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Die Ur-Sünde
Uri Avnery, 27.10.10
Einer meiner Freunde in Warschau erzählte mir von einem polnischen
Journalisten, der Israel zum ersten Male besuchte. Bei seiner
Rückkehr berichtete er mit großer Begeisterung: „Weißt Du, was ich
entdeckt habe? Auch in Israel gibt es Juden!"
Für diesen Polen sind Juden Menschen, die einen langen schwarzen
Kaftan und einen großen schwarzen Hut tragen. In fast jedem
Souvenirladen in Polen werden dementsprechende kleine Figuren neben
anderen klassischen polnischen Figuren, z. B. der Adlige, der
Handwerker und der Bauer, ausgestellt.
Die Unterscheidung zwischen Israelis und Juden hätte vor fünfzig
Jahren keinen von uns überrascht. Vor der Gründung des Staates
Israel sprach keiner über einen "Jüdischen Staat" (Judenstaat)! In
unseren Demonstrationen schrieen wir: „Freie Einwanderung!
Hebräischer Staat!“ In fast allen Zitaten aus den Medien jener Tage
erscheinen die beiden Wörter „hebräischer Staat“, jedoch so gut wie
nie "jüdischer Staat".
In
der Schule ergriffen wir eine leidenschaftliche Liebe für das Land,
die Sprache und die Bibel (die von uns als das klassische Buch der
hebräischen Literatur angesehen wurde). Wir lernten das jüdische
Leben in der Diaspora mit Verachtung- wenn nicht sogar noch
negativer als das - zu sehen. (All das natürlich vor dem Holocaust.)
1933 lebte ich ein halbes Jahr lang in Nahalal, dem legendären
ersten Gemeindedorf. Als ich es zum ersten Mal sah, bewunderte ich
das kommunale Hallengebäude, die Molkerei und die große
Landwirtschaftsschule für Mädchen (in der Moshe Dayan der einzige
männliche Schüler war). Aus Neugier fragte ich nach der Synagoge und
man zeigte mir eine marode, hölzerne Baracke. "Die ist für die
Alten" sagte mir einer der Jungen des Ortes mitleidig.
Man kann nicht verstehen, was seitdem geschehen ist, ohne zu wissen,
dass in jenen Tagen beinahe jeder glaubte, dass die jüdische
Religion, ebenso wie die jiddisch-sprechenden alten Leute, die immer
noch an ihr hingen, langsam verschwinden werden. Wenn jemand
vorausgesagt hätte, dass die jüdische Religion den zukünftigen Staat
dominieren würde, hätten die Menschen ihn ausgelacht.
Der Zionismus war unter anderem eine Rebellion gegen die jüdische
Religion. Er wurde in Sünde geschaffen – in der Sünde des säkularen
Nationalismus, der nach der französischen Revolution durch Europa
gefegt war.
Der Zionismus lehnte sich gegen die Halacha (das religiöse Gesetz)
auf, das Juden verboten hat, in das heilige Land in Massen
„hinaufzusteigen". Gemäß dem religiösen Mythos, verbannte Gott die
Juden aus dem Land als Vergeltung für ihre Sünden. Nur er alleine
besaß das Recht, sie wieder zurückzubringen. Praktisch alle
bedeutenden Rabbiner – sowohl die Chassidim, als auch ihre Gegner –
verfluchten aus diesem Grunde die Gründer des Zionismus (überflüssig
zu sagen, dass diese Flüche – einige von ihnen sehr saftige – in
keinem israelischen Schulbuch erschienen).
Vor allen internationalen Untersuchungen, die der Errichtung des
Staates vorausgingen, erschienen Delegationen orthodoxer Juden, um
sich den zionistischen Delegationen entgegenzustellen.
Aber David Ben Gurion, der sich sogar bei Beerdigungen weigerte,
eine Kippa zu tragen (obwohl dort auch die meisten Atheisten das als
Geste gegenüber dem Glauben anderer tun), dachte, dass es
erstrebenswert sei, die Orthodoxen in seine Regierungskoalition
hinein zu bekommen. Deshalb versprach er ihnen, einige hundert
Jeschiwa-Studenten (Yeschiva = religiöses Seminar) vom Militärdienst
zu befreien und ihre Studiengebühren und Unterhaltskosten zu zahlen,
so dass sie nicht verpflichtet waren, für ihren Lebensunterhalt zu
arbeiten.
Die Konsequenzen hatte keiner erwartet. Seine kleine Geste hat
monströse Proportionen angenommen. Heutzutage könnte man einige
Armeedivisionen mit diesen Drückebergern vor dem Militärdienst
bemannen. Sie betragen 13% des gesamten Jahrgangs der
Wehrpflichtigen. Darüber hinaus üben 65% aller männlichen orthodoxen
Bürger keinerlei Arbeit aus und leben von der "Öffentlichen Hand".
Die Situation ist absurd: der Staat zahlt für den Unterhalt einer
breiten und wachsenden Bevölkerung von durch die Tora geschützten
Parasiten, die den Staat unterminieren. Der Staat bezahlt
Hunderttausende junger religiöser Menschen, um sie von der Arbeit
(Gott behüte!) Arbeiten fernzuhalten. Er zahlt ihnen großzügige
Unterstützungen, so dass sie mehr und mehr Kinder zeugen können (5 –
15 pro Familie), von denen die meisten niemals arbeiten, noch in der
Armee dienen werden. Man kann genau ausrechnen, wann die Wirtschaft,
zusammen mit dem Wohlfahrt-Staat und der "Bürger"-Armee, die auf
einer Wehrpflicht basiert, kollabieren wird.
Das gesamte Phänomen ist eine authentische israelische Erfindung. In
der ganzen Welt arbeiten die orthodoxen Juden, wie jeder andere.
Während eines unserer Besuche in New York wollten wir eine Kamera
kaufen. Rachel, die Berufsfotografin ist, wurde vom größten
Photoladen in der Stadt berichtet. Als wir dorthin gingen, konnten
wird unseren Augen nicht trauen: das gesamte Personal des riesigen
Ladens bestand aus orthodoxen Juden – alle selbstverständlich
männlich – die ihre traditionellen Gewänder trugen. Es war das erste
Mal, dass wir orthodoxe Männer arbeiten gesehen haben.
Diese Erfahrung hatte eine amüsante Seite. Wir trugen beide einen
Anstecker mit den Flaggen von Israel und Palästina. Als Rachel zu
dem Kassierer ging, um zu bezahlen, schaute dieser seitwärts auf
Rachels Anstecknadel. Ohne ihr ins Gesicht zu blicken, fragte er:
"Was ist das für eine Flagge?"
"Die Flagge von Israel," antwortete Rachel.
"Nein, die andere!" beharrte der Mann.
"Die Flagge von Palästina", antwortete sie.
Der Mann drehte sich herum, spuckte auf den Boden und schrie laut:
"Pfui! Pfui! Pfui!"
Das orthodoxe Lager in Israel ist wie ein Loch, das alles schluckt,
was ihm zu nahe kommt, zum Beispiel die orientalischen Juden, die
aus islamischen Ländern kamen. Sie werden häufig "Sephardim"
(Spanier) genannt, obwohl nur ein Teil von ihnen tatsächlich von den
Juden abstammten, die im Jahre 1492 aus Spanien vertrieben worden
waren.
Die sephardisch religiöse Tradition war immer bei weitem toleranter
als die aschkenasische. Sie schließt die Lehren der Genies wie z. B.
Rabbi Moshe ben Maimon (Maimonides), den persönlichen Arzt des
großen Saladins, ein.
Maimonides verbot religiösen Studenten, ihren Lebensunterhalt mit
ihren Studien zu verdienen und befahl ihnen, hinauszugehen und zu
arbeiten.
Aber wer hätte gedacht, dass diese sich, als sie nach Israel kamen,
den Aschkenasim untergeordnet - und deren blinden Fanatismus ebenso
angenommen hätten, wie den Kaftan und den Hut, der ursprünglich aus
dem kalten Osteuropa stammt, wo er von der nicht-jüdischen
Oberklasse in den vergangenen Jahrhunderten getragen worden war.
Ihre Sephardim-Partei, die Shas, ist dem askenasischem orthodoxen
Judentum sklavisch untergeordnet. Ihr "spiritueller" Führer, der
Rabbiner, Ovadia Yosef, kriecht auf dem Bauch vor den
osteuropäischen Anti-Hassidim-Rabbinern (Lithauer genannt).
Letzte Woche geschah ein Wunder. Ein sephardischer Rabbiner, Haim
Amsalem, rebellierte gegen den Rabbiner Ovadia und dessen Partei und
forderte eine Rückkehr zu den Sephardim-Traditionen der Toleranz. Er
wurde auf der Stelle exkommuniziert.
Zu
Beginn der Staatsgründung waren die orthodoxen Aschkenasim in
nationalen Angelegenheiten gemäßigt, obwohl sie in ihren religiösen
Überzeugungen extrem waren. Sie feierten nicht nur den
Unabhängigkeitstag des zionistischen Staates nicht und grüßten die
Flagge der zionistischen Ketzer nicht, sondern verhinderten auch
nationale Abenteuer von David Ben Gurion, Moshe Dayan und Shimon
Peres. Später opponierten sie gegen die Annexion der "Besetzten
Gebiete" – nicht aufgrund irgendeiner außergewöhnlichen Liebe zum
Frieden oder zu den Palästinensern, sondern weil die halachischen
Regeln die Provokation gegenüber Nicht-Juden verbietet, weil sie den
Juden Schaden zufügen könnte.
Als die Orthodoxen Siedlungen errichtet haben, taten sie dies nicht
aus irgendeinem ideologischen Eifer heraus, sondern nur, weil sie
eine Behausung für ihre ständig wachsende Anzahl an Nachwuchs
brauchte. Die Regierung gab ihnen nur billiges Land hinter der
Grünen Linie. Jetzt sind die größten Siedlungen die der Orthodoxen –
Beitar Illit, Immanuel und Modi'in Illit – die letzte liegt auf dem
Land, das dem arabischen Dorf Bi'lin gestohlen wurde.
Während das breite religiöse Lager sich der neuen zionistischen
Bewegung widersetzte, wurde sie von einer religiösen Splittergruppe
unterstützt. In dem religiösen Lager war diese eine kleine
Minderheit. Zwischen den zwei Seiten war leidenschaftlicher Hass die
Regel.
Dank der massiven Unterstützung der zionistischen Führung, wuchs das
national-religiöse Lager in Israel in atemberaubender
Geschwindigkeit. Ben Gurion richtete eine Sonderabteilung des
Ausbildungssystems für sie ein, die von Jahr zu Jahr extremer wurde,
genau wie die national-religiöse Jugendbewegung, Bnei Akiva.
Mitglieder einer Generation der national-religiösen Gemeinschaft
wurden die Lehrer der nächsten, was eine systemimmanente
Radikalisierung garantiert hat. Mit dem Beginn der Besetzung schuf
Gush Emunim (der Block der Gläubigen) den ideologischen Kern der
Siedlungsbewegung. Heutzutage wird dieses Lager von den Rabbinern
geleitet, deren Lehren einen beißenden Geruch von Faschismus
abgeben.
Dies wäre halb so schlimm, wenn die beiden opponierenden religiösen
Fraktionen sich gegenseitig neutralisieren würden, so wie es
tatsächlich vor fünfzig Jahren der Fall war. Aber seit dieser Zeit
geschah das Gegenteil. Die national Religiösen wurden auf religiöser
Ebene immer extremer und die Orthodoxen auf der nationalen Ebene.
Die beiden Fraktionen sind sich sehr heutzutage sehr nahe und bilden
gemeinsam einen orthodoxen national-religiösen Block.
Die Jugendlichen der national-religiösen Fraktion verachten die
lauwarme Religiosität ihrer Väter und bewundern die starke
Religiosität der Orthodoxen. Die Jugendlichen der orthodoxen
Fraktion werden von der nationalistischen Melodie verführt, im
Gegensatz zu ihren Vätern, für die Israel ein Staat wie jeder
Nicht-Judenstaat war, ein Staat, der gemolken wird.
Die Union der beiden Fraktionen basiert auf dem Wesen der jüdischen
Religion, wie sie in Israel gepflegt wird. Sie gleicht nicht dem
Judaismus, der in der Diaspora existiert hat - weder dem orthodoxen
Judentum, noch dem Reform-Modell. Man muss es sagen: "Die jüdische
Religion in Israel ist eine Mutation des Judaismus, ein
stammes-rassistischer, extrem nationalistischer und
anti-demokratischer Glaube."
Heutzutage gibt es drei religiöse Bildungssysteme – das
national-religiöse, das "unabhängige" der Orthodoxen und "el-Hama'ayan
("zu der Quelle") das der Schas. Alle drei werden vom Staat zu
mindestens 100%, wenn nicht sogar noch mehr, finanziert. Verglichen
mit ihren Übereinstimmungen sind die Unterschiede sehr gering. Alle
lehren ihre Schüler nur die Geschichte des jüdischen
Volkes(selbstverständlich basierend auf den religiösen Mythen),
nichts über die Weltgeschichte, über andere Völker, erst recht nicht
über andere Religionen. Der Koran und das Neue Testament sind der
Kern alles Bösen und müssen unberührt bleiben.
Der typische Absolvent dieser Systeme weiß, dass die Juden das
auserwählte Volk sind (und über alle erhaben), dass alle Nicht-Juden
bösartige Anti-Semiten sind, dass Gott uns dieses Land versprochen
hat und dass niemand sonst das Recht auf einen Quadratmeter dieses
Landes hat. Die natürliche Schlussfolgerung ist, dass die "Fremden"
(darunter verstehen sie die Araber, die hier mindestens seit
dreizehn Jahrhunderten leben) vertrieben werden müssen – es sei
denn, die Juden würden dadurch gefährdet.
Von diesem Standpunkt aus gibt es keinen Unterschied mehr zwischen
den Orthodoxen und den National-Religiösen, zwischen Aschkenasim und
Sephardim. Wenn man die "Jugend der Hügel" auf dem Bildschirm sieht,
die die Araber in den Besetzten Gebieten terrorisieren, kann man
zwischen ihnen nicht unterscheiden – weder durch ihre Kleidung, noch
ihre Körpersprache und ihre Slogans.
Die Quelle all diesen Übels ist natürlich die Ur-Sünde des Staates
Israels, die Nicht-Trennung zwischen Staat und Religion, die auf der
Nicht-Trennung von Nation und Religion basiert. Nichts außer einer
vollständigen Trennung zwischen den beiden wird Israel vor der
totalen Vorherrschaft dieser religiösen Mutation bewahren.
(Vom Englischen: Inga Gelsdorf/Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
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