Eine Geschichte des Verrats
Uri Avnery, 3.10.09
HEUTE IST der 1196. Tag der Gefangenschaft des Soldaten Gilad Shalit.
Ein Kriegsgefangener soll nicht in Gefangenschaft gelassen werden.
Ein verwundeter Soldat soll nicht auf dem Schlachtfeld liegen
gelassen werden. Der Staat unterzeichnet einen ungeschriebenen
Vertrag mit jeder Person, die sich der Armee anschließt – und
besonders mit jedem, der in einer Kampfeinheit dient.
Das Verhalten der israelischen Regierung in diesen 1196 Tagen, der
Politiker und Generäle, die für diese Untat verantwortlich sind, ist
eine Verletzung dieses Vertrages, es ist Vertrauensbruch. Kurz
gesagt: eine Schande. Es macht jeden anständigen Menschen wütend –
und nicht nur Soldaten in Kampfeinheiten.
DER VERRAT beginnt hier schon in der angewandten Terminologie. Im
Buch der Sprüche (18,21) heißt es: „Tod und Leben stehen in der
Zunge Gewalt.“
Ein Soldat, der bei einer militärischen Aktion gefangen genommen
wird, ist ein Kriegsgefangener – in jeder Sprache, in jedem Land.
Gilad Shalit wurde bei einer Militäraktion gefangen genommen. Er war
ein bewaffneter Soldat in Uniform. In diesem Zusammenhang ist es
egal, ob diese Aktion selbst legal oder illegal war und ob die, die
ihn gefangen nahmen, reguläre Soldaten oder Guerillas waren.
Gilad Shalit ist ein Kriegsgefangener.
DIE LEUGNUNG begann mit dem ersten Augenblick. Die israelische
Regierung weigerte sich, die Gefangennahme mit dem richtigen Namen
zu benennen und bestand darauf, dass es eine „Entführung“ war.
Die disziplinierten israelischen Medien, die hinter den Generälen im
Stechschritt marschieren wie eine preußische Wachmannschaft, hat
sich diesem Chor angeschlossen. Keine einzige Zeitung, kein einziger
Radio- oder Fernsehreporter hat je über den Kriegsgefangenen
gesprochen. Alle – fast ohne Ausnahme - sprachen vom ersten Tag an
über den „entführten“ Soldaten“.
Die Wörter sind wichtig. Alle Armeen pflegen Kriegsgefangene
auszutauschen. Im allgemeinen geschieht dies nach dem Ende der
Feindseligkeiten, manchmal auch noch während des Krieges. Die Armee
entlässt die Kämpfer des Feindes für die Entlassung ihrer eigenen
gefangenen Soldaten.
Dies gilt nicht für „entführte“ Personen. Wenn Kriminelle Personen
entführen und sie festhalten, um Lösegeld zu bekommen, stellt sich
die Frage, ob dieses gezahlt werden soll. Die Zahlung mag zu noch
mehr Entführungen ermutigen und die Verbrecher belohnen.
In
dem Augenblick, in dem Gilad als „Entführter“ definiert wurde, wurde
er zu dem, was folgte, verurteilt.
Er
verlor auch seine Ehre als Soldat. Ein Soldat wird nicht „entführt“.
Die Millionen Soldaten, die während des 2. Weltkriegs gefangen
genommen wurden – Deutsche, Russen, Briten, Amerikaner und all die
anderen - wären beleidigt gewesen, wenn man ihnen unterstellt
hätte - dass sie „entführt“ worden wären.
DIE GRÖSSTE Gefahr, die über Gilads Kopf schwebte, seitdem er in
Gefangenschaft geraten war, ging nicht von der Hamas aus, sondern
von unserer eigenen Armee.
Es war klar, dass die Armee bei gegebener Gelegenheit versuchen
würde, ihn mit Gewalt zu befreien. Das ist tief in ihrem Grundethos
verwurzelt: den „Entführern“ nie nachzugeben.
Wenn ich Gilads Vater und ein frommer Mann gewesen wäre, dann hätte
ich täglich gebetet: „Lieber Gott, lass die Armee nicht den Platz
finden, wo Gilad festgehalten wird!“
Unsere Armeekommandeure sind bereit, Gefangene großen Risiken
auszusetzen , um sie mit Gewalt zu befreien, statt sie gegen
palästinensische Gefangene auszutauschen. Für sie ist das eine
Ehrensache.
Bei solch einer Operation wird das Leben der Befreier riskiert. Aber
vor allem ist es das Leben des Gefangenen selbst, das gefährdet
wird.
Eine der berühmtesten Operationen in den Annalen der israelischen
Armee fand in Entebbe im Juli 1976 statt. Sie befreite 98 Passagiere
einer entführten Air-France-Maschine, die gezwungen worden war, auf
dem Entebbe-Flughafen in Uganda zu landen. Die Operation gewann
weltweite Bewunderung. Nur einer der Befreier verlor sein Leben –
der Bruder von Binyamin Netanyahu.
Bei dem darauf folgenden Erfolgsrausch wurde eine Tatsache
übersehen: bei der gewagten Operation wurden hohe Risiken
eingegangen. Wenn nur ein Detail der komplexen Aktion schief
gegangen wäre, hätte es für die entführten Passagiere eine
Katastrophe bedeutet. Es hätte in einem Blutbad enden können. Da die
Aktion gelang, wagte keiner, Fragen zu stellen.
Die Folgen der Operation bei den Münchner Olympischen Spielen
1972, die die Befreiung der israelischen Geiseln zum Ziel hatte,
waren sehr anders. Als die deutsche Polizei mit Ermutigung der
Regierung Golda Meirs sie mit Gewalt zu befreien versuchte, verloren
alle entführten Athleten ihr Leben. Die meisten wurden
wahrscheinlich durch die Kugeln der deutschen Polizisten getötet.
Wie sonst sollte man sich die Tatsache erklären, dass bis zum
heutigen Tag die Regierungen Israels und Deutschlands sich weigern,
die Obduktions-Ergebnisse zu veröffentlichen?
Dasselbe geschah zwei Jahre später, als die israelische Armee von
Golda Meir und Moshe Dayan den Befehl bekam, die 105 Kinder zu
befreien, die von einem palästinensischen Kommando in der
nordisraelischen Stadt Ma’alot gefangen gehalten wurden. Die Aktion
misslang: 22 Kinder und drei Lehrer verloren ihr Leben. Auch bei
diesem Vorfall scheinen einige – wenn nicht sogar alle – von ihnen
durch die Kugeln ihrer Befreier getötet worden zu sein. Der
Obduktions-Bericht wurde auch hier nicht veröffentlicht.
Dasselbe geschah, als die Armee 1994 versuchte, den „entführten“
Soldaten Nachshon Wachsman in der Westbank zu befreien. Die Armee
hatte genaue Geheiminformationen, die Aktion war sehr sorgfältig
vorbereitet worden, aber es ging etwas schief, und der Gefangene
wurde getötet.
Vor kurzem erfuhr man, dass ein ranghoher Offizier seine Soldaten
aufgefordert hatte, lieber Selbstmord zu begehen, als sich gefangen
nehmen zu lassen. Er hatte den Befehl gegeben, auf die Entführer zu
schießen, selbst wenn das bedeutete, das Leben des gefangenen
Soldaten zu gefährden.
Es
kann gut sein, dass einer der Gründe für die lange Leidenszeit von
Gilad Shalit in der Hoffnung lag, dass die Armeekommandeure vom
Geheimdienst sein Versteck erfahren würden, um ihn mit Gewalt zu
befreien. Es ist ja kein Geheimnis, dass der Gazastreifen voller
Informanten ist. Die Dutzende von „gezielten Tötungen“ und viele
Aktionen bei der Operation „Geschmolzenes Blei“ wären ohne ein
weites Netzwerk von Kollaborateuren nicht möglich gewesen, die
während der langen Jahre der Besatzung rekrutiert worden waren.
Es
ist unglaublich - und grenzt an ein Wunder – dass der israelische
Geheimdienst bis jetzt nicht in der Lage war, diese Hoffnung zu
erfüllen. Anscheinend war es Shalits Wärtern gelungen, das Geheimnis
streng zu bewahren. Dies erklärt übrigens, warum seine Wärter sich
hartnäckig weigerten, ihn mit Rot-Kreuz-Vertretern zusammen kommen
zu lassen und Briefe von und zu ihm zu befördern, einschließlich
Päckchen, (die als Inhalt raffinierte Geräte hätten haben können,
die die Örtlichkeit hätten verraten können.) Dies mag sein Leben
gerettet haben.
Man kann sicher sein, dass das Video, das gestern im Austausch für
21 weibliche palästinensische Gefangene durch den deutschen
Vermittler befördert wurde, sehr sorgfältig präpariert war, um jede
Möglichkeit einer Identifizierung des Ortes, an dem er festgehalten
wird, zu verhindern .
DIESE AFFÄRE zeigt die absolute Überlegenheit der israelischen
Propagandamaschine über alle Konkurrenten – falls es welche gibt.
Die Weltmedien haben fast ohne Ausnahme die israelische
Terminologie angenommen. Alle Welt sprach nur über den „entführten“
israelischen Soldaten, statt über den Kriegsgefangenen. Britische
und deutsche Zeitungen, die dieses Wort gebrauchten, dächten nicht
im Traum daran, dieses für einen ihrer eigenen Soldaten in
Afghanistan so zu benützen.
Der Name Gilad Shalit wurde von führenden Politikern der Welt in den
Mund genommen, als wäre er mindestens einer der ihren. Nicolas
Sarkozy und Angelika Merkel sprachen frei über ihn und waren sicher,
dass jeder ihrer Zuhörer zu Hause wisse, wer er ist. Die Befreiung
des „entführten Soldaten“ ist ein erklärtes Ziel mehrerer
Regierungen gewesen.
Die Formulierung als solche stellt schon einen Triumph der
israelischen Propaganda dar. Verhandelt wird über einen
Gefangenenaustausch zwischen Israel und Hamas mit deutscher und/oder
ägyptischer Vermittlung. Ein Austausch von Gefangenen hat zwei
Seiten – Shalit auf der einen Seite, palästinensische Gefangene auf
der anderen. Aber in aller Welt, wie in Israel, spricht man nur
über die Freilassung des israelischen Soldaten. Die
palästinensischen Gefangenen, die entlassen werden sollen, sind nur
Objekte, Handelsware, keine menschlichen Wesen. Aber zählen nicht
auch sie die Tage genau so wie ihre Eltern und ihre Kinder?
Das größte Hindernis bei solch einem Austausch ist geistiger Art,
eine Sache der Ausdrucksweise. Wenn es um „palästinensische Kämpfer“
gehen würde, wäre es kein Problem . Die Freilassung von Kämpfern im
Austausch für einen Kämpfer. Aber unsere Regierung – wie alle
kolonialen Regierungen davor – können einheimische Aufständische
nicht als „Kämpfer“ anerkennen, die im Dienst für ihr Volk handeln.
Das koloniale Ethos – wie der „ethische Codex“ unseres
Ethikprofessors Asa Kasher – fordert, dass sie „Terroristen“ genannt
werden mit „Blut an den Händen“, also grundsätzlich Verbrecher,
abscheuliche Mörder.
Ein bewegendes irisches Lied erzählt von einem irischen
Freiheitskämpfer, der am Morgen seiner Exekution darum bittet, wie
ein „irischer Soldat“ behandelt und erschossen und nicht „wie ein
Hund aufgehängt“ zu werden. Seine Bitte wurde abgeschlagen.
Wenn man von der Entlassung von „Hunderten von Mördern“ im
Austausch für einen israelischen Soldaten redet, rennt man gegen ein
sehr großes psychologisches Hindernis. Leben und Tod in der Macht
der Zunge.
IN
VERSCHIEDENER Hinsicht kann die Gilad Shalit-Affäre als eine
Metapher für den ganzen historischen Konflikt gesehen werden.
Belastete Wörter diktieren das Verhalten der Führer. Die
verschiedenen und sich widersprechenden Narrative verhindern ein
Verständnis zwischen den Parteien, selbst wenn es um kleine Dinge
geht. Die psychologischen Hindernisse sind immens.
Der große Propagandavorteil der israelischen Regierung, die bei der
Shalit-Affäre so deutlich wird, wird jetzt auch beim
Goldstone-Bericht getestet. Die Bemühungen der israelischen
Regierung, die Weiterleitung des Berichts an den UN-Sicherheitsrat
oder an die Vollversammlung oder an den Internationalen
Strafgerichtshof in Den Haag zu verhindern, wird nun auch von
Präsident Barack Obama und den europäischen Führern unterstützt.
Die Bewohner des Gazastreifens sind wie die Palästinenser in Israels
Gefängnissen reine Spielmarken, Objekte ohne menschliches Gesicht.
Und was Gilad Shalit betrifft: die Verhandlungen müssen beschleunigt
werden, damit der Gefangenenaustausch in nächster Zukunft
stattfinden kann. Bis dahin sollte den Vermittlern eine
unmissverständliche Zusicherung gegeben werden, dass kein weiterer
Versuch unternommen wird, ihn mit Gewalt zu befreien und dies im
Gegenzug für ein Hamas-Abkommen , das ein Treffen mit Leuten vom
Roten Kreuz und vielleicht gar mit seiner Familie ermöglicht.
Alles andere ist Manipulation und Lippenbekenntnis.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz; vom Verfasser
autorisiert)
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