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Olympische Juden
Uri
Avnery, 20.August 2016
DIE SZENE
am Ben Gurion-Flughafen dieser Woche war ziemlich erstaunlich.
Mehr als ein
Tausend männlicher Fans kamen, um zwei israelische Judokämpfer – ein
weiblicher und ein männlicher - willkommen zu heißen. Sie hatten
beide bei den Olympischen Spielen in Rio eine Bronze-Medaille
gewonnen.
Es war ein sehr
lauter Empfang. Die Menge wurde wild, schrie, stieß, erhob die
Fäuste.
Doch Judo ist in
Israel kein sehr populärer Sport. Die israelischen Sportbegeisterten
drängen sich bei Fußballspielen wie auch in Basketballplätzen. Doch
bei diesen beiden Sportarten ist Israel weit davon entfernt,
irgendwelche Medaillen zu gewinnen.
So wurden
israelische Mengen plötzlich Judo-Fans (einige nannten es „Jehudo“).Leute,
die nicht wild begeistert waren, wurden als Verräter angesehen. Wir
hörten nichts über Judo-Kämpfer, die die Gold- oder Silber-Medaille
bekamen. Gab es da irgendwelche?
WIR KÖNNEN
uns nur vorstellen, was geschehen wär, wenn die israelische
Olympia-Mannschaft arabische Athleten eingeschlossen hätte. Araber?
In unserer Mannschaft ?
Stimmt, die Araber
bilden etwa 20% der israelischen Bevölkerung und einige sind im
Sport sehr aktiv. Aber Gott – oder Allah – retteten uns vor diesen
Kopfschmerzen. Keiner schaffte es nach Rio.
Doch da gibt es
noch eine andere Frage, der Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.
Israel ist nach seiner offiziellen Definition ein „jüdischer Staat“.
Er behauptet, dem jüdischen Volk zu gehören. Er betrachtet sich
selbst in einer Weise als das Hauptquartier des „Weltjudentums“.
Warum hat also
keiner in Israel das geringste Interesse an Medaillen, die von Juden
und Jüdinnen in andern nationalen Delegationen gewonnen wurden? Wo
ist die jüdische Solidarität? Wo bleibt der jüdische Stolz?
Nun, er existiert
einfach nicht, wo es zählt. Bei den Olympischen Spielen, einem
höchst nationalistischen Ereignis, kümmert sich niemand um die
Diaspora-Juden.
Zur Hölle mit
ihnen.
Es scheint, dass im
Sport, mehr als anderswo der Unterschied zwischen Israelis und Juden
fundamental ist. Tatsächlich so fundamental, dass nicht einmal die
Frage gestellt wird. Wer kümmert sich darum.
DIE FRAGE
wurde im Verlauf einer Debatte gestellt, die kürzlich auftauchte. Es
begann mit einem kleinen Artikel von mir in der liberalen
israelischen Zeitung: Haaretz. Ich deutete darauf hin, dass einige
der besten und intelligentesten der israelischen Jugendlichen
ausgewandert seien und in fremden Ländern Wurzeln fassen würden.
Seltsamerweise ist ihr größter Wunsch für eine neue Heimat
Deutschland und die beliebteste Stadt ist Berlin. Ich bat die
Emigranten höflich, zurückzukommen. Und an dem Kampf teilzunehmen,
um „Israel vor sich selbst zu retten“.
Einige der Israelis
in Berlin lehnten höflich ab. Nein, Danke, sagten sie. Sie fühlen
sich in der früheren Reichshauptstadt zu Hause und haben absolut
keine Absicht, nach Israel zurückzukommen.
Ich war von der
Tatsache berührt, dass keiner der Schreiber die jüdische Gemeinde in
Berlin oder anderswo auch nur erwähnte. Sie sehen sich selbst nicht
als Mitglieder der weltweiten jüdischen Gemeinde, sondern eher als
Mitglied einer neuen israelischen Diaspora: wie die meisten Israelis
hegten sie eine geheime Verachtung für Diaspora -Juden.
Aber dies kann
nicht anhalten. Außer für jene, die sich vollständig von der
Religion und Tradition befreit haben, benötigen die Israelis im
Ausland noch immer einen Rabbi um verheiratet zu werden und ihren
neugeborenen Sohn beschneiden zu lassen und am Ende um auf einem
jüdischen Friedhof beerdigt zu werden. Über kurz oder lang werden
sie ein volles Mitglied der lokalen jüdischen Gemeinde.
Für diese Juden
wird der ganze Prozess innerhalb von sechs oder sieben Generationen
beendet worden sein – vom Diasporajuden zum Israeli, vom Israeli
zurück zum Diaspora-Juden.
DER GRÜNDER
des politischen Zionismus, Theodor Herzl, glaubte, dass nach der
Errichtung des „Judenstaates“ (nicht unbedingt in Palästina), alle
Juden der Welt dorthin gehen und dort siedeln würden. Diejenigen,
die nicht dorthin gehen, würden sich in dem Land, in dem sie lebten,
assimilieren und aufhören, Jude zu sein.
Dies war eine
einfache Idee, weil Herzl eine naive Person war, die sehr wenig über
die Juden wusste. Deshalb stellte er sich einen zukünftigen
Unterschied zwischen den Juden im jüdischen Staat und all den
anderen nicht vor, die dort blieben, wo sie waren oder in andere
Länder emigrierten wie z.B. in die USA. Der Terminus „Jude“
bedeutete vielen verschiedene Dinge.
Die Juden waren
stolz, über ein „jüdisches Volk“ zu reden, über ein einzigartiges
Volk, das über die ganze Welt zerstreut war. Tatsächlich gab es
nichts Einzigartiges darüber: dies war die normale Situation im
byzantinischen Reich und später im ottomanischen Kalifat. Einige
Aspekte wurden im britischen Mandat aufrecht erhalten und bestehen
sogar heute noch in den Gesetzen Israels.
Unter diesem
System, das von den Türken „Millet“ genannt wurde, waren die Völker
keine territoriale Einheit, sondern geographisch zerstreute
religiöse Gemeinschaften, die von ihren eigenen religiösen Führern
regiert wurden, und dem Kaiser oder Sultan unterworfen waren. Die
Juden waren diesbezüglich nicht anders als die Hellenisten, den
verschiedenen christlichen Sekten oder später die Muslime.
Erst mit dem Kommen
moderner Nationen, die sich auf Territorien gründen, wurden die
Juden fast einzigartig. Andere religiöse Einheiten reformierten sich
selbst und wurden moderne Völker. Die hartnäckigen Juden wiesen die
Veränderung ab und blieben eine ethnisch-religiöse Einheit.
Herzl und seine
Anhänger wollten dies verändern und verspätet Juden in eine moderne
Nation bringen, mit einem eigenen „Vaterland“. Das war die
Bedeutung des Zionismus‘.
Warum machten sie
keine klare Unterscheidung zwischen den Mitgliedern ihrer neuen
Nationen und den Juden in aller Welt? Nun, es gab nie eine
zionistische Ideologie wie die marxistische. Sie befürchteten auch,
dass eine klare Trennung von der jüdischen Religion ihrer Sache
schaden könne. So brachten sie alles durcheinander – die jüdische
Religion, die jüdische Diaspora, das jüdische Volk, der jüdische
Staat – Das war alles dasselbe.
Die Idee war, wenn
man keinen Unterschied zwischen einem Juden in Berlin und einem
Juden in Tel Aviv machte, es für Juden in aller Welt einfacher war,
nach Israel zu gehen. Keiner dachte über die Tatsache nach, dass
diese Brücke zwei Richtungen hatte. Wenn es so einfach war von
Berlin nach Tel Aviv zu kommen, war es auch sehr einfach von Tel
Aviv nach Berlin zu gehen. Das ist es, was jetzt geschieht.
DIES KÖNNTE
nicht geschehen sein, wenn die neue Nation, die vom Zionismus
geschaffen wurde, mit einem neuen Namen genannt worden wäre.
Eine kleine Gruppe
von Intellektuellen schlug vor 70 Jahren genau dies vor. Sie wollten
die Mitglieder der neuen Nation in Palästina „Hebräer“ nennen,
während sie die Mitglieder der Diaspora weiter –„Juden“ nennen
wollten“. Dies wurde von den Zionisten ernsthaft verurteilt. Jedoch
hat die Umgangssprache unbewusst diese Unterscheidung adoptiert. Sie
setzte sich offiziell nie durch.
Mit der Errichtung
des Staates Israel, schien es eine natürliche Lösung zu geben. Da
gab es die jüdische Diaspora und es gab den Staat Israel. Juden in
Israel wurden Israelis und waren stolz darauf. Wenn sie im Ausland
gefragt werden, was sie seien, würden sie natürlich „ ich bin ein
Israeli“ antworten, niemals „ich bin ein Jude“. Ich glaube, dass ein
junger israelischer Auswanderer in Berlin von heute dieselbe Antwort
geben würde.
Da gibt es aber ein
Problem: mehr als 20% der israelischen Bürger sind Araber. Sind sie
in das Konzept der israelischen Nation eingeschlossen? Die meisten
von ihnen und fast alle jüdischen Israelis würden mit einem Nein
antworten. Sie betrachten sich selbst als palästinensische
Minderheit in Israel.
Die einfache Lösung
würde sein, die „israelischen Araber“ als eine nationale Minderheit
mit den vollen Rechten einer Minderheit anzuerkennen. Aber die
israelische Führung ist völlig unfähig, dies zu tun. Deshalb haben
wir eine ziemlich groteske Situation: die israelische
Regierungsregistrierungs-Behörde, die nach der Nationalität des
einzelnen fragt, weigert sich, „israelisch“ zu registrieren und
besteht auf „jüdisch“ oder „ arabisch“. (In Israel bedeutet
Nationalität nicht Staatsbürgerschaft).
Ein Appell wurde
von einer Gruppe israelischer Bürger (auch von mir) an das Oberste
Gericht gegen diese Entscheidung gerichtet, er wurde aber abgelehnt.
Einmal hatte ich
darüber ein Gespräch mit Ariel Sharon. Ich fragte ihn: „Was bist du
als erstes, ein Israeli oder ein Jude?“ Er antwortete ohne zu
zögern: „Als erstes bin ich ein Jude, erst dann ein Israeli.“ Meine
Antwort war das Gegenteil: „Ich bin zuerst ein Israeli, erst dann
ein Jude.“
Sharon wurde in
einem kommunalen Dorf geboren und wusste fast nichts über das
Judentum. Er wurde aber im israelischen Bildungssystem erzogen, das
völlig darauf angelegt ist, Juden zu erziehen..
Falls er heute
leben würde, würde Sharon sicherlich den israelischen Judokas
gratulieren. Es wäre ihm nicht eingefallen, nach jüdischen
Olympiasiegern zu fragen.
(dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasserautorisiert)
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