Triumph
und Tragödie
Uri Avnery, JP 15. Juni 2013
Eine kürzere
Version dieses Artikels wurde am 10. Juni am 46. Jahrestag des Endes
des Sechs-Tage-Kriegs in der Jerusalem Post veröffentlicht.
KEINE OPER von Richard Wagner hätte dramatischer
gewesen sein können. Es sah aus, als sei sie von einem Genie
inszeniert worden.
Es begann unauffällig. Ein kleines Stück Papier wurde
in die Hand des Ministerpräsidenten Levi Eshkol gedrückt, als er die
Parade zum Unabhängigkeitstag abnahm. Worauf stand, ägyptische
Truppen seien auf die Sinaihalbinsel gerückt.
Von da ab wuchs die Beunruhigung. Jeder Tag brachte
drohende, neue Berichte. Der ägyptische Präsident Gamal
Abd-al-Nassar gab grauenerregende Drohungen ab. Die
UN-Friedensgruppe wurde zurückgezogen.
In Israel wandelte sich die Sorge in Angst, die
Angst in Schrecken. Eshkol hörte sich schwächlich an. Als er
versuchte, mit einer Rede übers Radio die allgemeine Moral zu heben,
stockte er und schien zu stottern. Die Leute begannen, über einen
zweiten Holocaust zu reden, über die Zerstörung Israels.
Ich war einer der sehr wenigen, die ruhig blieben.
Auf der Höhe der allgemeinen Verzweiflung veröffentlichte ich in
Haolam Hazeh, dem von mir herausgegeben Nachrichtenmagazin, einen
Artikel mit der Überschrift „Nasser ist in eine Falle getappt“.
Selbst meine Frau dachte, dies sei verrückt.
MEINE GUTE Laune hatte einen einfachen Grund.
Ein paar Wochen zuvor hatte ich in einem Kibbuz an
der syrischen Grenze einen Vortrag gehalten. Wie es üblich ist,
wurde ich nach dem Vortrag zu einer Tasse Kaffee eingeladen, und
zwar mit einer ausgewählten Gruppe von Mitgliedern. Dort wurde mir
erzählt, dass „Dado“ (General David Elazar) der Kommandant des
nördlichen Abschnitts, vor einer Woche auch einen Vortag gehalten
habe –und dann trank man Kaffee, wie jetzt mit mir.
Nachdem ich ihnen versprochen hatte, das Geheimnis
zu wahren, verrieten sie mir, was Dado ihnen gesagt hatte – nachdem
auch sie versprochen hatten, das Geheimnis zu hüten – dass er
jeden Abend, bevor er ins Bett ginge, zu Gott beten würde, Nasser
möge seine Soldaten in den Sinai marschieren lassen. „Dort werden
wir sie vernichten“, hatte Dado ihnen versichert.
Nassar wollte keinen Krieg. Er wusste, dass seine
Armee ganz unvorbereitet war. Er bluffte, um die arabischen Massen
zu begeistern. Er wurde von der Sowjet Union angestachelt, deren
Führer glaubten, Israel sei dabei, Syrien, ihren Hauptverbündeten
in der Region, als Teil eines weltweiten amerikanischen Komplotts
anzugreifen.
(Der sowjetrussische Botschafter Dimitri Chuvakhin,
lud mich damals zu einem Gespräch ein und verriet mir den
amerikanischen Plot. Wenn es so ist, warum bittet dann ihr
Botschafter in Damaskus nicht, die Syrer möchten mit ihren
Grenzübergriffen gegen uns wenigstens vorübergehend aufhören? Der
Botschafter brach in ein Gelächter aus. „Glauben Sie wirklich, dass
jemand in Damaskus auf unsern Botschafter hört?“)
Syrien hatte Yasser Arafats neuer palästinensischer
Befreiungsbewegung (Fatah) erlaubt, kleine und ineffektive
Guerillaaktionen an der Grenze durchzuführen. Die syrische
Regierung sprach auch über einen „allgemeinen Befreiungskrieg“ im
Stil des algerischen Krieges. Als Antwort hatte der israelische
Stabschef Yitzhak Rabin ihnen mit einem Krieg gedroht, um einen
Regimewechsel in Damaskus herbeizuführen.
Abd-Al-Nassar sah eine günstige Gelegenheit, um
Ägyptens Führung in der arabischen Welt geltend zu machen, wenn er
zur Verteidigung von Syrien anrücke. Er drohte damit, Israel ins
Meer zu werfen. Er verkündete, er habe die Straße von Tiran vermint
und so Israel vom Roten Meer abgeschnitten. (Wie sich später
herausstellte, hatte er keine einzige Mine gelegt.)
Drei Wochen vergingen, und die Spannung wurde immer
unerträglicher. Eines Tages sah Menachem Begin mich in der
Knesset-Lobby, zog mich in ein Nebenzimmer und flehte mich an:“Uri,
wir sind politische Gegner, aber in dieser Notlage stehen wir doch
zusammen? Ich weiß, dass dein Magazin großen Einfluss auf die junge
Generation hat. Bitte, tu alles, um ihre Moral zu stärken.“
Alle Reserve-Einheiten, das Rückgrat der Armee,
wurden mobilisiert. Es waren kaum mehr Männer auf den Straßen zu
sehen. Noch immer zögerte Eshkol und sein Kabinett. Sie sandten den
Chef vom Mossad nach Washington, um sicher zu sein, dass die USA
israelisches Handeln unterstützen würden. Unter wachsendem,
öffentlichem Druck schuf er eine nationale Einheitsregierung und
ernannte Moshe Dayan zum Verteidigungsminister.
ALS DER Bogen so gespannt war, dass er fast zu
brechen drohte, wurde die israelische Armee von der Leine gelassen.
Die Soldaten – die meisten Reservesoldaten, die kurzerhand aus ihren
Familien gerissen und mit wachsender Ungeduld drei Wochen lang
gewartet hatten – flogen wie ein Pfeil voran.
Ich nahm am ersten Tag des Krieges an der
Knesset-Sitzung teil. Mitten drin wurde uns gesagt, in den
Luftschutzkeller zu gehen, weil die Jordanier im nahen Ost-Jerusalem
damit begonnen hätten, uns zu bombardieren. Während wir dort waren,
flüsterte mir ein Freund, ein hochrangiger Offizier, ins Ohr: „Es
ist vorbei. Wir haben die ganze ägyptische Luftwaffe zerstört.“
Als ich an diesem Abend nach einer Fahrt durch
abgedunkelte Landschaft nach Tel Aviv fuhr und nach Hause kam,
glaubte mir meine Frau nicht. Das Radio hatte nichts über diesen
unglaublichen Erfolg gesagt. Radio Kairo sagte seinen Zuhörern:
„Tel Aviv brennt“. Ich fühlte mich wie ein Bräutigam bei einer
Beerdigung. Die israelische Militärzensur verbot jede Erwähnung von
Siegen – die Radiowellen waren weiter von schrecklichen Vorahnungen
beherrscht.
Warum? Die israelische Regierung war – ganz zu Recht
- davon überzeugt, dass, wenn den arabischen Ländern und der
Sowjet-Union klar werde, dass sich ihre Seite einer Katastrophe
nähere, sie die UN dahin bringen würden, den Krieg sofort zu
beenden. Dies geschah tatsächlich – aber zu diesem Zeitpunkt war
unsere Armee schon auf dem Weg nach Kairo und Damaskus.
Wegen dieser Reihe von Ereignissen sah der Sieg so
unglaublich aus, dass viele tatsächlich glaubten, es sei ein
Wunder Gottes. Unsere Armee, die in dem damals so kleinen Israel
aufgebaut worden war, eroberte die ganze Sinai-Halbinsel, die
Golanhöhen, die Westbank, Ost-Jerusalem und den Gazastreifen. Vom
„zweiten Holocaust“ zur wunderbaren Befreiung – in nur sechs Tagen!
WAR ES ein „Verteidigungskrieg“ oder ein „Akt reiner
Aggression“? Im nationalen Bewusstsein war und blieb er ein reiner
Verteidigungskrieg, den „die Araber“ begonnen hatten. Ganz sachlich
gesprochen war es unsere Seite, die angriff, wenn auch nach größter
Provokation. Als ich Jahre später einem führenden israelischen
Journalisten so nebenbei genau dies sagte, war er so wütend, dass
er aufhörte, mit mir zu sprechen.
Egal wie es war. Das ganze Land steckte in einem
allgemeinen Taumel. Massenweise gab es Siegesalbums, Siegeslieder,
Sieges-dies und Sieges-das, das zu einer nationalen Hysterie wurde.
Die Hybris kannte keine Grenzen. Ich muss zugeben, auch ich war
nicht ganz unberührt davon.
Ariel Sharon rühmte sich, Israels Armee könne in
sechs Tagen Tripoli (Libyen) erreichen. Eine Groß-Israel- Bewegung
entstand mit vielen der bekanntesten Persönlichkeiten Israels als
Mitglieder. Bald kam auch die Siedlerbewegung in Gang.
Aber wie in einer griechischen Tragödie bleibt die
Hybris nicht unbestraft. Das Gold wird zu Staub. Der größte Sieg in
Israels Geschichte wird zum größten Fluch. Die besetzten Gebiete
sind wie das Nessosgewand,(aus der Herkulessage) festgeklebt an
unsern Körper, um uns zu vergiften und zu quälen.
Kurz vor dem Angriff hatte Dayan erklärt, Israel
habe absolut nicht die Absicht, neue Gebiete zu erobern, sondern
wolle sich selbst nur verteidigen. Nach dem Krieg erklärte der
Außenminister Abba Ebban, die Waffenstillstandslinie von vor 1967
sei „eine Auschwitz-Grenze“.
Da Generäle „immer den letzten Krieg kämpfen“, wurde
allgemein vermutet, die Weltgemeinschaft würde Israel nicht
erlauben, die Gebiete, die es gerade erobert habe, zu behalten. Der
„letzte Krieg“ war 1956 die israelisch-französisch-britische
Absprache gegen Ägypten. Damals hatten der US-Präsident Eisenhower
und der sowjetische Premier Bulgarin Israel gezwungen, die besetzten
Gebiete bis auf den letzten Zentimeter zurückzugeben.
Die frühere Grenze (oder „Demarkationslinie“) hatte
eine Ausbuchtung bei Latrun – auf dem halben Weg zwischen Tel Aviv
und Jerusalem, - die die Hauptstraße zwischen beiden Städten
schnitt. Unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg beeilte sich Dayan,
die Bewohner der drei arabischen Orte dort zu vertreiben und diese
bis auf das letzte sichtbare Zeichen auszulöschen. Sie wurden durch
einen Nationalpark ersetzt, der von der Regierung Kanadas und
wohlmeinenden kanadischen Bürgern finanziert wurde. Der
Schriftsteller Amos Kenan war ein Augenzeuge. Auf meine Bitte hin
schrieb er einen bewegenden Bericht über die schreckliche
Vertreibung der Dorfbewohner, der Männer, Frauen, Kinder und Babies,
die bei sengender Junisonne kilometerweit zu Fuß nach Ramallah
geschickt wurden.
Ich versuchte zu intervenieren, aber es war zu spät.
Doch gelang es mir, die Zerstörung der Stadt Qalqilia nahe der
Grenze aufzuhalten. Als ich bei mehreren Kabinettsministern,
einschließlich Begin, appellierte, wurde die Zerstörung gestoppt.
Ein Stadtteil, der schon zerstört worden war, wurde wieder
aufgebaut, und seinen Bewohnern wurde erlaubt, zurückzukehren. Aber
mehr als 100 000 Flüchtlinge, die seit 1948 in dem riesigen
Flüchtlingslager bei Jericho lebten, wurden veranlasst, über den
Jordan zu fliehen.
Langsam gewöhnte sich die israelische Regierung an
die erstaunliche Tatsache, dass es kaum wirklichen Druck auf Israel
gab, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. In einem langen
privaten Gespräch, das ich mit Eshkol am Tag nach dem Krieg hatte,
wurde mir klar, dass weder er noch seine Kollegen die Absicht
hatten, irgendetwas zurückzugeben, wenn sie nicht dazu gezwungen
würden. Meine Anregung, den Palästinensern zum eigenen Staat zu
verhelfen, wurde von Eshkol mit sanfter Ironie erwidert.
So wurde die historische Gelegenheit versäumt. Es
wird gesagt, wenn Gott jemanden verderben will, wird er ihn erst
mit Blindheit schlagen – wie er die Männer von Sodom geschlagen hat.
(Genesis 19,11)
Die große Mehrheit der heutigen Israelis, jünger als
60 Jahre, kann sich ein Israel ohne die besetzten Gebiete nicht
vorstellen.
Am 46. Jahrestag dieses großen Dramas können wir nur
wünschen, dass es nie geschehen wäre, dass alles nur ein böser Traum
war.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)