Wer
fürchtet sich vor der iranischen Bombe?
Uri Avnery, 28.10.06
AUF DER Höhe
der heroischen Schlacht um England, 1940, als
britische Piloten in erschreckender Anzahl getötet
wurden („niemals verdankten so viele so wenigen so
viel“) hatte ein Propagandabeauftragter eine
glänzende Idee, um die Moral zu heben. An den Mauern
der königlichen Luftwaffenbasen erschien ein Poster
mit folgenden Worten: „Wer fürchtet sich vor der
Ju-87?“ (Es war damals eines der wirksamsten
deutschen Kampfflugzeuge).
Ein anonymer
Pilot kritzelte mit einem Bleistift unter den
Slogan: „Unterzeichnet hier!“ Innerhalb weniger
Stunden hatten alle Piloten der Basis
unterschrieben.
Wenn heute
jemand ein Poster mit dem Slogan „Wer fürchtet sich
vor der iranischen Atombombe?“ aufhängen würde, dann
würden wahrscheinlich alle Bewohner Israels und
viele andere dies unterschreiben.
ES SCHEINT so,
als ob wir Israelis immer etwas brauchen, vor dem
wir Angst haben können. Wenn wir am Morgen unsere
Augen öffnen, müssen wir die Gefahr-des-Tages sehen.
Wofür sollten wir sonst überhaupt aufstehen?
Vielleicht ist es nicht die Öffentlichkeit, der man
die Schuld geben sollte, sondern den Politikern, die
die Angst als politisches Mittel einsetzen.
Vor noch nicht
langer Zeit war es die Hisbollah. Muslimische
Fanatiker, verrückte Schiiten, die Israel auslöschen
wollen. Ein riesiges Lager an Raketen. Gott bewahre
uns davor!
Inzwischen gab
es einen Krieg; die Raketen wurden abgeschossen; der
Schaden an Leben und Eigentum hielt sich in
Grenzen. (Natürlich nicht für die, die direkt
betroffen waren). Die schreckliche Gefahr der
Hisbollah wurde verdrängt. Die Hisbollah blieb zwar
dort, wo sie war. Die Raketenlager werden wieder
aufgefüllt, und Nasrallah macht die Leute weiter
wütend. Aber dafür interessiert sich im Grunde
keiner mehr. Eine abgenützte Gefahr regt keinen
mehr auf.
Nun geben sich
die Armeechefs, die im Libanonkrieg komplett versagt
hatten, große Mühe, eine neue Angst zu schüren: die
Hamas im Gazastreifen. Jetzt haben wir dort eine
unmittelbare und schreckliche Gefahr. Viele Tonnen
von „regulärem Sprengstoff“ werden durch die
unterirdischen Tunnels gebracht. Jeden Augenblick
wird Hamas sowohl mit modernen Panzerabwehrraketen
als auch Luftabwehrwaffen ausgerüstet sein. Hamas
baut unterirdische Festungsanlagen aus. Ist das
nicht beängstigend?
Die
militärischen und politischen Papageien in den
Medien sind voll mobilisiert. Das ganze
Papageienkäfig wiederholt morgens, mittags und
abends dieselbe grauenhafte Botschaft: Gaza wird ein
zweiter Süd-Libanon! Es muss etwas getan werden! Wir
können nicht warten! Die Armee muss hineingehen, den
Gazastreifen besetzen oder mindestens Teile davon!
Aber die
Öffentlichkeit nimmt dies nicht ernst. Es ist
schwierig, Angst zu schüren, wenn der Feind nicht in
der Lage ist, zurück zu schießen. Inzwischen
schießen unsere Kampfflugzeuge und Panzer und unsere
tapferen Jungs dort ungehindert weiter. Was soll
man also fürchten?
ABER DIE
iranische Geschichte ist etwas ganz anderes. Da gibt
es allen Grund für Angst.
Hier haben wir
es mit einem Feind zu tun, der erklärt, er sei gegen
die bloße Existenz unseres Staates, und der ziemlich
bald in der Lage sei, gegen uns
Massenzerstörungswaffen abzufeuern.
Der gewählte
Präsident des Iran Mahmoud Ahmadinejad, hat wirklich
Spaß daran, provokative Erklärungen los zu lassen.
Das ist sein privates Hobby, aber auch eine
erfolgreiche innenpolitische Masche. Er hat gesagt,
der Holocaust habe gar nicht stattgefunden, und wenn
er statt gefunden habe, sei er kleiner gewesen als
verkündet wird und die ganze Sache müsse untersucht
werden. Er prophezeit auch die Zerstörung des
„zionistischen Regimes“.
Um die Wahrheit
zu sagen: er sagte nicht genau, er „ wolle Israel
von der Landkarte löschen “, wie berichtet worden
war. Nach der von mir gesehenen genauesten
Übersetzung dessen, was er wirklich gesagt hatte,
hieß es „Israel wird von der Landkarte der Zukunft
ausgelöscht werden“. Aber das ist beängstigend
genug.
Es ist
beängstigend, weil der Iran wahrscheinlich in ein
paar Jahren die Atombombe haben wird. Das scheint
man nicht verhindern zu können. Vor 25 Jahren
bombardierte Israel den Nuklear-Reaktor im Irak. Der
Iran hat daraus seine Lektion gelernt und seine
nuklearen Einrichtungen auf viele verschiedene Orte
verteilt. Israels Fähigkeiten reichen für deren
Zerstörung nicht aus.
Falls Israel,
das nur die 4. oder 5.größte Militärmacht der Welt
ist, dies nicht tun kann, wie ist es dann mit den
USA, der Nummer eins in fast allem? Nun auch sie
sind nicht dazu in der Lage. Einrichtungen, die tief
unter der Erdoberfläche liegen, können nicht
zerstört werden und der nachfolgende Krieg kann
nicht ohne Bodentruppen gewonnen werden. Und nach
dem Fiasko im Irak und in Afghanistan gibt es nicht
viele vernünftige amerikanische Generäle, die sich
nach solch einem Krieg sehnen.
So ist es also
möglich, dass der iranische Präsident in ein paar
Jahren nicht nur seine Drohungen auf den Lippen
haben, sondern auch Vernichtungswaffen in seinen
Händen halten wird. Und wenn das nicht beängstigend
ist, dann weiß ich nicht, was beängstigend ist.
WENN ES so
ist, warum bin ich nicht verängstigt?
Ich lebe in
Israel,und ich beabsichtige, weiter hier zu leben.
Israel ist ein kleines Land, und ein großer Teil der
Bevölkerung lebt im Großraum von Tel Aviv. Ich lebe
mitten im Zentrum.
Wenn eine
kleine und primitive Atombombe wie die von
Hiroshima auf das Gebäude fällt, in dem ich lebe,
wird ein großer Teil der israelischen Bevölkerung
vernichtet sein. Zwei oder drei solcher Bomben wären
genug, um Israel – zusammen mit den benachbarten
palästinensischen Gebieten – ein Ende zu setzen.
Aber ich glaube
nicht, dass dies geschehen wird.
Um an solch
eine Möglichkeit zu glauben, muss man auch glauben,
die Führer des Iran seien eine Bande von
Wahnsinnigen. Trotz der Bemühungen von Ahmadinejad,
uns davon zu überzeugen, er sei wahnsinnig, glaube
ich es nicht.
Ich glaube,
dass die iranische Führung und besonders die
religiös-politische Führung aus sehr vernünftigen
Leuten zusammengesetzt sind. Seitdem sie an der
Macht sind, haben sie mit Vorsicht und Kompetenz
gehandelt. Sie haben keinen Krieg begonnen. Im
Gegenteil, sie rühmen sich, in den vergangenen 2000
Jahren habe der Iran nicht einen einzigen Krieg
begonnen. Und im iranischen Establishment ist der
Präsident nur ein Politiker, der den geistlichen
Ayatollahs vollkommen unterworfen ist; sie haben
die tatsächliche Kontrolle. (Seltsam genug: dasselbe
System herrscht auch in unsern eigenen
fundamentalistischen Parteien, Agudat Israel und
Schas)
Ich ignoriere
nicht, was Ahmadinejad gesagt hat. Wer würde es nach
Adolf Hitler und „Mein Kampf“ wagen, solche
Absichtserklärungen zu ignorieren? Aber der
iranische Präsident hat nicht die Macht des
deutschen Führers – die beiden Länder und auch die
historischen Umstände sind vollkommen verschieden.
Die Vernichtung
Tel Avivs würde unvermeidlich die Vernichtung
Teherans und all der kostbaren Schätze der alten und
ruhmreichen persischen Kultur zur Folge haben. In
der Sprache des Schachspiels: Es gäbe keinen Tausch
der Königinnen, sondern einen Tausch der Könige. Es
wäre viel vernünftiger, anzunehmen, dass zwischen
dem Iran und Israel ein „Gleichgewicht des
Schreckens“ aufgebaut wird wie dasjenige, dass einen
3. Weltkrieg zwischen den USA und Sowjetrussland
verhindert hat und das nun ein Wiederaufflammen des
indisch-pakistanischen Krieges verhindert.
TROTZ ALLEDEM
sollten wir nicht untätig auf eine Situation warten,
in der Israel, der Iran und vielleicht die
arabischen Staaten wie Ägypten und Saudi-Arabien
Atombomben besitzen werden.
Wenn es keine
militärische Option gibt, was könnte dann getan
werden?
Um der Gefahr
vorzubeugen, sollten die Hauptbemühungen darin
liegen, mit dem palästinensischen Volk und der
ganzen arabischen Welt Frieden zu machen. Leute wie
Ehud Olmert können sich vormachen, das
palästinensische Problem könnte von regionalen
Prozessen isoliert werden. Aber das Problem ist von
vielen Faktoren beeinflusst, die sich ständig
verändern.
Die relative
Stärke der USA, unserem einzigen Verbündeten auf der
Welt - außer Mikronesien, den Fidschi- und
Marschall-Inseln - nimmt langsam aber stetig ab.
Der Iran wird eine regionale Macht. Die nuklearen
Aspekte geben dem historischen Konflikt eine neue
Dimension. Es ist wie der griechische Philosoph
sagte „panta rhei“ - „alles im Fluss!“
Generäle können
über große Siege über die Hamas im Gazastreifen
phantasieren, Olmert kann sich wie Hamlet fragen, ob
„er reden oder nicht reden“ solle (mit Mahmoud
Abbas), aber in der Zwischenzeit sollten Dinge
geschehen, die die Errungenschaften einer
historischen Versöhnung zwischen beiden Völkern
vorantreiben.
Wenn die
gewählte Führung des palästinensischen Volkes mit
uns ein Abkommen unterzeichnet, das das Ende des
Konfliktes verkündet, und wenn die ganze arabische
Welt nach den Grundlinien der Saudi-Initiative mit
uns Frieden machen will, dann würde unter den Füßen
aller Ahmadinejads der Teppich weggezogen werden.
Wenn selbst die Palästinenser die Idee der
Koexistenz Israels und der Palästinenser akzeptieren
würden, und wenn Ägypten, Jordanien und der größte
Teil der arabischen Welt dies billigen würde – in
wessen Namen sollten die Iraner dann Palästina
befreien?
Im Rahmen des
Prozesses eines israelisch-palästinensischen
Friedens, würde es dann auch notwendig sein, die
Idee zu prüfen, eine nuklearfreie Zone zu schaffen.
Ist eine effektive gegenseitige Kontrolle möglich?
Gäbe es eiserne Garantien? Im Augenblick ist dies
schwierig einzuschätzen. Aber es wäre die Sache
wert, dies herauszufinden.
AUF JEDEN Fall
gibt es keinen Grund für apokalyptische Alpträume.
Selbst eine Atombombe in den Händen Teherans ist
nicht das Ende der Welt und auch nicht Israels Ende.
Eine neue Situation wird sich ergeben, und wir
werden mit ihr leben.
Als die Väter
des Zionismus entschieden, dass wir unser Schicksal
selbst in die Hand nehmen und auf die Bühne der
Geschichte zurückkehren sollen, nahmen wir auch die
Gefahren auf uns, die damit verbunden sind. Die Welt
ist ein gefährlicher Ort. Es gibt keine Existenz
ohne Gefahren. Ich hoffe nur, dass wir den gesunden
Menschenverstand haben, dass wir die Gefahren nicht
vermehren, die sowieso schlimm genug sind.
Wie die
tapferen britischen Flieger haben wir das Recht,
Angst zu haben. Aber wir müssen uns auf die neue
Situation mit klarem Verstand und nüchterner
Entschlossenheit einstellen.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert.