Drei Finger, keine Faust
Uri Avnery, 9.1.06
Ein
politisches Erdbeben vor einer Wahl ist
ungewöhnlich, aber nicht unbekannt. Ein zweites Erdbeben vor einer
Wahl ist noch seltener. Aber ein drittes Erdbeben vor einer Wahl,
kurz nach den beiden ersten – ist wirklich unheimlich.
Doch jetzt ist
es geschehen. Die Nominierung von Amir Peretz als Führer der
Laborpartei hatte schon die politische Landschaft Israels verändert.
Das veranlasste Ariel Sharon, die Kadima-Partei zu schaffen, was wie
ein „Urknall“ die Landschaft noch einmal veränderte - und nach dem
Schlaganfall Sharons veränderte sich diese zum 3. Mal – und
diesmal bis zur Unkenntlichkeit.
Achtzig Tage
vor den Wahlen beginnt der Wettkampf noch einmal von vorne. Was wird
mit der Kadima-Partei geschehen? Was für ein Führer wird Ehud
Olmert sein? Wie werden die Parteien die Wahlen durchstehen? Wer
wird der nächste Ministerpräsident sein? Welche Koalition wird
entstehen?
Wichtige Fragen.
Auf keine kann man heute eine klare Antwort geben.
Kadima wurde als Sharons persönliche Partei geboren. Er war der
Kitt, der den Extremen vom rechten Flügel wie Tsachi Hanegbi und
den selbsterklärten Peacenik Shimon Peres, den Militaristen Shaul
Mofaz und den früheren linken Gewerkschaftsführer Haim Ramon
zusammenhielt.
Der erste
Gedanke nach Sharons Schlaganfall war: dies ist das Ende von Kadima.
Ohne Sharon wird das Paket auseinander fallen. Es wird nur eine arme
Gruppe Waisen übrigbleiben, so etwas wie ein politisches
Flüchtlingslager.
Aber das ist
keineswegs sicher. Falls sich jemand diesem Projekt nur deshalb
angeschlossen hat, weil er Sharon anbetet oder eine Vaterfigur
braucht, der wird zu seiner früheren Partei zurückkehren. Aber wenn
jemand in Kadima eine neue Heimat gefunden hat, der wird bleiben.
Wer also?
Zunächst mal die Opportunisten, die keine Chance haben, sonst einen
Knessetsitz zu ergattern.
Aber nicht nur
sie. Kadima hat zwar kein wirkliches Programm, keine Ideologie. Aber
seine verschwommenen Gefühle und vagen Ideen können als Ersatz für
ein Programm gelten. Viele Leute hegen einen nebelhaften Wunsch nach
Frieden – aber nicht einen Frieden mit klar umrissenen Konturen, mit
klarem Preis, der sich auf einen Kompromiss mit den Palästinensern
stützt, sondern eine Art abstrakter „Frieden“. Das entspricht dem
Slogan: man kann den Arabern nicht trauen, man kann mit Arabern
keinen Frieden machen. Dieser elementare Rassismus – vielleicht die
natürliche Folge von 120 Jahren Krieg und Konflikt - zusammen mit
dem Gefühl, dass das die Jüdischkeit Israels verstärkt und dass
jüdische Traditionen erhalten werden sollten, ein vages, aber
starkes Gefühl.
Alles zusammen
ist eine Mischung, die einen großen Teil der israelisch-jüdischen
Öffentlichkeit anzieht. Sie kann als bequeme Alternative gegenüber
der klaren Haltung der Linken und der Rechten gelten – um so mehr,
seitdem die Öffentlichkeit gegenüber Programmen, Ideologien und
allem, was wie Wunderkur aussieht, tief misstrauisch geworden ist.
Der Slogan könnte heißen: je verschwommener, desto besser.
Bis jetzt
setzten die Leute von Kadima ihr Vertrauen in Sharon – in der
Überzeugung, er wisse, was zu tun sei, wenn die Zeit gekommen ist.
Sie waren sich sicher, dass er Lösungen hat - auch wenn sie nicht
wussten, wie sie aussehen – und tatsächlich ohne den Wunsch, es zu
wissen. Sie wussten, dass er es wusste – das war genug. Nun kann
sich diese Unklarheit in einen Vorteil verwandeln. Eine Partei, die
auf nichts eine klare Antwort hat, kann jeden anziehen.
Nun kann die
Partei, die sich „Vorwärts“ nennt, rückwärts gehen. Sie wird nicht
die 42 Sitze haben, die durch Meinungsumfragen Sharon versprochen
wurden. Aber wie viele werden bleiben? Man kann nur raten, und raten
ist nicht viel wert. Ich rate: nicht weniger als 15, nicht mehr als
30.
Man steht der Tatsache gegenüber, dass mit Sharons Abzug der politischen
Arena, es dort keine hervorragenden Persönlichkeiten, keine
charismatischen Führer gibt. Ob gut oder schlecht, Israel wird jetzt
ein normales Land nach westlichem Muster mit normalen politischen
Parteien sein, die von normalen Politikern angeführt werden.
Und kein
Politiker ist normaler als Ehud Olmert: der Inbegriff eines
Politikers, der nie etwas anderes als ein Politiker war, ein
Politiker netto.
Er ist keine
Vaterfigur; auch kein ruhmreicher General oder ein großer Denker. Er
hat kein Charisma, keine Vision, auch keine besondere Integrität. Am
Anfang seiner Karriere hat er einige verraten, die ihn
begünstigten. Aber er ist gerieben, klug, nüchtern sachlich,
ehrgeizig, beim Fernsehen schlagfertig, ein Politiker ohne
dramatische Posen.
Er landete durch
reinen Zufall in seiner gegenwärtigen Position. Der Titel
„Stellvertretender Ministerpräsident“ wurde ihm seinerzeit als eine
Art Trostpreis gegeben, weil Sharon seine dringende Bitte, das
mächtige Finanzministerium zu erhalten, nicht erfüllen konnte. Er
hatte es schon Netanyahu versprochen gehabt. Als eine Art
Kompensation bot Sharon Olmert einen Titel an, der ziemlich
bedeutungslos war, weil dies nur hieß, dass Olmert die
Kabinettssitzungen bei den seltenen Gelegenheiten leiten sollte,
wenn Sharon im Ausland weilte.
Nun wurde
plötzlich der nichtssagende Titel zu einem exzellenten Sprungbrett.
Das automatische Verfahren brachte Olmert zum zeitweiligen
Nachfolger von Sharon – und in der Politik ist bekanntermaßen nichts
so permanent wie das Zeitweilige. Der erste, der solch eine
Position inne hat, hat gegenüber allen anderen Herausforderern einen
großen Vorteil.
Man kann Olmert
vertrauen, dass er keine törichten Dinge tut. Sein Ego wird ihn
nicht in eine Falle locken, wie es Netanyahu häufig geschah. Er ist
auch viel erfahrener und verschlagener als Amir Peretz.
Wenn er bis zu
den Wahlen eine feste Hand behält, dann hat er eine Chance, der
nächste Ministerpräsident zu werden.
Die
israelische Politik ähnelt jetzt den drei
Fingern einer Hand: Likud, Kadima und Labor. Drei Finger anstelle
einer Faust.
Es ist nicht
ausgeschlossen, dass die drei Parteien am Wahltag fast identische
Resultate erlangen werden, etwa um 25 Sitze. Wenn eine von ihnen
ein besseres Resultat erreicht als die beiden anderen, dann wird ihr
Führer wahrscheinlich aufgerufen werden, die nächste Regierung zu
bilden.
Während die drei
praktisch gleich sind, hat Kadima den Vorteil, den Platz in der
Mitte zu halten. Wenn drei in einem Bett liegen, ist der in der
Mitte immer zugedeckt. In solch einem Fall wird Olmert in der Lage
sein, entweder mit dem Likud oder mit Labor eine Koalition zu
bilden. Er wird keine ideologischen Skrupel haben. Er kann ein
Linker oder ein Rechter sein - je nachdem was erforderlich ist.
Diese Situation
stellt eine Herausforderung für Peretz dar. Seit seiner Nominierung
hat sich seine Kampagne nicht vom Boden gehoben. Die massive
Gestalt Sharons ließ keinen Platz für Konkurrenten. Sharon hatte die
Initiative – und die Medien tanzten um ihn herum. Jetzt mit Olmert
hat Peretz eher eine Chance - vorausgesetzt er macht deutlich, dass
er kein zweiter Olmert ist. Unklarheit ist für Olmert gut, aber
nicht für Peretz.
Peretz hat den
Slogan gewählt: „Die Zeit ist gekommen!“ Ein vager Slogan, der
nichts besagt. Er müsste jetzt nach vorne stürmen und Führung
demonstrieren, gewagte Initiativen ergreifen, die Phantasie
beflügeln, beweisen, dass er fähig ist, auf beiden Gebieten, in
Sachen Frieden und auf sozialer Ebene, eine Revolution in Gang zu
bringen. Es ist nicht einfach zu gewinnen, aber einfach zu
verlieren. Es liegt jetzt ganz bei ihm.
Und all dies
gilt natürlich auch für Netanyahu auf der anderen Seite.
Nach dem
dritten Erdbeben sind diese Wahlen gut für
die Demokratie. Es ist seit Jahren das erste Mal, dass die
Öffentlichkeit drei klaren Optionen gegenüber steht, die von drei
Parteien mit drei Führern vertreten werden.
-- Auf der
Rechten ist der Likud unter Netanyahu, der für die Fortsetzung der
Besatzung und die Erweiterung der Siedlungen kämpft, für den das
Land wichtiger ist als Frieden.
-- In der Mitte
ist Kadima unter Olmert, der Sharon nachzufolgen versucht: Gebiete
zu annektieren und für Israel einseitig neue Grenzen festzulegen,
verbunden mit ein paar bedeutungslosen Gesten, die mit vagen
Slogans über Frieden gewürzt sind.
--Auf der Linken
ist Labor unter Amir Peretz, der nach wirklichen Verhandlungen mit
den Palästinensern rufen wird, die dahin zielen, den Konflikt zu
einem Ende zu bringen.
Wenn diese
Alternativen scharf umrissen sind und wenn die Kandidaten nicht
versuchen, die Unterschiede zwischen ihnen zu verwischen, dann
könnten diese Wahlen wirklich demokratisch sein und der
Öffentlichkeit eine wirkliche Chance bieten.
Die Wähler
werden die Wahl nun selbst treffen müssen, statt ihr Schicksal den
Händen eines Übervaters zu überlassen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser .autorisiert )
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