Todeskuss
Uri Avnery, 6.1.07
SEITDEM JUDAS
Ischariot Jesus umarmt und geküsst hat, hatte es in
Jerusalem solch einen Kuss nicht noch einmal
gegeben.
Nachdem Ariel
Sharon und Ehud Olmert Mahmoud Abbas (Abu Mazen)
jahrelang boykottiert hatten, wurde er letzte Woche
in die offizielle Residenz des Ministerpräsidenten
eingeladen. Dort umarmte Olmert ihn vor den Kameras
und küsste ihn auf beide Backen. Abbas sah
überrumpelt aus und erstarrte.
Irgendwie
erinnerte die Szene an einen anderen politisch
motivierten Körperkontakt: das peinliche Geschehen
beim Camp-David-Treffen, als Ministerpräsident Ehud
Barak Yassir Arafat mit Gewalt in den Raum schob, in
dem Bill Clinton wartete.
Bei beiden
Vorfällen war es eine Geste, die den Anschein
erwecken sollte, man wolle dem palästinensischen
Führer Respekt zollen, aber beides waren tatsächlich
Gewaltakte – anscheinend in Unkenntnis der Sitten
des anderen Volkes und dessen heikler Situation.
Tatsächlich ging es um etwas völlig anderes.
NACH DEM NEUEN
Testament küsste Judas Ischariot Jesus, um ihn den
Häschern zu zeigen, damit sie ihn festnehmen
konnten.
Ein scheinbarer
Akt der Liebe und der Freundschaft wird hier
praktisch zu einem Todesurteil.
Oberflächlich
betrachtet, war Olmert dabei, Abbas einen Gefallen
zu tun. Er behandelte ihn mit Respekt, stellte ihn
seiner Frau vor und ehrte ihn, indem er ihn mit
„Herr Präsident“ anredete.
Das sollte
nicht unterschätzt werden. In Oslo wurden allein
wegen dieses Titels gigantische Wortgefechte
geführt. Die Palästinenser bestanden darauf, dass
der Chef der zukünftigen palästinensischen Behörde
„Präsident“ genannt würde. Die Israelis wiesen dies
scharf zurück, weil dieser Titel auf etwas wie einen
Staat hätte verweisen können. Am Ende stimmte man
darin überein, dass in der (bindenden)
Englischversion der arabische Titel „Ra’is“
verwendet werden sollte, da in dieser Sprache die
Worte „Präsident“ und „Vorsitzender“ identisch sind.
Abbas, der damals das Dokument für die
palästinensische Seite unterzeichnete, hat sich
damals wahrscheinlich nicht im Traume vorstellen
können, dass er der erste sein würde, der von einem
israelischen Ministerpräsidenten mit „Herr
Präsident“ angesprochen werden würde.
Aber genug der
Belanglosigkeiten. Viel wichtiger ist die Frage,
welches Ergebnis die Begegnung hatte. Nach dem
aufgezwungenen Kuss, benötigte Abbas dringend eine
großzügige israelische Geste, um dieses Treffen in
den Augen seines Volkes rechtfertigen zu können. Und
warum sollte Olmert nicht etwas Außergewöhnliches
tun, etwas mit längerem Nachhall? Zum Beispiel auf
der Stelle tausend Gefangene entlassen, Hunderte von
Kontrollpunkten entfernen, die innerhalb der
Westbank zerstreut liegen, eine Passage zwischen der
Westbank und dem Gazastreifen öffnen?
Doch nichts von
all dem geschah - Olmert entließ nicht einen
einzigen Gefangenen – keine Frau, kein Kind, keinen
alten Mann, keinen Kranken. Er kündigte tatsächlich
zum soundsovielten Male an, man wolle die Situation
an den Straßensperren erleichtern, aber die
Palästinenser berichten davon, bisher nichts bemerkt
zu haben. Vielleicht ist die endlose Schlange der
Wartenden an dem einen oder anderen Kontrollpunkt
ein wenig kürzer geworden. Olmert gab außerdem ein
Fünftel des von der israelischen Regierung
zurückgehaltenen (besser unterschlagenen)
palästinensischen Steuergeldes zurück.
Für die
Palästinenser sah dies erneut nach einem peinlichen
Misserfolg ihres Präsidenten aus: er war nach
Canossa gegangen, um wertlose Versprechungen zu
erhalten, die dann nicht gehalten wurden.
WARUM SPIELTE
Olmert dieses Theater?
Die naive
Erklärung ist politisch. Präsident Bush wünscht
etwas Bewegung im israelisch-palästinensischen
Konflikt, was dann als amerikanischer Erfolg
verbucht werden könnte. Condoleezza Rice war die
Übermittlerin dieser Order an Olmert. Schließlich
war er damit einverstanden, sich mit Abbas zu
treffen. Ein Kuss wurde getätigt. Versprechungen
wurden gemacht und gleich wieder vergessen. Die
Amerikaner haben – wie bekannt – ein kurzes
Gedächtnis. Sogar noch kürzer als das unsrige – wenn
das überhaupt möglich ist.
Aber es gibt
auch eine zynischere Erklärung. Wenn man Abbas
demütigt, stärkt man die Hamas. Die palästinensische
Unterstützung für Abbas hängt von einer einzigen
Sache ab: von seiner Fähigkeit, von den USA und
Israel Dinge zu erhalten, die Hamas nicht erhält.
Die Amerikaner und die Israelis lieben ihn – so
lautete das palästinensische Argument – also werden
sie ihm sicher geben, was so dringend benötigt wird:
die Massenentlassung von Gefangenen, ein Ende der
„gezielten Tötungen“, die Entfernung der monströsen
Straßensperren, die Eröffnung der Passage zwischen
der Westbank und dem Gazastreifen, den Beginn
ernsthafter Friedensverhandlungen. Doch wenn Abbas
nichts von all dem erreichen kann – was bleibt dann
außer den Methoden von Hamas?
Der Deal mit
den Gefangenen ist ein gutes Beispiel. Nichts
schmerzt die Palästinenser mehr als dies: es gibt
kaum eine palästinensische Großfamilie, die nicht
Mitglieder im Gefängnis hat. Das betrifft jede
Familie: einen Vater, einen Bruder, einen Sohn,
manchmal eine Tochter. In jeder Nacht „verhaften“
die IDF ein weiteres Dutzend oder mehr. Wie kann man
sie frei bekommen?
Hamas hat ein
bewährtes Mittel: Israelis gefangen nehmen (in den
israelischen und internationalen Medien werden
Israelis gekidnappt, während Palästinenser
„verhaftet“ werden.) Für die Rückkehr des
israelischen Soldaten Gilad Shalit wird Olmert viele
Gefangene frei lassen. Nach palästinensischer
Erfahrung verstehen die Israelis anscheinend nur die
Sprache der Gewalt.
Einige von
Olmerts Beratern hatten eine brillante Idee: Abbas
ein paar hundert Gefangene quasi als Geschenk zu
übergeben – einfach so. Das würde die Position des
palästinensischen Präsidenten stärken und den
Palästinensern beweisen, dass sie so bei uns mehr
erreichen könnten als mit Gewalt. Das würde der
Hamasregierung einen schweren Schlag versetzen; denn
diese zu kippen, ist ja das oberste Ziel beider
Regierungen, der USA und der israelischen.
Das kommt gar
nicht in Frage, schrie eine andere Gruppe von
Olmerts Imageberatern. Wie würden dann die
israelischen Medien reagieren, wenn Gefangene
entlassen werden, bevor Shalit nach Hause kommt?
Das Problem
ist, dass Shalit von der Hamas und ihren Verbündeten
festgehalten wird und nicht von Abbas. Wenn es
verboten ist, vor der Rückkehr Shalits Gefangene
freizulassen, dann sind alle Karten in den Händen
von Hamas. In diesem Fall würde es wohl sinnvoll
sein, mit Hamas zu reden. Undenkbar!
Die Folge
davon: keine Stärkung Abbas´, kein Dialog mit der
Hamas, es geschieht nichts.
DAS IST eine
alte israelische Tradition: wenn es zwei
Alternativen gibt, wählen wir die dritte: gar nichts
zu tun.
Das klassische
Beispiel für mich ist die Jericho-Affäre. In der
Mitte der 70erJahre machte König Hussein Henry
Kissinger ein Angebot: Israel solle sich aus Jericho
zurückziehen und die Stadt dem jordanischen König
überlassen. Die jordanische Armee würde dann dort
die jordanische Flagge hissen und damit symbolisch
erklären, dass Jordanien der entscheidende arabische
Vertreter in der Westbank sei.
Kissinger
gefiel diese Idee, und er rief Yigal Allon, den
damaligen Außenminister, zu sich. Allon informierte
den Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin. Die ganze
politische Spitze - Rabin, Allon, der
Verteidigungsminister Shimon Peres – waren schon
lange begeisterte Unterstützer der „jordanischen
Option“ – wie auch ihre Vorgänger Golda Meir, Moshe
Dayan und Abba Eban. Meine Freunde und ich waren im
Gegensatz dazu für eine „palästinensische Option“
und damit eine marginale Minderheit.
Aber Rabin wies
das Angebot kategorisch zurück. Golda hatte
versprochen, ein Referendum oder Wahlen darüber
abzuhalten, bevor sie nur einen Fußbreit der
besetzten Gebiete zurückgeben würde.
Rabin
erklärte:„Ich werde allein wegen Jericho doch nicht
zu Wahlen aufrufen.“
Keine
jordanische Option. Keine palästinensische Option.
Wieder nichts.
NUN GESCHIEHT
dasselbe gegenüber Syrien.
Auch hier gibt
es zwei Alternativen. Die erste wäre, mit Bashar
al-Assad zu verhandeln, der öffentliche Avancen
macht. Das hieße, bereit zu sein, die Golanhöhen
zurückzugeben und die 60 000 syrischen Flüchtlinge
zurückkehren zu lassen. Dafür würde sich das
sunnitische Syrien wahrscheinlich vom Iran und der
Hisbollah trennen und sich den sunnitischen Staaten
anschließen. Da Syrien sowohl sunnitisch als auch
säkular-nationalistisch ist, könnte das eine
positive Wirkung auf die Palästinenser haben.
Olmert hat
verlangt, dass Assad sich noch vor den Verhandlungen
vom Iran abkoppelt und aufhört, die Hisbollah zu
unterstützen. Das ist eine lächerliche Forderung und
offensichtlich als Alibi gedacht, um einen Beginn
von Verhandlungsgesprächen zu verweigern. Assad
benützt die Hisbollah, um Druck auf Israel
auszuüben, den Golan zurückzugeben. Seine Verbindung
mit dem Iran dient demselben Zweck. Wie kann er im
Voraus die wenigen Karten, die er in Händen hält,
weggeben und dann noch hoffen, dass er irgendetwas
bei Verhandlungen erreicht?
Die andere
Alternative, die von einigen ranghohen
Armeekommandeuren vorgeschlagen wurde: In Syrien
einfallen und dort dasselbe tun, was die Amerikaner
im Irak taten und noch tun. Das würde in der ganzen
arabischen Welt Anarchie auslösen, was für Israel
gut sein würde. Dies würde auch das Image der
israelischen Armee wieder aufpolieren, das im
Libanonkrieg Schaden genommen hat, und ihr
„Abschreckungspotential“ wieder herstellen.
Was wird Olmert
also tun? Den Golan zurückgeben? Um Himmels willen,
nein! Sollte er sich mit den 16 000 lärmenden
Siedlern dort anlegen? Was dann? – Einen Krieg mit
Syrien beginnen? Nein! Hatte er nicht schon genug
militärische Schlappen? Er wird also die dritte
Alternative wählen: nichts tun.
Bashar Assad
kann sich wenigstens mit einem trösten: er riskiert
nicht, von Olmert geküsst zu werden.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)