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Der Al-Jazeera –Skandal
Uri Avnery, 29.Januar 2011
ICH DACHTE immer, dies wäre ein spezifisch israelischer Zug: wann
immer ein Skandal nationaler Proportion ausbricht, ignorieren wir
die entscheidenden Punkte und lenken unsere Aufmerksamkeit auf
zweitrangige Dinge. Dies erspart uns, uns mit den eigentlichen
Problemen zu befassen und schmerzliche Entscheidungen zu treffen.
Da gibt es Beispiele in Hülle und Fülle. Das klassische Beispiel
konzentriert sich auf die Frage: „Wer gab den Befehl?“ Als bekannt
wurde, dass 1954 einem israelischen Spionagering befohlen worden
war, in amerikanischen und britischen Institutionen in Ägypten
Bomben zu legen, um Bemühungen zu sabotieren , die Beziehungen
zwischen dem Westen und Gamal Abd-al Nasser zu verbessern, brach in
Israel eine große Krise aus. Fast keiner fragte, ob die Idee als
solche weise oder töricht war. Fast keiner fragte, ob es im
eigentlichen Interesse Israels war, den neuen und rigorosen
ägyptischen Führer herauszufordern, der schnell das Idol der
arabischen Welt wurde ( und der schon im Geheimen andeutete, dass er
mit Israel Frieden schließen könnte.)
Nein , die Frage war nur: Wer hatte den Befehl gegeben? Der
Verteidigungsminister Pinhas Lavon oder der Chef der
Nachrichtendienste Binjamin Gibli? Die Frage erschütterte die
Nation, stürzte die Regierung und veranlasste David Ben Gurion, die
Labor-Partei zu verlassen.
Vor kurzem drehte es sich beim türkischen Flotilla-Skandal um die
Frage: war es eine gute Idee, ein Kommando an Seilen auf das Schiff
hinunter zu lassen oder hätte eine andere Angriffsweise genommen
werden sollen? Fast keiner fragte: Sollte über Gaza überhaupt eine
Blockade verhängt werden ? Wäre es nicht klüger, mit der Hamas zu
reden? War es eine gute Idee, auf hoher See ein türkisches Schiff
anzugreifen?
Es scheint so, als ob diese speziell israelische Weise, sich mit
Problemen auseinander zu setzen, ansteckend sei. (Auch) in dieser
Hinsicht fangen unsere Nachbarn an, uns zu ähneln.
DAS AL-JAZEERA-Fernsehnetz fing in dieser Woche damit an, Wickileads
zu imitieren, indem es eine Menge geheimer palästinensischer
Dokumente veröffentlichte. Sie geben ein detailliertes Bild der
israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen, besonders
während der Zeit von Ministerpräsident Ehud Olmert, als die Kluft
zwischen den Parteien immer kleiner wurde.
In der arabischen Welt verursachte dies große Aufregung. Sogar
während die „Jasmin-Revolution“ in Tunesien noch voll im Gange war
und Menschenmassen in Ägypten gegen das Mubarak-Regime
demonstrierten, erregten die Al-Jazeera-Enthüllungen eine intensive
Kontroverse.
Aber worum ging es eigentlich? Nicht um die Position der
palästinensischen Unterhändler, nicht um die Strategie von Mahmoud
Abbas und seiner Kollegen, ihre eigentlichen Voraussetzungen, die
Pros und Contras.
Nein – nach israelischer Weise war die Hauptfrage: wer enthüllte die
Dokumente? Wer lauert im Schatten? Die CIA? Der Mossad? Welches
waren ihre finsteren Motive?
Bei Al-Jazeera wurden die palästinensischen Führer des Verrates und
schlimmerer Dinge angeklagt. In Ramallah wurden die Al-Jazeera-Büros
von Pro-Abbas-Mengen angegriffen. Saeb Erekat, der palästinensische
Hauptunterhändler, erklärte, Al-Jazeera habe tatsächlich zu seiner
Ermordung aufgerufen. Er und andere leugnen, dass sie jemals die
Konzessionen gemacht hätten, die in den Dokumenten angedeutet
werden. Sie scheinen öffentlich damit einverstanden zu sein, dass
solche Konzessionen einem Verrat gleichkommen – obwohl sie ihnen im
Geheimen zustimmten.
All dies ist Unsinn. Jetzt, wo die palästinensischen und
israelischen Verhandlungspositionen öffentlich gemacht wurden – und
keiner ihre Authentizität ernsthaft bestreitet – sollte die
wirkliche Diskussion über ihre Substanz beginnen.
FÜR JEDEN, der in irgendeiner Weise mit den
israelisch-palästinensischen Friedensunterhandlungen engagiert war,
gab es bei diesen Enthüllungen nichts wirklich Überraschendes.
Im Gegenteil zeigen sie, dass die palästinensischen Unterhändler
sich streng an die von Arafat gesetzten Richtlinien gehalten haben.
Ich weiß darum aus erster Hand, weil ich die Gelegenheit hatte, mit
Arafat selbst darüber zu diskutieren. Es war 1992 nach der Wahl von
Yitzhak Rabin. Rachel und ich flogen nach Tunis, um „Abu Amar“ (wie
er selbst gern genannt werden wollte) zu treffen. Der Höhepunkt des
Besuches war ein Treffen, an dem außer Arafat selbst mehrere
palästinensische Führer teilnahmen – unter ihnen Mahmoud Abbas und
Yasser Abed-Rabbo.
Alle waren äußerst neugierig auf die Persönlichkeit Rabins, den ich
gut kannte. Sie befragten mich eingehend nach ihm. Meine Bemerkung,
dass „Rabin so redlich ist, wie ein Politiker nur sein kann“ löste
großes Gelächter aus, am meisten bei Arafat.
Aber der Hauptteil des Treffens war einem Überblick über die
Schlüsselprobleme des israelisch-palästinensischen Konfliktes
gewidmet. Die Grenzen, Jerusalem, die Sicherheit, die Flüchtlinge
etc., die jetzt gewöhnlich als „Kernprobleme“ erwähnt werden.
Arafat und die anderen diskutierten diese vom palästinensischen
Standpunkt aus. Ich versuchte, das zu übermitteln, womit – meiner
Meinung nach – Rabin einverstanden sein könnte. Was dabei herauskam,
war ein Entwurf des Friedensabkommens .
Zurück in Israel, traf ich mich am Schabbat mit Rabin in seiner
privaten Wohnung in Gegenwart seines Assistenten Eitan Haber und
versuchte, ihm zu sagen, was bei dem Gespräch in Tunis heraus
gekommen war. Zu meiner Überraschung vermied er eine ernsthafte
Diskussion. Er dachte schon über Oslo nach.
Ein paar Jahre später veröffentlichte Gush Shalom einen
detaillierten Entwurf eines Friedens-abkommens. Seine Grundlage war
natürlich jene Diskussion in Tunis. Wie jeder auf unserer Website
sehen kann, war er den letzten Vorschlägen von palästinensischer
Seite, wie sie in den Al-Jazeera-Papieren enthüllt wurden, sehr
ähnlich.
IN GROBEN Zügen sind sie wie folgt:
Die Grenzen gründen sich auf die1967er-Linien – mit einigem
minimalem Landaustausch. Dieser würde jene großen Siedlungen, die
unmittelbar an der grünen Linie liegen, mit Israel vereinigen. Das
würde aber nicht jene großen Siedlungen einschließen, die tief in
die Westbank hineinragen und so das Gebiet (der Westbank) in (viele)
Stücke teilen, wie z.B. Maale Adumim und Ariel.
Alle Siedlungen, die zum Staat Palästina kommen, werden evakuiert
werden müssen.
Nach den Al-Jazeera-Papieren schlug einer der Palästinenser eine
andere Option vor: dass die Siedler bleiben und palästinensische
Bürger werden. Zipi Livni – die damalige Außenministerin – war
sofort dagegen und sagte frei heraus, dass dann alle ermordet werden
würden. Auch ich stimme darin überein, dies würde keine gute Idee
sein. Es würde endlose Reibereien verursachen, da diese Siedler auf
palästinensischem Land sitzen – auf palästinensischem Privatbesitz
oder auf den Landreserven der Städte und Dörfer.
Über Jerusalem: die Lösung würde so sein, wie Präsident Bill Clinton
es formuliert hat: Was arabisch ist, geht an Palästina, was jüdisch
ist, soll Israel angeschlossen werden. Das wäre eine sehr große
palästinensische Konzession, aber eine weise. Ich war froh, dass sie
dies nicht auf Har Homa anwenden wollen, das Betonmonster, das auf
einem einst wunderschön bewaldeten Hügel steht, auf dem ich viele
Tage und Nächte mit Protestdemonstrationen verbrachte ( und beinahe
mein Leben verlor).
Was die Flüchtlinge betrifft, ist es für jede vernünftige Person
klar, dass es keine Massenrückkehr von Millionen geben kann, die
Israel sehr verändern würden. Dies ist eine sehr bittere und
ungerechte Pille, die die Palästinenser schlucken müssten – aber
jeder Palästinenser, der eine Zwei-Staaten-Lösung wünscht, muss dies
akzeptieren. Die Frage ist: wie vielen Flüchtlingen soll – als
heilende Geste - erlaubt werden, nach Israel zurückzukehren? Die
Palästinenser schlagen 100 000 vor. Olmert 5000. Das ist ein großer
Unterschied – aber wenn wir uns erst einmal wegen Zahlen streiten,
dann wird eine Lösung gefunden werden.
Die Palästinenser wollen, dass eine internationale Truppe in der
Westbank stationiert wird, die für die eigene und für Israels
Sicherheit sorgt. Ich erinnere mich nicht mehr, ob Arafat dies mir
gegenüber erwähnt hat, aber ich bin sicher, dass er damit
einverstanden gewesen wäre.
Dies ist der palästinensische Friedensplan – und er hat sich nicht
verändert, seit Arafat Ende 1973 zu der Schlussfolgerung kam, dass
die Zweistaatenlösung die einzig machbare sei. Die Tatsache, dass
Olmert & Co nicht vor Freude in die Höhe sprangen und diese
Bedingungen akzeptierten, stattdessen aber die vernichtende
Cast-Lead-Operation begannen, spricht für sich selbst.
DIE Al-JAZEERA-Enthüllungen mögen zur Unzeit kommen. Solche
delikaten Verhandlungen werden besser im Geheimen geführt. Die Idee,
dass „ das Volk Teil der Verhandlungen sein sollte“ ist naiv. Das
Volk sollte gefragt werden, wenn der Abkommensentwurf fertig auf dem
Tisch liegt und es entscheiden kann, ob es das ganze Vertragsbündel
haben möchte oder nicht. Vorher werden Enthüllungen nur einen
demagogischen Missklang von Anschuldigungen des Verrats (auf beiden
Seiten) entfachen, wie es jetzt gerade geschieht.
Für das israelische Friedenslager sind die Enthüllungen ein Segen.
Sie beweisen, wie Gush Shalom es gestern in seinem wöchentlichen
Statement ausdrückte: „Wir haben einen Partner für Frieden. Die
Palästinenser dagegen haben keinen Partner für Frieden.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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