auswirken?
Die Freilassung von 1200 palästinensischen Gefangenen würde in der
palästinensischen Öffentlichkeit als großer Sieg der Hamas
aufgenommen. Hier ist einmal wieder der Beweis, dass die Israelis
nur die Sprache der Gewalt verstehen, wie Hamas es immer behauptet
hat. Für Muhammad Abbas wird es eine große Blamage, besonders, wenn
die Hamas auch die Freilassung von Marwan Barghouti, einer
Führungspersönlichkeit der Fatah, erreicht.
Olmert könnte die Erniedrigung von Abbas verhindern. Er könnte
morgen, als Geste dem palästinensischen Präsidenten gegenüber,
tausend bedeutende Fatah-Leute, vorneweg Barghouti, frei lassen, und
so den Sieg der Hamas trüben.
Einfach? Natürlich. Klug? Natürlich. Möglich? Ganz und gar nicht.
Nicht hier in diesem Land. Nicht für Olmert und seine natürlichen
Freunde. Abbas etwas umsonst geben? Gratis? Ja woher denn?! Kommt
überhaupt nicht in Frage!
Hier wird wieder das Dilemma sichtbar, das die israelische Politik
in Bezug auf die PLO seit Jahrzehnten begleitet. Es ist nicht nur
ein politisches, sondern auch ein psychologisches Dilemma.
VOR MEHR ALS 40 Jahren habe ich das spannende Buch des Psychologen
Eric Berne gelesen: "Games People Play".
Eine der Thesen in diesem Buch spricht davon, dass der scheinbare
Grund einer Handlung oft dem wirklichen, unbewussten Grund
widerspricht. Zum Beispiel: Ein Gewohnheits-Krimineller versucht,
eine Bank auszurauben, wird geschnappt und ins Gefängnis geschickt.
Offen sichtlich ist sein Motiv: Er möchte mühelos reich werden. Sein
wirkliches Motiv aber ist ein ganz anderes: Er fürchtet sich vor dem
Leben außerhalb der Gefängnismauern. In seinem Unterbewusstsein
hofft er, geschnappt und ins Gefängnis gesteckt zu werden, dort
fühlt er sich wohl, seine Position in der Hierarchie der Insassen
ist gesichert.
Wenn ich an das seltsame Verhältnis der israelischen Regierungen zur
PLO denke, fällt mir oft diese Theorie ein.
IM SEPTEMBER 1993, nach einem langen, blutigen Kampf, unterzeichnete
Yitzhak Rabin einen Vertrag mit Yassir Arafat, in dem er die PLO als
alleinigen Vertreter der Palästinenser anerkannte. Die logische
Schlussfolgerung war, dass Israel die Errichtung eines
palästinensischen Staates neben dem israelischen unterstützte, und
alles unternähme, um Arafat und die "Palästinenserbehörde", die
infolge des Vertrags eingerichtet wurde, zu stärken.
Dann aber, wie seltsam, taten alle israelischen Regierungen genau
das Gegenteil.
Rabin selbst fing am Morgen nach den Oslo-Verträgen schon damit an.
Nachdem er beschlossen hatte, es läge im nationalen Interesse
Israels, mit Arafat zusammen zu arbeiten, wäre es vernünftig
gewesen, Arafats Autorität in der Westbank und im Gazastreifen zu
stärken und so bald wie möglich, noch vor der in den Oslo-Verträgen
gesetzten Zeitgrenze 1999, einen Friedensvertrag mit ihm zu
unterzeichnen.
Trotz seines dämonischen Rufs in Israel war Arafat ein idealer
Partner. Er war eine starke Führungspersönlichkeit von allgemein
anerkannter Autorität in allen Teilen der palästinensischen
Bevölkerung, auch bei denen, die ihn kritisierten, also auch bei
Hamas. Er verfügte über zwei Eigenschaften, die zum Schließen von
Frieden unabdingbar sind: Den Willen dazu, ein Übereinkommen zu
erreichen und die Fähigkeit, sein Volk davon zu überzeugen, es
anzunehmen.
Aber seltsamerweise tat die israelische Regierung genau das
Gegenteil. Die Friedensverhandlungen führten nirgendwo hin.
Errichtung und Ausbau von Siedlungen wurden verstärkt fortgeführt.
Überall in den besetzten Gebieten konnte man die neuen roten
Ziegeldächer der Siedler entdecken. Die lebensnotwendige Passage
zwischen Westbank und Gazastreifen wurde nicht eröffnet – trotz der
ausdrücklichen Verpflichtung der israelischen Regierung, vier
"sichere Übergänge" zu öffnen. Nicht nur, dass die wirtschaftliche
Situation der Palästinenser sich nicht besserte, im Gegenteil, sie
wurde schlechter. Vor Oslo konnten die Palästinenser sich im ganzen
Land bewegen, auch in Israel selbst, ausgerechnet nach dem Abkommen
wurde ihre Bewegungsfreiheit mehr und mehr beschränkt.
All das geschah noch zu Zeiten Rabins. Nach seiner Ermordung ist es
sehr viel schlimmer geworden. Der ausgesprochen dumme Beschluss
seines Nachfolgers Shimon Peres, den "Ingenieur", den Bomben-Macher
Jahya Ajash umzubringen, führte zu einer Welle von Anschlägen und
förderte den guten Ruf der Hamas in der palästinensischen
Öffentlichkeit – was dem israelischen Interesse, wie es von unserer
Führung bestimmt wurde, sicher widersprach.
Auf der Camp-David-Konferenz 2000 wurde dann der Höhepunkt erreicht.
Der damalige Premierminister Ehud Barak initiierte sie und ließ sie,
in einer jämmerlichen Mischung aus Angeberei und Ignoranz,
scheitern. Anstatt nun zu verkünden, die Gespräche würden weiter
geführt, bis ein Abkommen erreicht würde, verbreitete er
gebetsmühlenartig das Mantra: "Wir haben niemanden zum Reden! Wir
haben keinen Partner für den Frieden!" Er wurde auch durch den üblen
Einfluss seines (damaligen und jetzigen) Beraters Amos Gilad
inspiriert, der Geheimdienstberichte verdrehte, bis sie ihm in den
Kram passten.
Barak zerstörte nicht nur die "zionistische Linke", er versetzte
auch der Fatah einen Schlag, von dem sie sich nicht erholen sollte,
der Fatah, die dem palästinensischen Volk den Frieden mit Israel
versprochen hatte. Damit nicht genug, gestattete Barak Ariel Sharon
seinen provokativen Besuch auf dem Tempelberg, in Begleitung von
hunderten von Polizisten und Soldaten. So verursachte er die zweite
Intifada und bereitete den Weg für Sharon.
Als Sharon 2001 an die Macht kam, war er fest entschlossen, Arafat
und die Fatah zu zerstören. Er belagerte Arafat in seinem Büro in
der Mukata in Ramallah und zerstörte die Infrastruktur der Fatah in
der gesamten Westbank. Nachdem Arafat ermordet wurde (es ist nicht
schwer, zu erraten, von wem), wurde Abbas an seine Stelle gewählt.
Im Gegensatz zu Arafat, der jahrzehntelang von der israelischen
Führung dämonisiert und geschmäht wurde, hatte Abbas in Israel den
Ruf eines netten, friedliebenden Mannes, eines wahrhaft idealen
Partners für den Frieden. Man hätte nun meinen können, die
israelische Regierung hätte sich Mühe gegeben, sein Regime durch
Fortschritte in den Verhandlungen zu stärken, durch Freilassen von
Gefangenen, durch Siedlungs-Stop. Aber nein, überraschenderweise
geschah genau das Gegenteil. Sharon machte sich öffentlich über ihn
lustig, er sei ein "gerupftes Huhn", die Siedlungen wurden mit
erhöhter Geschwindigkeit weiter gebaut und in Windeseile wurde die
Mauer errichtet.
Zu allem Überfluss führte Sharon den "Abzug" aus dem Gazastreifen
ohne jede Absprache mit palästinensischen Behörden durch, und
hinterließ so ein Chaos, in dem die Hamas blühen und gedeihen
konnte.
DIE FOLGEN ließen nicht lange auf sich warten: In den international
überwachten palästinensischen Wahlen konnte die Hamas einen Sieg
erringen, der alle überraschte, nicht zuletzt die Hamas selbst.
Israel boykottierte die neue Hamas-Regierung. Um den Schaden für
seine Bewegung zu begrenzen, stimmte Abbas zu, eine
Einheitsregierung mit Fatah und Hamas zu bilden, aber Israel
boykottierte auch diese Regierung.
Diese Situation nützte natürlich der Hamas. Die palästinensische
Unterstützung von Abbas basiert hauptsächlich auf der Hoffnung, er
könne Frieden mit Israel bringen. Wenn er das nicht kann, wozu ist
er dann zu gebrauchen?
Die israelische Regierung – und ihre Satelliten in Washington DC –
gaben sich damit nicht zufrieden. Sie versuchten, im Gazastreifen
Muhammad Dahlan an die Macht zu bekommen, einen Mann, der von vielen
Palästinensern als Agent der israelischen und der US- Regierung
betrachtet wird. Um dies zu verhindern, ergriff die Hamas im
Gazastreifen die Herrschaft und so entstand "Hamastan". Abbas verlor
also die Macht über fast die Hälfte der Palästinenser in den
besetzten Gebieten.
So etwas wäre nicht möglich gewesen ohne die absolute Trennung des
Gazastreifens von der Westbank durch Israel, womit Israel Verträge
verletzte, die es unterzeichnet hatte. In den Oslo-Abkommen heißt es
ausdrücklich, Gazastreifen und Westbank sind als ein Gebiet
anzusehen, und Israel verpflichtete sich "vier sichere Übergänge"
zwischen den beiden einzurichten. Es ist kein einziger Übergang
eingerichtet worden, nicht einmal für einen einzigen Tag. Wer also
behauptet, Israel habe der Hamas den Gazastreifen auf einem
silbernen Tablett überreicht, hat nicht übertrieben.
Alles weitere ist bekannt: Israel blockierte den Gazastreifen, Hamas
schoss Raketen auf Israel, ein Waffenstillstand wurde erklärt, die
israelische Armee brach ihn, indem sie in den Gazastreifen
einmarschierte und einige Hamas-Aktivisten tötete, Hamas schoss
weiter Raketen, Israel begann den Gaza-Krieg. Die israelische
Führung verkündete, sie führe diesen Krieg auch für Abbas, und so
gelang es ihr, ihn in den Augen der Palästinenser als Kollaborateur
mit dem Feind gegen sein eigenes Volk darzustellen. Das Regime der
Hamas in Gaza blieb wie gehabt.
Das Ergebnis netto: Die Hamas geht aus den Ereignissen unermesslich
gestärkt hervor. Allen Erwartungen zufolge wird sie in den nächsten
palästinensischen Wahlen an Macht gewinnen. Die meisten Regierungen
in der Welt haben jetzt verstanden, dass man mit Hamas Gespräche
führen muss.
VIELE LEUTE auf der Welt glauben der antisemitischen Behauptung, die
Juden wären ein außerordentlich kluges Volk, und all ihre Handlungen
bezeugten ihre diabolische Schlauheit. Demnach wäre der Aufstieg der
Hamas das Ergebnis einer ausgetüftelten zionistischen Konspiration.
Die Existenz von Abbas (und vor ihm Arafat) hindert die Juden daran,
das ganze Land zu beherrschen, da die Welt einen Kompromiss mit der
"moderaten" palästinensischen Führung fordert. Die Welt akzeptiert
aber, dass mit der mörderischen Hamas kein Kompromiss geschlossen
werden kann, deshalb sind die schlauen Juden so interessiert an
einem Sieg der Hamas.
Andererseits glauben viele Israelis, ihre Regierungen seien
zusammengesetzt aus unglaublich dummen Politikern, die keine Ahnung
haben, was sie tun. Diese Israelis glauben, dass all die Aktionen,
die die Fatah geschwächt und die Hamas gestärkt haben, einfach das
Ergebnis israelischer Dummheit sind.
Ich möchte einen Kompromiss zwischen diesen beiden Auffassungen
vorschlagen: Die israelische Politik ist in der Tat unglaublich
dumm, aber in der Dummheit liegt Methode. Sie kann nur so weiter
gehen, weil sie einer tief verwurzelten Neigung folgt, derer sich
die meisten nicht bewusst sind oder die sie nicht zugeben mögen: Das
gesamte Erez Israel zu behalten und die Entstehung eines
palästinensischen Staats nicht zu ermöglichen.
Wenn wir das ändern wollen, müssen wir diese unbewusste Neigung ins
Bewusstsein rufen und eine ehrliche Diskussion eröffnen. Wollen wir
Frieden oder die Gebiete? Wollen wir Koexistenz oder Besatzung und
ewigen Krieg?
Es ist zu spät, um das Rad zurück zu drehen. Hamas ist ein Teil der
Realität geworden. Es liegt in israelischem Interesse, dass eine
palästinensische Einheitsregierung gebildet wird, eine Regierung,
mit der wir ein Abkommen erreichen können, das auch eingehalten
wird. Wenn wir beim Erstarken der Hamas und ihrem wachsenden
Einfluss unter den Palästinensern schon so eine zentrale Rolle
gespielt haben, sollten wir langsam anfangen, mit ihr zu reden.
So können wir auch Gil'ad Shalit in einem Gefangenenaustausch frei
bekommen – vor seinem tausendsten Tag in Gefangenschaft.
(dt. Weichenhan-Mer Gudrun, vom Verfasser autorisiert)
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